Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Ein gellender Schuss zerreisst die Stille der Nacht. Jaulende Motoren würgen die «Hopp, hopp, hopp»-Rufe auf den Rängen ab. Neun spindeldürre Velofahrer treten in die Pedalen, hetzen, strampeln, ziehen, bis sie zur Rolle aufschliessen, die hinten am Motorrad dreht. Sind sie dort mal angelangt, spulen sie im Windschatten der Maschinen 72 Runden ab.
Unterwegs sind die Steher, die röhrenden Könige der ovalen Rennbahn. Federleichte Velos hetzen mit 80 Sachen schweren Motorrädern hinterher. Rasant rasen sie im Sog der Töffs. Zuletzt gewinnt, wer am raschesten im Kreis dreht. Den eigenartigen Name hat die über 100-jährigen Schnellsportart von einer falschen Übersetzung. Das englische Verb «to stay» heisst «bleiben» und meint, der Velofahrer soll nicht von der Rolle fallen. Ein Deutscher verdeutschte das «stay» zu Steher.
Wieder auferstanden ist der öfters totgesagte Sport. Es ist Dienstag um sechs, heiss und schwül im Zürcher Stadtteil Oerlikon. «Heute Abend Rennen» steht beim Eingang der Betonanlage auf der von Hand bepinselten Metalltafel. Sonnenschirme mit der Aufschrift «Stanserhorn» spenden zwei Kassiererinnen Schatten. Zehn Franken nehmen sie pro Billett. «Lieber zehn Franken von vielen als fünfzig von wenigen», rechtfertigen sie den tiefen Preis. «Wo gibt es für so wenig Geld noch so viel Unterhaltung?», fragt ein Herr, das gebügelte und karierte Bunthemd steckt in grauen Hosen, der Stumpen im Mund, das Programmheft in der Hand. Fast jeden kennt er. Sali Fredi. Hoi Toni. Tschau Kari. Saluti Franz. Männer sind hier unter sich. Männer mit Söhnen. Wenige Männer mit der Frau. Schnäuze lenken die Blicke von den Glatzen.
Wenig Tageslicht strömt durchs milchige Fenster in die karge Umkleidekabine hinter der Bahn. An der Wand hängen Ersatzräder. Auf der Rolle steht ein filigranes Rennrad, darauf sitzt Reto Frey, 28. Unaufhörlich tritt der bleiche Zürcher Oberländer mit den hohen Backenknochen in die Pedalen, wärmt die Muskeln an seinen drahtigen und glatt rasierten Beinen. Schweiss tropft von der Stirn. Wortkarg erzählt der angehende Sportlehrer, ihm gefalle die Teamarbeit. Mehr sagt er nicht. Vor zwei Jahren tat er sich mit Mathias Luginbühl zusammen, ein ruhiger, netter und aufmerksamer Kerl. Über Onkel Ueli Luginbühl – ein legendärer Schrittmacher – kam der 31-jährige Stadtangestellte zu den Stehern.
Einmal die Woche trainiert das Gespann, beredet das Vorgehen, übt Fahrten hinter der Rolle. Der Pedaleur muss möglichst nahe daran fahren, ohne sie zu berühren. «Der Schrittmacher bestimmt die Taktik, der Velofahrer muss die Distanz durchstehen», sagt Luginbühl. «Er muss ziemlich lange am absoluten Leistungsmaximum kurbeln.» Wer gewinnt oder verliert ein Rennen? «Beide.» Vorbei ist demnach die famose Zeit, als käufliche Schrittmacher den Sieg vor den Rennen untereinander ausmachten.
Freys goldenes Stehervelo steht an der Wand, das vordere Scheibenrad ist kleiner als das hintere. Feine Eisenstangen stützen den Sattel. Am Lenker kleben dicke Schichten Klebeband. Ist der Griff weich, schlafen in den steilen Kurven die Hände seltener ein. Noch eine Stunde bis zum Start. «Läuft es gut, werde ich Dritter, läufts nicht, Fünfter, läuft es sehr gut, ist alles möglich», sagt Frey, Luginbühl stapelt tiefer. «Ich will Reto nicht verlieren.» Leicht ist das nicht. «Vorne Gas geben ist einfacher als hinten treten.»
