Von Peter Hossli (Text) und Karl-Heinz Hug (Fotos)
Der kleine Kämpfer trägt einen zungenbrecherischen Namen: Oseltamivir. Er bespringt die Knospen des Schweinegrippevirus. Dort angelangt, blockiert er die Virenvermehrung. Fortplanzen können sich die Eindringlinge im Menschen nicht mehr. Sie sterben aus.
Auf den klitzekleinen Soldaten hofft die Schweiz. Oseltamivir ist der Wirkstoff im Grippemittel Tamiflu und letztes Bollwerk gegen die anrollende Grippe. Mutieren die jetzt noch harmlosen Keime zu gefährlichen Fieslingen, kämpft es an vorderster Front.
Doch Tamiflu ist nicht die einzige Waffe, mit der sich die Schweiz rüstet. Während letzte Sommerstrahlen an Seen und Flüsse locken, machen Schweizer Ämter und Firmen, Banken und Ärzte mobil gegen den niederträchtigen Feind mit dem medizinischen Kürzel H1N1. Küssen sich Unbekannte in Bars zügellos auf Lippen, kaufen Konzerne kistenweise Schutzmasken. Wechseln bei jedem Handschlag Millionen Erreger den Träger, liegen bei Kiosken desinfizierende Tücher auf. Abwarte ersetzen landesweit Stoff-durch Papierhandtücher. Sportverbände denken darüber nach, wann sie ausfallende Spiele nachholen. Ziel der Aktionen: die Übertragung von H1N1-Viren zu verhindern, die in Körperflüssigkeiten baden und an Händen kleben.
Wähnen sich Schweizer laut Umfragen in Sicherheit, warnt Thomas Zeltner. Als Direktor des Bundesamtes für Gesundheit ist er der General der Mobilmachung. «Im schlimmsten Fall – wir müssen das Worst-Case-Szenario planen – könnte jeder vierte Schweizer erkranken.» Einen allfälligen Notstand rufe er in Absprache mit der WHO und europäischen Nachbarn aus.
Am Flughafen lagern derweil Plexiglasscheiben, gedacht für die Eincheckschalter. Dereinst schützen sie das Personal vor Speichel der Flugpassagiere. Sechs Millionen Schutzmasken haben die SBB in Brugg AG verstaut. Bähnler üben Telefonkonferenzen, die bei möglichen Massenerkrankungen die Sitzungen ersetzen.
Roche rüstet auf. Laufend erhöht der Basler Pharmariese die Fabrikationskapazität für Tamiflu. Monatlich 30 Millionen Packungen laufen vom Band. Nächstes Jahr kann der Konzern 400 Millionen Schachteln mit je zehn Tabletten fertigen. «Es hat genug Tamiflu», sagt eine Roche-Sprecherin, obwohl die ganze Welt danach giert. Gleichwohl rät sie: «Vor der Einnahme sollte man mit einem Arzt sprechen.»
Neben eigenen Produktionsstätten laufen 19 externe Fabriken auf Hochtouren. Mit den Heilmittelbehörden in den USA und Europa einigte sich Roche, die Haltbarkeit des Mittels von fünf auf sieben Jahre auszudehnen. Die Potenz des Wirkstoffes bleibt intakt. Nur die Gelatine der Kapseln verdirbt. Unverkaufte, aber verfallene Pillen ruft Roche zurück, entnimmt das Oseltamivir und füllt es in frische Kapseln ein. Die Besitzerstaaten erhalten sie gegen eine Gebühr zurück. Der gealterte Krieger mit Zungenbrechernamen erhält ein neues Gewand und entgeht der Einäscherung.
Eine Metalltür in der Nähe eines Bahnhofs an einem nicht genannten Ort bei Bern. Mit bunten Graffiti ist das eiserne Tor beschmiert. Zwei kräftige Kerle öffnen es und schieben vollbeladene Holzpaletten hinein. Am Holster tragen die Angestellten der Armeelogistik je eine Ordonnanzpistole. Ihr heutiger Arbeitsort ist geheim und strategisch so wichtig, dass die geladene Waffe Pflicht ist.
In den Berner Berg führen sie 16 Millionen Spritzen, mit denen das Volk gegen H1N1 geimpft werden könnte. Da der Arzt zweimal stechen muss, reichen die Nadeln vollends für die 7,7 Millionen Einwohner der Schweiz.
