“Das Weisse Haus hat mich verzaubert”

Mit den Obamas kommen nach langer Zeit wieder kleine Kinder in die Festung der Macht. Präsidentenenkel Curtis Roosevelt, einst als «Buzzie» Liebling der Nation, erinnert sich an glückliche und unglückliche Tage im Amtssitz seines Grossvaters.

Von Peter Hossli

spielplatz.jpgZwei Agenten des Secret Service begleiten die Knirpse zur Pennsylvania Station in New York. Behutsam sucht die Schutzgarde des US-Präsidenten ein Zugabteil nach Sprengkörpern ab. Curtis, 3, und Eleanor Roosevelt, 6, steigen ein. Stumm sitzen die Wächter auf der langen Fahrt in die Hauptstadt neben den Enkeln des neu gewählten Präsidenten. Am Bahnhof in Washington holt eine Limousine das Geschwisterpaar ab und fährt es ins Weisse Haus.

Das war im September 1933. «Das Haus kam mir gross vor», sagt Curtis Roosevelt, der im April dieses Jahres 79 wird. Überwältigt hätte ihn das Heim des amerikanischen Staatschefs jedoch nicht. «Meine Schwester und ich stammten aus gutem Haus, wir wuchsen mit Bediensteten auf, unsere Zimmer in New York waren grösser als die im Weissen Haus», sagt er. «Im Gegensatz zu vielen präsidialen Familien – auch den Obamas – hat sich unser Lebensstil im Weissen Haus kaum verbessert.»

Zwölf Jahre ging Curtis Roosevelt im Weissen Haus ein und aus. So lange wie kein anderes Kind. Sein Grossvater, Präsident Franklin Delano Roosevelt, gewährte seiner Tochter – Curtis’ Mutter – und ihren zwei Kindern nach der Scheidung Gastrecht.

Heute lebt Curtis Roosevelt mit seiner vierten Gattin zurückgezogen in Südfrankreich. Er töpfert, geht frühmorgens auf den Markt, richtet die Mahlzeiten. Es ist der letzte Tag im Jahr 2008, Roosevelt bereitet ein Fest vor für 60 Gäste, «Nachbarn und Freunde», wie er sagt. Eine Stunde nimmt er sich Zeit für das Telefongespräch mit dem  Reporter. «Wir müssen uns etwas beeilen», grüsst er.

 

curtis.jpg«Das Weisse Haus hat mich verzaubert», sagt Roosevelt, «es nahm mich komplett ein – und es hat mich süchtig gemacht nach der gewaltigen Aura, die es ausstrahlt.» Eine Aura, die mehr vom Amt des Bewohners als von der Architektur des Baus ausgehe. «Ein amerikanischer Präsident hat enorme Macht, er ist zweifellos die mächtigste Figur aller westlichen Demokratien. Diese Macht ist in einem relativ bescheidenen Gebäude in Washington zentriert.» Benommen seien davon alle, nicht nur er. «Jeder, der im Weissen Haus lebt oder arbeitet wird in eine surreale Welt versetzt», sagt er. «Heisst der Präsident FDR, ist das surreale Gefühl rund 100-mal überwältigender.»

«Papa» nannte Curtis seinen Grossvater – den vielleicht bedeutendsten US-Präsidenten aller Zeiten. FDR regierte von 1933 bis zu seinem Tod 1945. Niemand genoss länger Wohnrecht im Weissen Haus. Vier Mal wurde er gewählt. Als Präsident steuerte er die USA aus der Grossen Depression, später befreite er Europa vom Joch der Nazis. Er liess die Atombombe entwickeln. Deren Abwurf über Japan beendete den Zweiten Weltkrieg. Ein brillanter Redner war FDR, ein geschickter Taktiker, ein Vorbilder für seine Nachfolger.

Kinderaugen sehen Macht anders. «FDR war mein Grossvater», sagt Roosevelt, «ich begriff nicht, dass er der mächtigste Mann der Welt war.» Erst als Harry Truman 1945 den Präsidentenposten übernahm, wurde dem 15-Jährigen die Tragweite des Amtes bewusst.

xmas.jpgAmerikas erster Präsident George Washington gab das Weisse Haus 1792 in Auftrag. 1800 wurde es fertiggestellt. 1814 zündeten es die Briten an, es brannte vollständig aus. Fast jeder Präsident baute um oder aus. 1901 kam das Oval Office hinzu. Zuletzt liess es Harry Truman 1948 aushöhlen und das Innere komplett neu anlegen.

Nun ziehen in den, wie Curtis Roosevelt sagt, «unwirklichen Ort» erstmals seit den Sechzigerjahren wieder kleine Kinder. Tipps für Malia, 10, und Sasha Obama, 7, hat er nicht. «Ich würde es nie wagen, ihnen oder ihren Eltern etwas zu raten», sagt er. «Die Obamas scheinen eine wunderbare Familie zu sein.» Er hält inne und gibt seiner Frau Kochanweisungen. «Aber», führt er fort, «die Obamas glauben, sie seien in den Vorwahlen, während des Wahlkampfs und zuletzt in den Ferien auf Hawaii von der Presse gründlich durchleuchtet worden.» Ein Trugschluss. «Es war der Anfang einer gigantischen Welle, die auf sie klatscht», sagt er. «Bevor man das Weisse Haus betritt, ist es unmöglich zu wissen, wie anstrengend das Leben dort ist.»