Frey und Luginbühl sind ein junges Duo. Viele Schrittmacher sind weit über fünfzig. Auf dem Rad halten sogar Vierzigjährige mit. Zumal älteren Körpern die wenigen Rhythmuswechsel entgegen kommen. Ebenso, dass Ausdauer und nicht Kraft gefragt ist. Meist gewinnt, wer lange Zeit die gleiche Leistung bringt, wer richtig leiden kann. Und leiden können die Älteren besser als die Jungen.
Neben der Bahn duftet es nach einer längst verblichenen, für viele viel schöneren Zeit. Nach Muratti-Zigaretten, lauwarmem Bier, Filterkaffee, feuchten Nussgipfeln, metallenem Propangas, knusprigen Bürli. Auf dem Grill unterm Holzdach brutzeln Kalbs- und Schweinsbratwürste. Auf einfachen Holzbänken an einfachen Holztischen sitzen Kari und Fredi, Toni und Franz. Die Tribüne ist so unbequem wie eine Kirchenbank.
Und doch ziehen die Steherrennen jede Woche Tausende nach Oerlikon. Wirtschaftsanwälte kommen, legen Krawatten ab, plaudern, dazu Grössen vom Schwarzweissfernsehen, Gysling, Schellenberg, Kym. Sie alle wollen sehen, wie Junge leiden. Schauspielerinnen sind hier, Millionäre und arme Schlucker.
Es geht ums nichts, und es ist trotzdem schön. Das gestreng kosmopolitane Zürich blüht hier zum lokal freundlichen Züri auf. «Von früher» ist viel die Rede, «von damals», «weisch no?», heisst es in astreinem Züridütsch. «Oerlikedütsch», korrigiert einer, der sein Leben in Oerlikon verlebte und seit Kindesbeinen auf der Rennbahn verkehrt.
Tiefsinnig sind die Gründe nicht, die hierher locken. «Dumm schwätze» will einer, der sonst bei der Bank Aktien analysiert. «Zum ä Wurscht frässe und es Bier suufe», pöbelt einer die Presse an und trinkt nicht mal. Vier Freunde vom rechten Zürichseeufer hat er im Auto hergefahren, «wägem schöne Obig». Danach chauffiert er sie wieder heim. Ein ehemaliger Swissair-Pilot mag «das irrsinnige Tempo», die 80, 90 Stundenkilometer, mit denen die dünnen Renner bei einem Überholmanöver hinter dicken Töffs herhetzten. «Steherrennen sind gradlinig, spannend, es gibt oft Wechsel an der Spitze», sagt ein Kenner. «Es ist einfach, dem Sport zu folgen», sagt ebenso treffend der Laie. «So lange es Steher gibt, gibt es Bahnrennen», sagt ein Schrittmacher. «Wir sind die grosse Attraktion.»
Es riecht nach Benzin und Männern mittleren Alters, nach Töffs und Kölnischwasser von Schrittmachern, die sich in der engen niedrigen Garage unterhalb der Westkurve aus- und anziehen. Verbeulte Jeans, verwaschene Leibchen und zuletzt die Unterhosen fallen von fülligen Leibern. Splitternackt stehen neun Kerle da und horchen dem Juror. Damit keiner künstlich einen höheren Widerstand erzeugt, schreibt dieser allen das Tenü vor. Erlaubt sind Unterhosen, Unterhemd, Veloleibchen, dazu die offizielle Lederkluft.
René Aebi steigt in die schwarzen Hosen, streift die Hosenträger über, bindet das Halstuch um, steckt die Arme in die Lederjacke, bittet den Kollegen, die Knöpfe auf dem Rücken zu schliessen. Mit 62 ist Aebi der Veteran, seit fünfundreisssig Jahren spendet er Windschatten. Grauweiss und etwas schütter ist sein krauses Haar geworden, der Bauch kugelig. Eine Hälfte des Einkommens verdiene er auf der Bahn, die andere mit Werbeartikeln. Bei der Jacke und der Hose legt er jetzt noch den Saum um – damit der Fahrtwind in den Lederanzug fliesst und ihn aufbläst wie eine Blutwurst. Das vergrössert den Windschatten und begünstigt den Sog.
