Von Peter Hossli (Text) und Karl-Heinz Hug (Fotos)
Segnas, ein malerisches Bündner Dörfchen bei Disentis. Verwinkelte Wege führen an uralten Bauernhöfen und der Kirche vorbei. Ein Lädeli gibt es längst nicht mehr. Die wenigen Kinder gehen woanders zur Schule. Beim Bahnhof des 250-Seelen-Ortes steigt nur der Reporter aus. Aufklären will er die Umstände einer Bluttat auf dem Berg.
Vor vier Wochen, schreibt das Lokalblatt, drehten auf der Alp die Kühe durch und rannten einen Mann halbtot. Passiert ist das nicht zum ersten Mal. Jüngst fielen die Kühe im österreichischen Kärnten über eine ältere Wanderin her. Deren Hund hatte das Getier aufgestachelt. Im norddeutschen Emsland versperrte eine 20-Jährige einer Kuhherde den Weg. Just kletterte eines der bockigen Rinder auf ihr Auto und richtete einen Totalschaden an.
Der tierische Anschlag bei Segnas aber, der verlief anders. Nicht duselige Touristen oder fidele Wandervögel nahmen die Kühe aufs Horn. Der Hirt ist das Opfer. Er kennt die Täter. Sie stammen aus seiner Herde. Unter die Hufe geriet einer, der mit Kindsbeinen schon im Kuhmist stand. Seit er 16 ist schuftet er im Stall. Mit 20 übernahm er das Anwesen der Eltern. Das Leben verbrachte er mit Vieh.
Der Mann heisst Battista Huonder, 71. Sein grauer Haarkranz ist kurz geschnitten, die Haut ledrig braun gebrannt. Trübselig sitzt er am kargen Esstisch in der Stube eines rosaroten Einfamilienhauses. Der Heiland und Bilder der Enkel zieren die Wand. Hierhin zog Huonder mit seiner Frau, nachdem sie den Hof der Tochter abgetreten hatten.
Warum die Kühe ausgerechnet den Hirt angriffen, darüber rätselt Huonder seit Wochen – oft nachts, wenn er wegen höllischen Schmerzen im Brustkorb wach im Bett liegt.
Es geschah an einem lauen Dienstagmorgen Mitte Juli. Frankreich feiert La Grande Nation. Auf rund 2000 Meter Höhe auf der Alp Nalps treibt Hirt Huonder eine Herde mit 184 Stück Vieh zu einer anderen Weide. In beiden Händen schwingt er einen Holzstock. An der Leine zuckelt sein Border Collie. Die Stimmung ist bedächtig, idyllisch, ein Alptag wie in der Vierfarbenbroschüre. Huonder stellt sich auf einen Hügel und blickt ins Weite.
Bis aus dem Nichts eine rasende Kuhgruppe auf ihn losstiebt. Ohne Gebrüll, ohne Vorwarnung. Die Leine fällt, der Collie entkommt. Die wilde Horde überrennt und bodigt den Hirten. Nochmals richtet er sich auf, lupft einen Stock zum Gegenschlag. Just dreht der behufte Mob um, keilt, prügelt, drischt. Die Kühe begraben ihn. Bewusstlos bleibt er liegen.
All das spielt sich um 7.30 Uhr ab, entnimmt er Tage später seiner stehengebliebenen Uhr. Huftritte hatten sie zermalmt.
Dass er überlebt, verdankt er zwei mutigen Frauen. «Das ist doch mein Mann, das ist mein Battista, tötet ihn nicht», schreit Rosa Huonder, 65, die viehischen Viecher an. Jetzt kämpft die Hirtenfrau um ihren Liebsten. Unaufhörlich hämmert sie mit einem Stock auf die Rohlinge. Bis diese mürrisch davontrotten.
Fürchterlich sieht der Gatte jetzt aus. Das rechte Auge wurde rausgequetscht, überall Blut. «Ich will sterben», röchelt er. Sie redet auf ihn ein, damit «er wach bleibt und mir nicht wegstirbt», erzählt sie.
Hilfshirtin Ursula Haldi, 49, greift zum Mobiltelefon, ruft die Rega herbei. Ein Helikopter fliegt das Opfer ins Kantonsspital nach Chur. Der Befund: eine gebrochene Schulter, vier Rippenbrüche, drei auf der linken, einen auf der rechten Seite, sechs Schnittwunden an Kopf und Gesicht, viele blaue Flecken.
Vier Wochen später sind die Wunden vernarbt. Ein Augenarzt hat das Auge wieder hergerichtet. Frau Huonder serviert lauwarmes Mineralwasser. Die hellen Augen von Ursula Haldi lassen ihre Sonnenbräune brauner wirken. Die Frauen, die ihn retteten, hocken im Wohnzimmer, rechts und links vom Huonder. Beim Erzählen füllen sie die Lücken in seinem Gedächtnis. Sachte trinkt der Hirt.
Lustig – wie Flachländer über böse Kühe oft schlaumeiern – sei das nicht, betont er. «Eine Kuhattacke ist etwas vom Grausamsten, das es überhaupt gibt. Es ist unmöglich, sich auf so etwas vorzubereiten. Kommen die wilden Kühe, glaubst du, der Teufel hole dich.»