Mindestens vier Jahre lang werde alles, was die Kinder tun, von aussen beäugt. «Das Weisse Haus prägt ihre Freundschaften, was sie lernen, wie sie die Welt wahrnehmen. Wie sie essen, wie sie spielen und schlafen.» Das Familiengefüge werde durchgeschüttelt. «Der Vater ist nicht mehr Senator und Kandidat», sagt Roosevelt. «Er ist Präsident.» Michelle Obama sei nicht mehr Kandidatengattin und Mutter. «Sie ist First Lady der gesamten Nation, die Kinder kommen nachher.»

family.jpgWie einst bei Curtis. Als Dreijähriger zog er in den dritten Stock des Weissen Hauses, dorthin, wo das Dienstpersonal wohnte. Die Empfangshalle, in dem ein riesiger roter Teppich lag, beeindruckte ihn am ersten Tag. Von den Wänden schauten gestreng in Öl gehaltene Gesichter früherer Präsidenten. «Jedes Bild schien mir vier, fünf Mal so gross wie ich.»

Zuerst teilte er ein Zimmer mit seiner Schwester, ab fünf war er allein. Nannys und Butler sorgten sich um ihn. «Jeder hatte einen Plan, den er befolgen musste, die Kinder, der Präsident, die First Lady, das Personal, die Berater, es lag am Chefdiener, alles abzustimmen», sagt Roosevelt. «Wir mussten um 7.30 Uhr aufstehen, die Nanny brachte uns ins Bad, um 8.15 Uhr gab es Frühstück, hatte Papa Zeit, las er uns die Zeitungscomics vor.»

Dass sein Opa besonders war, erkannte er schon früh. «Mein Grossvater war umgeben von Menschen, die ihn anhimmelten, die ihm jeden Wunsch erfüllten. Es schien, als ob er den Job genoss. Allerdings kam mir seine Arbeit wie ein grosses Spiel vor, das nie aufhörte.»

Langeweile gab es nicht. Curtis traf Botschafter fremder Länder, ass mit Ministern, war im Raum, in dem FDR die Kriegsflotte kommandierte, winkte an Inaugurationen. «Ein Zoobesuch bietet weniger Action als ein Tag im Weissen Haus.» Die First Lady, seine Grossmutter Eleanor Roosevelt, nahm ihn während der Depression in Suppenküchen mit, um Arme zu verpflegen. «Zwar war ich ein Kind, wusste aber genau, was passierte.»

Beim Abendessen hörte er Erwachsenen zu. Mit neun begann er mitzureden. Als Teenager verstand er, was gesagt wurde. «Ich verstehe politische Prozesse besser als andere, weil ich viel mitbekam, als ich sehr jung war.»

Als «politisches Treibhaus» beschreibt er das Weisse Hause, als «Ort, wo Machtspiele wie nirgends sonst gespielt werden». Als Ort, wo hart geschuftet wird. Fünfzehn Stunden, sieben Tage die Woche hätte FDR gearbeitet. «Die Arbeit brachte ihn um.»

Politik überlässt Curtis Roosevelt seiner Frau. Sie ist Stadträtin. Bis zur Pensionierung arbeitete er im Sekretariat der Uno. Zuvor unterrichtete der Jurist an Universitäten, war in der Werbung tätig, diente als Soldat. Als «grösste Errungenschaft meines Lebens» nennt er jedoch die «Abnabelung vom Weissen Haus». Ein schmerzhafter Heilungsprozess, der Jahrzehnte dauerte und ihm erst letztes Jahr mit der Veröffentlichung seiner Memoiren «Too Close to the Sun» gelang.

Ein Buch, an dem er zwanzig Jahre schrieb. Er wollte «die Wahrheit erzählen» und mit «der zweischneidigen Realität» abrechnen. «Das Leben im Weissen Haus ist ungesund für Kinder, und es ist unrealistisch», sagt er. «Es entfremdete mich von der Realität und von normalen Menschen.»

fdr1.jpgWie andere Kinder, die im Weissen Haus aufwuchsen, litt er. Als Erwachsener sei er unzähligen Leuten begegnet, «die einfach meine Hand schütteln oder sich in meiner Nähe aufhalten wollten», sagt Roosevelt. «Niemand interessierte sich für Curtis, sie interessierten sich für FDRS Enkel.»

Der war ein Star, so bekannt wie die Kinderstar Shirley Temple. Amerika war berauscht von den herzigen Kleinen, die im Weissen Haus herumtollten. Die Presse nannte ihn Buzzie, seine Schwester Sistie. Oft fuhr der Präsident sie im offenen Auto aus. Fotos der Kinder lenkten ab von der Misere im Land. Bei 25 Prozent lag die Arbeitslosigkeit als der Grossvater sein Amt antrat. «Wir verstanden es als Pflicht, uns zu zeigen», sagt Curtis Roosevelt. «Das Weisse Haus gehört allen, das Volk hatte das Recht, uns zuzuschauen, wir lebten ja nur dort, weil Papa Präsident war.»