Die Kanülen sind da. Unklar ist, wann der Impfstoff vorliegt. Ende Juli begann der Basler Pharmakonzern Novartis, ihn in der Schweiz, Deutschland, den USA und Grossbritannien zu testen. Weltweit 6000 Probanden lassen sich derzeit die Impfung verabreichen. Resultate liegen im September vor, die Auslieferung ist für das letzte Quartal des Jahres geplant. Jährlich 150 Millionen Dosen kann Novartis herstellen.
Rund 100 Schweizer sind bereits geimpft worden, sagt Christoph Hatz, Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich. Es sind Ältere, chronisch Kranke und ihre Betreuer. Schwangere sind nicht dabei. Um Sturm und Drang auf die Impfung zu verhindern, rekrutierte Hatz die Probanden aus seinem persönlichen Umfeld.
Er testet die Immunantwort sowie unterschiedliche Dosierungen. Da die Menge des Impfstoffes nicht für die ganze Welt ausreicht, will er eine niedrige Konzentration finden. Mutiert das Virus ungut, werde die Bevölkerung geimpft, sagt Hatz. «Bleibt es harmlos, beschränkt man sich auf Risikogruppen.»
Um 8.30 Uhr beim Kindergarten Mülhauserstrasse in einem Basler Aussenquartier. Auf der Wiese baumelt eine Schaukel. 21 Kinder aus 9 Ländern eilen ins lichtdurchflutete Haus. Bei der Garderobe legen sie Znünisack und Strassenschuhe ab. Knaben tragen kurze Hosen, Mädchen Kleidchen. Den zwei Kindergärtnerinnen reichen sie die Hand zum Gruss. Danach formieren sie einen Kreis. Just niest ein Knabe. Bevor der Rotz ins Leere fliegt, drückt er das Gesicht wie gelernt in den Ellbogen. Kurz darauf niest ein Mädchen in die Menge. Prompt weist Kindergärtnerin Astrid Bucher sie zurecht: «Immer in den Ellbogen, nie in die Luft niesen.»
Vor der Schweinegrippe fürchtet sich Bucher nicht. Nähe zu Kindern scheut sie nicht, obwohl diese das Virus so rasant wie niemand weiterreichen. Sie berühren einander öfter und stecken die Finger in den Mund. H1N1 gedeiht in kleinen Körpern prächtig. Um sich zu schützen, wäscht Bucher häufiger die Hände und lehrt die Kinder, es ebenfalls zu tun. Am Elternabend hat sie die Grippe thematisiert. Sie verteilt die Merkblätter der Stadt Basel und heisst Eltern, daheim dieselben Hygienemassnahmen anzuwenden wie im Kindergarten. Hat ein Kind hohes Fieber, bleibt es zu Hause. Hat es die Schweinegrippe, müssen die Eltern das sofort melden.
Auf Tellern liegen geschnittene Karotten, Mango- und Apfelstückchen, Nektarinen und Traubenbeeren. «Bitte alle die Hände waschen», ruft Bucher. Mit der Blockflöte spielt sie ein Lied. Die Kleinen stellen sich in einer Reihe vor den Waschtrog. Vom Brett hängen Zahnbürsten. Luca, Esmeralda und dann Bryce greifen zum Seifenspender, seifen ein und spülen behutsam ab. Sie trocknen sich mit Papiertüchern und werfen diese in den Abfallkübel. Sind alle Hände sauber, gibt es Znüni.
Eigens einen spezifischen H1N1-Test entwickelt hat das Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universität Basel. Binnen Stunden klärt er, ob ein fiebriger Patient die Schweinegrippe hat. Bei einem Pandemieausbruch sind 200 Tests pro Tag möglich.
Sie beginnen beim Arzt. Mit zarten, beweglichen Bürsten macht er beim Patienten je einen Abstrich im Rachen und im hinteren Teil der Nase. Da Hustenanfälle drohen, trägt er Brille, Schutzkleider und Gesichtsmaske. Beide Stäbchen gelangen ins gleiche, mit Flüssigkeit gefüllte Röhrchen. Im Labor fliessen 200 Mikroliter auf eine Extraktionsplatte. Fette, Eiweisse sowie Bakterien werden abgespalten. Übrig bleibt nacktes genetisches Material.