Was machte sie kirre? Föhn blies ja nicht. Dünne Höhenluft atmeten auch die zahm gebliebenen Tiere ein. Alle frassen aromatische Alpengräser. Aufhorchen lässt der Blick auf die Landkarte. Die Amokalp liegt direkt über der Baustelle des neuen Transittunnels durch die Schweizer Berge. Trieben zuletzt Presslufthämmer die Wiederkäuer in den Irrsinn?
Eher noch als Huonders harmloses Äusseres. Beim Tathergang trug er ein mattes Hemd, dunkle Stoffhosen, feste Schuhe, weder Buntes noch Grelles. «Es waren Kleider, welche die Kühe sicher nicht zum ersten Mal sahen.»
Wie viele griffen an? Zählen konnte er das Getier im Getümmel natürlich nicht. «Es waren ein Dutzend oder mehr», sagt er. Die Anführerin, erinnert er sich, hätte «einen dunklen bösen Grind» gehabt. Scheinbar willenlos hetzten ihr die anderen hinterher.
Dabei war der Hirt die Ruhe selbst, spazierte gelassen den Berg hinauf. Weder gestikulierte noch sprach er laut. «Plötzlich glaubte ich, eine Steinlawine prasselt auf mich nieder.» Er hält inne, senkt den Blick ins Wasserglas, hebt ihn, als hätte er nun doch eine Erklärung parat.
«Es sind wilde Tiere.»
Er belegt es mit einer grausigen Anekdote, die ihm seine Frau, die Augenzeugin, später schilderte. Kaum lag Huonder schwerverletzt im Hubschrauber, kehrten die Mütterkühe zum Tatort zurück. «Wie Raubtiere leckten sie das Blut auf, das ich verloren hatte.»
Eine Erklärung ist es nicht, weiss er selbst. Längst nicht jede Kuh ist ein Ochs. «Gefährlich sind die Mutterkühe beim Grauvieh», sagt er. Schon dreimal war er auf einer Sommeralp gewesen. Allerdings hütete er nie zuvor Mutterkühe gemeinsam mit anderen Rindern.
Nun standen fünfzehn Muttertiere und ihre säugenden Kälber in seiner Pflicht. «Mutterkühe bringen Unruhe in jede Herde», sagt der Hirt. Blindlings verteidigen sie die Kälber. «Wer ihnen zu nahe tritt, muss um sein Leben bangen. » Deshalb, verlangt der Gebeutelte, «muss der Kanton festlegen, dass Mutterkühe nie mit anderen Tieren auf hohen Alpen weiden».
Wieder schweigt er, blickt ins Leere. Er will etwas sagen, bei dem er nicht sicher ist, ob er es sagen soll. «Es kommt schon drauf an, wie der Bauer seine Kühe hält. Redet er im Winter viel mit dem Vieh, ist es im Sommer auf der Alp weitaus friedlicher.» Schnappten die Kühe über, weil sie sich vernachlässigt fühlten? «Futter haben sie vom Bauern genug gekriegt, aber der menschliche Kontakt fehlte ihnen.» Einsame Kühe sind böse Kühe. «Es ist klar ein Haltungsfehler des Bauern», sagt Huonder. «Am besten ist es, wenn er schon bei der Geburt dabei ist, dann gewöhnen sich Kuh und Kalb an ihn.»
Bei der naturnahen und von Fleischessern bevorzugten Freistallhaltung kommt das immer seltener vor. Ein Bauer putzt und füttert die Kühe. Innig abgeben muss er sich mit ihnen nicht mehr. «Er streichelt sie kaum noch und redet nicht mehr mit ihnen. Kühe wachsen wilder auf – und werden zu Wildtieren.»
Passé scheint Vieh, das auf «Berta», «Lieseli » und «Zuckerli» hört. Hirt Huonder kontrollierte es nur noch nach Ohrmarken. «Der Bauer gab ihnen sicher Namen, aber bei 184 Stück ist es unmöglich, sich diese zu merken.» Er selbst habe die Tiere gehegt. «Sie haben von mir so viel Zuneigung gekriegt wie nie zuvor. Ich trieb sie an, gab ihnen jeden Abend genügend Salz, redete ständig mit ihnen, tat alles, damit sie mich kennen lernen.»
Obwohl alle im Dorf den Halter der Biester kennen, nennt Huonder ihn nicht. «Ich will den Bauern nicht kaputtmachen, ich will vor den Kühen warnen», sagt er.
Noch grasen die Wüstlinge auf der hohen Alp, betreut von einem niederösterreichischen Ersatzhirten. In einer Kartei für freischaffende Sennen hatte ihn der Bauer im Nu gefunden. «Der neue Hirt ist in Lebensgefahr », sagt Huonder, auch wenn sein Nachfolger bisher noch keine Probleme hatte. «Kommen die Kühe wieder, hat er wenig Chancen.» Auf Bäume klettern kann er nicht. Es wachsen auf dieser Höhe keine. «Fliehen nützt nichts. Kühe sind schneller als Menschen.» Nur etwas wirke: «Ein gezielter Stockschlag auf den Kuhschädel. »
Der Ferienkanton Graubünden halte den Fall bewusst unter dem Deckel, sagt er. Niemand will Wanderer und Ausflügler abschrecken. «Wäre ein Tourist angegriffen worden, hätte das viel mehr Aufsehen erregt. Bei mir sagt man, der Huonder lebt ja noch, dem geht es schon viel besser, alles halb so schlimm.»