Der Kleine genoss die grosse Aufmerksamkeit. «Ich liebte das Rampenlicht.» Wandte sich seine drei Jahre ältere Schwester von den Fotografen ab, trat der Bub ins Blitzlicht. Weil es reizend aussah, trug er bis zehn nur kurze Hosen, egal wie kalt es war.

Öfter nutzte der Präsident die Enkel bei öffentlichen Auftritten, um seine Lähmung zu verheimlichen. 1921, im Alter von 39 Jahren, war FDR an Polio erkrankt. Fortan waren die Beine steif. Er bewegte sich im Rollstuhl fort oder Helfer stützten ihn. Journalisten, die es wussten – «es waren eigentlich alle», sagt Curtis Roosevelt –, schrieben es nicht. Musste sich FDR in der Öffentlichkeit aus einem Auto tragen lassen, winkten Curtis und Eleanor im richtigen Moment der jubelnden Menge zu. Der verkrüppelte Staatsmann gewann so ein paar Sekunden Privatsphäre. «Bei solchen Manövern dachte ich an die Behinderung, zu Hause sprach niemand darüber, sie gehörte zu Papa wie die Zigarette.»

Magazine lassen Kinder von Präsidenten ablichten. Paparazzi lauern ihnen auf. Die Trinkgelage der Zwillingstöchter von George W. Bush gingen um die Welt. Stylisten beanstandeten Chelsea Clintons Lockenpracht und ihre Zahnspange. Der konservative Radiotalker Rush Limbaugh schimpfte sie einst «den Hund im Weissen Haus». Amy Carter las während eines offiziellen Empfangs in einem Buch. Prompt zerpflückte sie die Presse. Kein Bild eines Präsidentenkindes ist rührender als John F. Kennedy Juniors militärischer Salut am Grab des Vaters.

schnee.jpgRücksichtslos nutze die Presse Curtis und Eleanor, um Franklin D. Roosevelt zu rügen. Das Magazin «Esquire» etwa druckte eine Karikatur, das die Enkel zeigt, wie sie FDR bei der wöchentlichen Radioansprache stören. Feierten die Kleinen Geburtstag, veröffentlichte die «New York Times» die Liste der geladenen Kinder. Die meisten kannten sie nicht einmal.

«Bis ich 15 Jahre alt war, hatte ich keine Freunde in meinem Alter», sagt Roosevelt. «Ich habe nie erlebt, wie «gewöhnliche» Mädchen und Buben miteinander spielen.» Sein Spielplatz lag im Garten des Weissen Hauses, das Schwimmbad im Keller. Doch dort durften keine anderen Kinder hin. Er fühlte sich isoliert, auch dann, als die Mutter wieder heiratete und er zwischenzeitlich eine Schule in Seattle besuchte. «Alle betrachteten mich als etwas Spezielles.»

Freundschaften schloss er mit Agenten, die ihn bewachten. «Abgesehen von meiner Familie waren es die einzigen Menschen, die ich regelmässig traf.» Umso grösser sei der Schock gewesen, als er nach FDRs Tod den staatlichen Schutz verlor. «Mit 15 fühlte ich mich einsam, weil der Secret Service nicht mehr in meiner Nähe war.»

Mit Gleichaltrigen freundete er sich erstmals auf dem Gymnasium an. «Ich war mir aber nie sicher, ob sie mich mochten oder ob sie die Nähe zu Roosevelt suchten.» Nicht ausstehen konnte er es, «wenn Lehrer mich vor einer neuen Klasse als ‹Curtis Roosevelt, Enkel von FDR› vorstellten».

auto.jpgErst nach der Pensionierung gelang es ihm, «mich selbst zu sein». Er erfasste, warum er oft zwischen Selbstzweifel und Selbstüberschätzung schwankte. «Das Weisse Haus kann wunderbar sein für ein Kind – aber auch höchst gefährlich», sagt er. Es hinterliess ein Image, dem er stets davonrannte. «Jeder, der mich sah, dachte zuerst an den kleinen Buzzie mit den kurzen Hosen. Heute leben nicht mehr viele Menschen, die sich an dieses Kind erinnern, das macht es einfacher.»

Letztes Jahr versuchte er Kinder zu treffen, die wie er im Weissen Haus lebten. Ohne Erfolg. Chelsea Clinton und Caroline Kennedy hatten keine Zeit. Amy Carter, die 41-jährige Tochter von Jimmy Carter, schlug ein Treffen aus. Nie hat sie über ihre Erfahrungen gesprochen. «Sie verarbeitet das Weisse Haus, indem sie sich abkapselt.»

Curtis Roosevelt hofft, die Obama-Töchter hätten weniger Probleme. Sollten sie sein Buch lesen? «Ich habe beiden je ein Exemplar geschickt. Ob sie es erhalten haben, weiss ich nicht.»