Von Peter Hossli
Alte Leute und Frauen mit Kindern stellen sich vor die fensterlose Lagerhalle in Homestead, eine Stunde südlich von Miami. Sie halten rote Zettel in den Händen, Gutscheine, für die sie monatlich kostenloses Essen kriegen. Heute gibt es Gurken, Milch und Kartoffeln. Ein paar der Hungerleider trotten enttäuscht davon. Ihre Taschen sind nur zur Hälfte gefüllt.
«Wir haben viel zu wenig Esswaren, um die Nachfrage zu befriedigen», sagt Patricia Robbins, die Gründerin und Vorsitzende von Farm Share, einer Organisation, die überschüssige Agrarprodukte an Bedürftige abgibt. Halbiert hätten sich die Nahrungsmittelspenden in den vergangenen zwei Jahren. «Amerika erlebt eine Hungerepidemie», sagt Robbins, «trotzdem streicht der Staat Hilfsprogramme, Bauern produzieren weniger, während der Hunger sich ausbreitet.»
Eine letzte Woche veröffentlichte Studie des Landwirtschaftsministeriums belegt die Aussage. Demnach bekundeten 2007 36,2 Mio. Amerikaner grösste Mühe, jeden Tag genügend zu essen. Betroffen sind 12 Mio. Kinder. Am meisten leiden Menschen in den Südstaaten Hunger. So verzeichnet der gemeinhin ärmste US-Staat Mississippi eine Hungerrate von 17,4 Prozent. Besonders herzergreifend ist, dass knapp 700 000 amerikanische Kinder 2007 an Unterernährung litten, was der Zunahme von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Für das laufende Jahr erwarten Hungerexperten eine deutliche Zunahme, zumal die Finanzkrise das Land in eine Rezession stürzt. «Das ist erst der Anfang eines Trends, es wird noch viel schlimmer werden», sagt Vicki Escarra, die Chefin von Feeding America, der grössten Hungerhilfsorganisation der USA. «Der Zulauf hat in den letzten zwei Monaten enorm zugenommen», sagt Farm-Share-Gründerin Robbins. So würden sich ein Viertel mehr Familien mit Kindern in die Reihen stellen. «Amerika ist die reichste Nation der Welt», sagt sie. «Dass es hier Hunger gibt, will niemand hören.»
Gerade mal vier Zeilen verwendete das «Wall Street Journal» für den sechzig Seiten umfassenden staatlichen Hunger-Bericht. Die meisten anderen US-Medien ignorierten ihn gänzlich. Dabei vermelden gemeinnützige Stellen, die Lebensmittel verteilen, landesweit eine Erhöhung der Nachfrage nach Essen um 20 Prozent.
Gemäss Food Bank for New York City sagen derzeit 3,1 Mio. New Yorker, es sei für sie schwierig geworden, regelmässig Nahrungsmittel zu kaufen. Vor fünf Jahren waren es noch 2 Mio. gewesen. Die New Yorker Organisation erwartet einen harten Winter. Mit den beiden jüngst pleitegegangenen Banken Lehman Brothers und Washington Mutual hat sie die wichtigsten Geldgeber verloren.
Verdreifacht hat sich im letzten halben Jahr die Nachfrage der Capital Area Food Bank in Washington D. C. Immer mehr Leute fahren mit teuren Autos bei einer Essenausgabestelle in Plano, Texas, vor › ein klares Indiz, dass sich die Hungerkrise auf jüngst entlassene Büroangestellte ausweitet.
Der Staat hat zu wenig Geld, um rasch Abhilfe zu schaffen. Finanzkrise und Rezession rissen tiefe Löcher in die Kassen der Teilstaaten und der Bundesregierung. So ist der Kaufwert der Lebensmittelmarken, die 27 Mio. Amerikaner beziehen, um rund 10 Prozent abgesackt. Die 95.64 Dollar pro Monat reichen allzu selten aus, ihren Hunger zu stillen. Anrecht auf die Marken und kostenlosen Lunch in der Schule hat eine vierköpfige Familie, wenn deren Jahreseinkommen weniger als 26 845 Dollar beträgt.
Es wird unwahrscheinlicher, dass der designierte US-Präsident Barack Obama ein zentrales Wahlkampfversprechen einlösen kann. Bis 2015 wollte er Hunger unter Amerikas Kindern ausmerzen. Zumindest hat Präsident George W. Bush letzte Woche die Unterstützung für Arbeitslose ausgeweitet, von 26 auf 33 Wochen. Wer in einem Staat wohnt mit über 6 Prozent Arbeitslosigkeit, der kann 46 Wochen stempeln. Durchschnittlich zahlt die Versicherung 292 Dollar pro Woche aus. Zahlte der Staat Florida im Jahr 2001 noch einen staatlichen Zuschuss von 940 000 Dollar sowie vier Vollzeitstellen an Farm Share, erhält Patricia Robbins dieses Jahr nur noch 200 000 Dollar und keine bezahlte Stelle mehr. «Der Staat gibt immer weniger aus und muss immer mehr Hungrige ernähren», sagt Robbins. Deshalb muss sie ihr Programm schrumpfen. Verteilte sie letztes Jahr noch 22 Mio. Pfund Esswaren, sind es dieses Jahr noch 15 Mio.
Vermehrt springen Supermarktketten in die Bresche. Sie verschenken essbare Lebensmittel, die sie nicht mehr verkaufen können. So stiftet der Detailhandelsriese Walmart allein in diesem Jahr 40 000 Tonnen Esswaren an Feeding America, die grösste Hungerhilfeorganisation der USA. Um die enormen Mengen haltbar zu lagern, verschenkt Walmart zusätzlich Tiefkühltruhen. Kostenlos bauen Walmart-Angestellte Gestelle auf. «Wir sind eine robuste Firma», begründet eine Sprecherin die Spenden. «Wir können es uns leisten, Menschen in Not zu helfen.»