«Gömmer ufe?», fragt Aebi.Noch zehn Minuten bis zum Start. Aebi legt den Helm mit den nach hinten offenen Ohrmuscheln aufs nach hinten gebeugte Lenkrad, drückt den Zünder. Tätärätätä. Tätärätätä. Er rollt den Töff aus der Katakombe, schiebt und parkiert ihn auf einer Rampe, die von hoch oben auf die Bahn führt. Sonnenbrillen gelangen auf Nasen, futuristisch anmutende Helme auf Köpfe. Gegenseitig heften sich Schrittmacher die Startnummern an. Noch einmal legen sie den Saum an Jacke und Hose um.
Fünf Minuten bis zum Start. Die Velofahrer rollen zur weissen Linie, halten sich in der mit Kartonzetteln ausgelosten Reihenfolge an einem Betreuer fest. Reto Frey ist angespannt, knirscht die Zähne, zieht am Lenker, rückt den Helm zurecht. Ein erster Töff donnert auf die Bahn, die anderen folgen. Wie hungrige Haie verschlucken die röhrenden Motoren die Wortfetzen des Ansager – «fünf Schweizer gegen vier Deutsche» – und die artigen «Hopp Schwyz»-Rufe der Fans. Freihändig rauscht Aebi übers Betonoval, als ob er allen zeigen wollte, wie perfekt er Feuerstuhl und Rennbahn beherrscht. Nach vier Runden drosselt er das Gas, reiht sich auf seiner Position ein, wartet auf den Anfang.
Dann der Schuss. Der Start. Es geht los.
Fast jeder sagt, er komme, «so lange es die Rennbahn noch gibt». Den Reporter drängen sie, «schreiben Sie, die dürfen die Bahn auf keinen Fall abreissen». Die offene Rennbahn Oerlikon gehört der Stadt Zürich. Schätzungsweise 50 Millionen Franken sind die 20000 Quadratmeter Boden an bester Lage neben dem Hallenstadion im boomenden Oerlikon wert. Baufirmen wittern das grosse Geschäft. Derweil stören sich die Anwohner am lauten Lärm und dem Licht der Lampen. Um zehn Uhr abends muss der Verein, der die Bahn betreibt, jeweils Schweinwerfer und Lautsprecher ausschalten.
Noch lebt die Bahn, hat Weltmeisterschaften erlebt, die Radhelden Kübler und Koblet, Freuler und Breu. Bis 2010 läuft der Mietvertrag. Die Anlage ist gepflegt, die Toiletten sauber, der Rasen geschnitten, die Bäume gestutzt. Als «grüne Oase mitten in der Stadt» lobt Willy Kym die 97-jährige Bahn. Der einstige TV-Mann arbeitet als Stadionsprecher.
Peter Jörg, 36, ist der Rennfahrer, der hinter Schrittmacherveteran René Aebi rast. Schon oft hat der Blondschopf gewonnen. 60 Runden muss er nun noch strampeln. Er führt. Keucht, schnauft aber, «ist sauer», weiss Aebi, der durch die offenen Ohrmuscheln jedes Geräusch hört. Er drosselt das Gas, will nicht, dass der Fahrer «stirbt», die Kraft ihn verlässt. Ein «toter Fahrer» kann nicht mehr, erklärt er im morbiden Steherjargon.
Frey, der künftige Turnlehrer, braust heran, kämpft, sputet, eilt, pedalt. Luginbühl, der Tempomacher, rückt vor, ist nah an Jörg dran. Prompt dreht sich Aebi seitlich ab, bildet einen Wirbel, «bläst» Frey an, bis der «verhungert» und «in die Luft geht», von der Rolle fällt. Verliert zehn, zwanzig, dreissig Meter. Ruft lauthals «ooohhh», «ooohhh», eines der zwei Kommandos zwischen Pedaleur und Schrittmacher, «langsamer». «Allez» schreit er, wenns schneller sein soll. «‹Allez› sagen sie höchst selten», sagt Luginbühl. Schrittmacher drückten stets aufs Gas. «Ooohhh» will Aebi nie hören. «Das kann er daheim der Freundin ins Ohr flüstern, aber nicht mir.»
