“Die USA negieren Abkommen”

Die neue US-Regierung unter Barack Obama favorisiere einen grossen Staat mit hohen Steuereinnahmen, meint die ehemalige US-Botschafterin Faith Whittlesey. Der Streit mit der Schweiz sei daher philosophischer Natur.

Interview: Peter Hossli

faithBotschafterin Whittlesey, warum ist aus einem Rechtsfall der UBS ein wüster Streit zwischen der Schweiz und den USA entstanden?
Faith Whittlesey: Das US-Finanzministerium und das Justizministerium haben unilateral entschieden, zwei bilaterale Abkommen mit der Schweiz zu negieren. Offenbar dauerte den Amerikanern das Amtshilfeverfahren für die Auslieferung von Bankdaten vermeintlicher US-Steuerbetrüger zu lang.

Wie ist ein solch aggressiver unilateraler Vorstoss von Seiten der USA zu erklären?
Whittlesey: Wir stecken mitten in einer Finanzkrise. Das Finanzministerium steht unter riesigem Druck, mehr Einnahmen zu erzielen. Verwirrend ist, dass Barack Obama einst versprach, Diplomatie und souveräne Staaten zu respektieren. Er wurde gewählt, weil er George W. Bushs unilaterales Vorgehen kritisierte, etwa den präventiven Krieg gegen Irak. Obama beschwor, den Rechtsstaat und die Privatsphäre zu wahren. Im Fall der Schweiz wurden diese Wahlkampfversprechen gebrochen.

Wäre George W. Bush noch Präsident, wäre die Attacke auf die Schweiz ausgeblieben?
Whittlesey: Zumindest ist eine fundamentale Kursänderung zur letzten republikanischen Regierung zu erkennen. Ich habe unter Ronald Reagan gedient. Reagan stand für einen kleinen Staat, eine dezentralisierte Regierung und hohen Respekt für Individualrechte und Privatsphäre. Die jetzige Regierung will einen grossen Staat und hohe Steuern. Reaktionen darauf sind bereits zu sehen. Seit Barack Obama im Amt ist, hat der Dow-Jones-Index 3000 Punkte verloren. Die Regierung Obama wird als geschäftsfeindlich beurteilt, nicht nur in der Schweiz, sondern auch an der Wall Street.

Dann ist Barack Obama anti-schweizerisch?
Whittlesey: Er ist nicht speziell anti-schweizerisch. Aber die Schweiz steht für vieles, gegen das die Obama-Regierung antritt. Die Schweiz kennt tiefe Steuern. Schweizer misstrauen einer zentralen Regierung. Die Schweiz kennt flexible Arbeitsgesetze und freie Wahl bei der Krankenkasse. Der freie Markt ist hoch angesehen, deshalb ist die Schweiz ein wohlhabendes Land. Obama orientiert sich an der Europäischen Union mit zentralisierter Macht, hohen Steuern und einem aufdringlichen Staat. Die Schweiz folgt gewissen Prinzipen, die Präsident Obama nicht mag. Der Zwist ist also philosophischer, nicht persönlicher Natur.

Senator Carl Levin hat das Schweizer Bankgeheimnis jüngst als «cash cow» beschimpft, die Gewinne daraus als Sündgeld. Wie schädlich sind solche Worte für das Verhältnis zwischen der Schweiz und den USA?
Whittlesey: Es waren schlecht gewählte Worte, sage ich respektvoll. Senator Levin versteht die Geschichte des Bankgeheimnisses kaum, sonst würde er anders reden. Er weiss offenbar nicht, dass das Bankgeheimnis eingeführt wurde, damit verfolgte Juden während der Zeit der Naziherrschaft ihre Vermögen unentdeckt in Sicherheit bringen konnten. Heute leistet die Schweiz mit Bankgeheimnis exzellente Arbeit im Kampf gegen Geldwäscherei. Es gibt kaum ein Land, dass mit den USA harmonischer gegen internationale Kriminalität vorgeht als die Schweiz.