Während 40 Minuten wird davon eine Art Fingerabdruck im Reagenzglas vermehrt. Eine fluoreszierende Sonde erkennt das H1N1-Virus. Die Prozedur dauert je nach Eile zwei bis vier Stunden. Zurzeit wickelt das Labor täglich 30 solcher Tests ab. Positiv fallen zehn Prozent aus. «Wir sind froh, verhält sich das aktuelle Virus so harmlos», sagt der Leiter des Instituts, Professor Hans Hirsch. Patienten, die derzeit an Grippe erkrankten, sonst aber gesund und nicht im Kontakt mit gesundheitlich gefährdeten Personen seien, «müssen sich nicht unbedingt testen oder antiviral behandeln lassen».
Ein Lift führt vom Parterre der Armeeapotheke ins Untergeschoss. Hier in Ittigen bei Bern hält das Militär für den Bund eine Notreserve Tamiflu. Wohltemperiert lagern auf Gestellen 50 000 Dosen. Damit überbrückt der Staat allfällige Verknappungen, sagt Dr. Thomas Meister, stellvertretender Armeeapotheker.
Kapseln dreier Stärken warten säuberlich verpackt in Kartonschachteln auf den Einsatz. Mit roten Punkten versehen sind Tabletten mit 30 Milligramm des vifen Virenhemmers, gedacht für Kleinkinder. Etwas grössere erhalten eine Dosis mit 45 Milligramm, in der Armeeapotheke mit grünen Punkten versehen. Neutral gekennzeichnet ist Tamiflu für Erwachsene mit 75 Milligramm Oseltamivir.
An anderen Schachteln angeheftet ist das Schild «Reserviert für Auslandschweizer», Tamiflu für Schweizer Botschaften. Bereits Anfang Mai lieferte das Eidgenössische Departement des Äussern 7800 Packungen in Länder mit erhöhter Grippegefahr.
Drei Etagen höher schieben Gabelstapler Palette mit beigen Kartonkisten herum. Rund 2,7 Millionen Schutzmasken stehen in einer enormen Halle der Armeeapotheke. Von hier gelangen die Masken in die Berner Amtsstuben. Bricht die Pandemie aus, tragen 32 000 Bundesangestellte Masken, wenn sie den Arbeitsplatz verlassen. Es hat genug. Jeder kann zwölf Wochen lang täglich zwei tragen. 30 Millionen Stück «made in Asia» lagert die Armee. Kostenpunkt: zwei Millionen Franken oder 6,5 Rappen pro Stück. Zehn Millionen kriegt der Bund, den Rest die Kantone.
Der Eingang der Mibelle im aargauischen Buchs. Vom Leib fallen Hose, Hemd und Schuhe. Saubere Schutzkleider ersetzen sie. Auf die Nase gelangt eine Brille, auf Kopf und Gesichtshaar je ein dünnmaschiges Netz. Wer die Kosmetikfabrik der Migros betritt, schrubbt Hände mit Seife und erledigt die letzten Keime mittels Desinfektionsmittel.
Drei riesige Chromstahlkessel thronen auf einer Metallbrücke. Darin treibt ein rötlichwässriger Saft. Ein Braumeister mit Haarnetz und Überkleid überprüft die Sosse. Was er genau neunzig Minuten lang mischt, sagt er nicht. Nur: «Es ist ein alkoholischer Stoff, dazu Wasser und hautpflegende Substanzen.»
Die Mixtur ist ein Handreiniger, der die Grundversorgung der Schweiz sichern soll. Breitet sich das Virus rasant aus, werden 84 000 Migros-Angestellte damit regelmässig ihre Hände reinigen, Migros-Mitarbeiter vor den Läden den täglich 1,4 Millionen Kunden abpassen und deren Hände entkeimen.
Das fertige, nun farblose Mittel gelangt vom Rührkessel über dünne Rohre in die Abfüllhalle. Jeweils sechs Einliterflaschen stoppen unter sechs Zapfhahnen. Sechs Stahlrohre penetrieren die milchigen Flaschen. Innert Sekunden spritzt je ein Liter Flüssigkeit hinein. Mit flinker Hand setzt eine Arbeiterin die Deckel auf die vollen Behälter. Nun gleiten sie weiter und werden automatisch in Kartonkisten verstaut. Ein Lift trägt sie ins Lager.
Zwei Schichten schiebt das Mibelle-Personal zurzeit wegen des Mittels. Täglich stösst die Fabrik fast zwanzig Tonnen aus. Die Flaschen lagern an einem sicheren Ort. Innert 48 Stunden können sie jede Filiale erreichen. Das erfüllt das Credo der Migros: «So nahe wie möglich an der Normalität arbeiten», sagt Pressesprecher Urs Peter Naef. «Die Kunden sollen beim Einkauf sicher sein.»