Auf der Westkurve steht die hölzerne Anzeigetafel. Sie zeigt den aktuellen Rang aller Fahrer an und die Anzahl Runden, die einer auf die Spitze eingebüsst hat. Flinke Hände wechseln bei Positionswechsel Schilder. Liegt einer zehn Runden zurück, fällt er raus. Reisst die Kette, platzt der Pneu, gibts fünf Runden, um den Defekt zu beheben. Geht der Töff kaputt, springt sofort ein Ersatzfahrer ein.
Frey liegt vorne. Noch 59 Runden. Der deutsche Meister greift an. Mit «hopp Reto, hopp Reto»-Rufen will die Menge das Malheur abwenden. Frey drückt, beisst, hastet. Es bringt nichts. Zuerst fährt der deutsche, dann der Schweizer Meister vorbei. 56 Runden bis zum Ziel. Frey ist dritter. Er fängt sich nochmals, klebt jetzt an der Rolle, trampt wieder rhythmisch. Luginbühl schaut zurück, sieht, sein Fahrer ist besser im Strumpf, kann treten, liegt richtig. Hält das horrende Tempo, hat den perfekten Abstand zur Rolle.
Ideal sind zwei Fingerbreiten. Wer näher ist und die Rolle berührt, verliert den Rhythmus. Wer zu weit weg ist, geht in die Luft.
Vom Rumpf des Schrittmachers spaltet sich der Wind. Das verursacht Wirbel, die sich im besten Fall hinter und im schlechtesten vor dem Velofahrer schliessen. Idealerweise sind Schrittmacher gross, breit und schlank – ein Kasten, der enormen Sog erzeugt. Vom dicken Bauch, wie Aebi ihn führt, prallt der Wind oft zu früh auf den Fahrer. Daher drückt er die Arme an den Rumpf.
Noch 24 Runden. «Allez». «Allez.» Frey tritt. Luginbühl drückt aufs Gas, steuert den Töff auf der Gerade nach oben, fährt am Vordermann vorbei. Zweiter. Auf der Bahn ist es jetzt eng. Überrundete blockieren den Weg.
Jörg greift an. 20 Runden noch. Frey kontert, einmal, zweimal, dreimal, braucht viel Kraft. Vier Runden später bricht er ein, fällt zurück, einen Platz, zwei Plätze, fährt im «Schissdreck», im Abseits, rappelt sich auf, gewinnt einen Rang, wird zuletzt Dritter.
Aebi, der Schlaumeier, hat seinen Fahrer geschont, kann nochmals aufdrehen, gewinnt. Das Stundenmittel betrug 70,11 Kilometer. «Es lag höher», sagt Aebi. Gemessen wird unten beim Oval, wo die Rundendistanz exakt 333,333 Meter beträgt. Oben, in der Kurve, sind die Wege 30 Meter länger. «Sicher einen Achtziger im Schnitt», sei er gefahren.
Eilig geht es zur Siegerehrung. «Wir müssen pressieren», sagt der Lautsprecher. «Um zehn ist Lichterlöschen.» Martina, die Blumendamen, gibt Küsschen, ist blond, schweizerisch, natürlich schön. Kein Mädchen, eine junge Frau. Gesponsert hat den Strauss ein Blumengeschäft aus Wallisellen, wie schon seit sieben Jahren. «Dank schön», so der Stadionsprecher und schickt den Sieger auf eine Ehrenrunde, eine kurze. «Macht schnell», bittet er. Es ist schon nach zehn. «Sonst ruft ein Nachbar noch die Polizei.»
Toller Artikel.
Schade dass man die Offene Bahn immer mehr verdrängen möchte. Sie stand schon immer da, aber ohne Nachbarn die sich jetzt beschweren wollen obwohl sie bewusst neben die Rennbahn gezogen sind…