Etliche US-Politiker sehen in der Schweiz einen Ort, wo Amerikaner und US-Konzerne Geld vor dem Fiskus verstecken.
Whittlesey: Der Begriff Bankgeheimnis sollte durch «finanzielle Privatsphäre» ersetzt werden, was eng verbunden ist mit individueller Freiheit. Die Schweiz muss hinstehen und erklären, dass Steuerwettbewerb und finanzielle Privatsphäre die Politiker dazu zwingen, ehrliche und gute Arbeit zu leisten.

Solche Argumente fehlen bis anhin. Warum wehrt sich die Schweiz in den USA nicht?
Whittlesey: Die Schweiz hat eine dezentrale, konsensorientierte Führung. Das Land will nicht auffallen. Im Kriegsfall kann ein General ernannt werden, der die Schweiz führt. Hier handelt es sich um eine scharfe wirtschaftliche Konfrontation, bei der eine starke Führungsrolle gefragt wäre. Dies ist unter den Bedingungen der traditionellen Schweizer Politik schwierig.

Was sollte die Schweiz jetzt tun?
Whittlesey: Ich würde mir nie erlauben, der Schweizer Regierung Vorschläge zu machen. Aber es muss neu überdacht werden, wie schweizerische Prinzipien der intellektuellen Klasse der USA näher gebracht werden. Man muss mit Leuten reden, die Einfluss haben auf die US-Aussenpolitik und auf das intellektuelle Leben Amerikas. Der jetzige Streit könnte sehr gefährlich werden für den Schweizer Finanzplatz. Es ist daher wichtig, wie die Verteidigung läuft – und wer sie durchführt.

Was sollte die Botschaft der Schweiz sein?
Whittlesey: Sie muss die Gründe hinter der finanziellen Privatsphäre darstellen. Es muss deutlich werden, dass der Druck auf die Schweiz dem schweizerischen Finanzplatz schadet, und dass dies nachteilig ist für die USA. Die Schweiz ist ein wichtiger wirtschaftlicher Partner Amerikas. Wir sind auf schweizerische Investitionen angewiesen. Antiamerikanismus droht zu wachsen. Dabei hat Präsident Obama versprochen, neue Freunde für die USA zu gewinnen. Mit solch fahrlässigen Aktionen vermehren wir die Feinde Amerikas.

Es gibt in den USA ebenfalls Steueroasen, etwa in Delaware oder Nevada. Ist es Heuchelei, nur gegen die Schweiz anzutreten?
Whittlesey: Es ist einfacher, ein anderes Land anzugreifen als einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Der Angriff auf die Schweiz ist irrational.

Das US-Justizministerium will vor Gericht die Herausgabe von 52000 UBS-Kontoinhabern erzwingen. Die UBS sagt, dieser Fall müsse diplomatisch gelöst werden. Wer hat Recht?
Whittlesey: Geht es um Beziehungen zweier befreundeter souveräner Staaten, muss das Weisse Haus sich darum kümmern. Das Justizministerium ist nicht zuständig für das Verhältnis zwischen zwei Ländern. Fällt der Fall in gerichtliche Mühlen, gerät er ausser Kontrolle. Es hat dann keinen Platz mehr für diplomatische Nuancen. Deshalb müssen alle diplomatischen Optionen berücksichtig werden.

Wie beurteilen Sie das aktuelle Verhältnis zwischen der Schweiz und den USA?
Whittlesey: Abgesehen von diesem Krach, der zur Frontalkollision werden könnte, ist das Verhältnis exzellent. Die Zusammenarbeit funktioniert vielenorts ausgezeichnet. Es gab noch nie so viele US-Firmen in der Schweiz wie jetzt.

Faith Whittlesey war US-Botschafterin in Bern von 1981 bis 1983 und von 1985 bis 1988. Dazwischen arbeitete sie im Weissen Haus unter Präsident Ronald Reagan. Danach war die Juristin 19 Jahre Vorsitzende der American Swiss Foundation. Heute ist sie Ehrenpräsidentin der privaten Organisation, die sich für ein gutes Verhältnis zwischen den USA und der Schweiz einsetzt.