Von Peter Hossli
Ein Gespräch zwischen drei Bewohnern eines Mehrfamilienhauses in Brooklyn Heights. «Wir sind neu hier, wie viel erwartet der Abwart zu Weihnachten?», fragt eine Anwältin. «Wir gaben ihm letztes Jahr 120 Dollar», antwortet eine Lehrerin. Der Werber, der neben ihr steht, errötet. «Jetzt verstehe ich, warum er unsere Heizung so lange nicht flickte – wir gaben ihm nur 75 Dollar.»
Das scheinbar banale Geplauder ist typisch und todernst. Kein Thema verunsichert und beschäftigt New Yorker vor den Festtagen mehr als die Trinkgeldgeberei. Und das seit Jahrzehnten. Bereits 1911 handelte die «New York Times» den heiklen Gegenstand auf einer Seite ab. «Was New York zu Weihnachten an Trinkgeldern auszahlt», titelte das Blatt. Auf der dazugehörigen Karikatur steht ein Dutzend Boten mit offener Hand Schlange bei einem Meister, der missmutig in die Tasche greift. Die Fragen, welche die Zeitung damals aufwarf, sind gleich geblieben: «Wer kriegt was, wie viel müssen wir geben, und gibt es eine Möglichkeit, dem Trinkgeld zu entrinnen?»
Es gibt kein Gesetz, das den Botenlohn festschreibt. Und doch ist keine gesellschaftliche Handlung in der Millionenstadt bedeutsamer als jährliche Almosen für Dienstleistungen. Hinter der finanziellen Bescherung stecken Grosszügigkeit und Pflichtgefühl – und Furcht.
Vom Betrag hängt nämlich ab, wie das nächste Jahr wird. Erhält der Türsteher zu wenig, lässt er bei strömenden Regen schon mal die Türe zu. Fühlt sich ein Verträger geprellt, landet die Zeitung halt öfter in der Pfütze. Kriegt der Coiffeur zum Jahresende weniger als die Kosten eines Haarschnitts, schneidet er die Fransen nächstes Mal krumm. Liegt bei der Vorkindergarten-Lehrerin zu wenig Bares in der Neujahrskarte, droht dem unbescholtenen Kleinen ein hartes Semester. Damit das nicht passiert, teilt die Schule brieflich mit, wie viel eine Erzieherin erwartet: 40 Dollar pro Kind. Lernen zwei Kinder in derselben Schule, reichen 60 Dollar. Keinesfalls sollte der Babysitter vergessen werden: Diesem stehen 120 Dollar zu.
Pro Hund nicht unter 200 Dollar
Trinkgeld beanspruchen jene, die den hektischen Alltag von Grossstädtern erleichtern. Wer mit Hunden anderer täglich Gassi geht, kann pro Hund mit 200 Dollar rechnen. Der Bonus steigt, wenn der Dogwalker dem betreuten Vierbeiner Nettes schenkt, sei es einen Kuhknochen oder ein leckeres Biskuit. Ein Parkwart, der das Auto eines Bankers parkiert, erhält durchschnittlich 100 Dollar. Handelt es sich bei der zu parkierenden Karre um einen Porsche oder einen Ferrari, kann man durchaus nach mehr fragen. Mancher treibt den Betrag überdies in die Höhe, indem er den Wagen freiwillig poliert. Der Coach im Fitnessclub hofft auf ein Trinkgeld, das dem Stundenlohn – 90 Dollar – entspricht.
Doch nicht nur der Betrag des Weihnachtsgeldes ist massgebend. Stil beweist, wer eine lobende Karte schreibt. Die Gabe muss bar und persönlich übergeben werden. Erwartet werden knitterfreie Noten. Die Schenkung sollte zwischen Thanksgiving – dem letzten Donnerstag im November › und Mitte Dezember erfolgen, damit Beschenkte noch Geschenke kaufen können.
Unermesslich ist die wirtschaftliche Bedeutung des Trinkgelds. Dienstboten und Gärtner, Putzfrauen und Nannys – allesamt tragende Säulen der Gesellschaft – kommen mit ihrem Salär selten durch. «Das Trinkgeld ist ein zentraler Bestandteil ihres Einkommens», sagt Michael Lynn, Professor an der Cornell University. Letztes Jahr flossen in den USA 26 Milliarden Dollar (umgerechnet rund 30 Milliarden Franken) in Form von Botenlöhnen, hat er berechnet. Andere Schätzungen gehen von 40 Milliarden Dollar aus. Mit der Prämie würden sich Kunden die «soziale Anerkennung» des Dienstleistenden erkaufen, sagt der Professor. «Trinkgeld hat wenig mit der Qualität einer Arbeit zu tun, es festigt das soziale Gefälle der beteiligten Parteien.»
Erste historische Trinkgeldzeugnisse in den USA stammen aus der Kolonialzeit. So notierten die beiden frühen US-Präsidenten George Washington und Thomas Jefferson genau, wie viel sie ihren Sklaven Ende Jahr zahlten. Später, Mitte des 19. Jahrhunderts, sei die Tradition im grossen Stil von reisenden Amerikanern aus Europa importiert worden, sagt Lynn. «Im Gegensatz zu Europa behielten wird den Brauch.»
Verschwinden wird die Etikette auch dieses Jahr nicht, aber sie dürfte schrumpfen. Die Finanzkrise hat die USA in eine tiefe Rezession getrieben. 220 000 Leute dürften in New York ihren Job verlieren. Viele davon waren zuvor grosszügige Trinkgeldzahler. Um 30 Prozent dürfte 2008 das Weihnachtsgeld insgesamt sinken, schätzt Jodi Smith, eine Beraterin für gesellschaftliche Konventionen. «Wer den Job verloren hat, darf heuer auf Trinkgeld verzichten», sagt sie. «Er muss das in einer netten Karte mitteilen – und soll fürs nächste Jahr sparen.» Zwei Jahre ohne Trinkgeldzahlung liegt in New York nicht drin.