«Wir sollten ihn Präsident nennen»

Der amerikanische Finanzminister Henry «Hank» Paulson ist zu einer dominierenden Figur derZeitgeschichte aufgerückt. Seine Massnahmen zeugen von Pragmatismus. Er steuert durch eine Krise, die ernst, aber nicht einzigartig ist.

Von Peter Hossli und Tobias Straumann

paulson.jpgEs war Donnerstag früh vergangener Woche in Washington. Ein kurzer Blick auf den Monitor versetzte Henry Paulson in Atemnot. Trader hatten vor Börsenstart Verkaufsaufträge im Umfang von 500 Milliarden Dollar verbucht. Käufer gab es kaum. Dies würde einen Kurssturz von 22 Prozent bewirken, hatten die Computer des Finanzministers der USA berechnet. So viel wie zuletzt am schwarzen Montag im Oktober 1987.

Lange überlegte Paulson nicht. Am Telefon mit Notenbankchef Ben Bernanke entschied er, 105 Milliarden Dollar in den Markt zu pumpen. Die Feuerwehrübung glückte, die Börse endete am Ende des Tages im Plus. «Paulson wandte Armageddon ab», kommentierte hernach ein Finanzanalyst. Die milliardenschwere Finanzspritze reichte jedoch nicht, die globalen Finanzmärkte nachhaltig zu beruhigen. Am Donnerstagabend eilten Bernanke und Paulson auf den Hügel, in das Capitol, in dem der US-Kongress tagt. Den sichtlich überforderten Parlamentariern legten sie einen Rettungsplan vor, der es in sich hat. Der Staat, forderten der Finanzminister und der Notenbankchef, müsse für eine Billion Dollar faule Hypotheken übernehmen. Allzu viel Verhandlungsspielraum existiert angesichts der Wucht der Krise nicht mehr. Dennoch ist Paulson gefordert, wenn er die staatliche Finanzspritze diese Woche durch den Kongress bringen will. «Niemand versteht davon so viel wie Paulson», sagt ein Demokrat, «wir sollten ihn Präsident Paulson nennen.»

Zerstörer der Reagan-Revolution

Derweil schrumpften der gewählte Präsident und seine beiden potenziellen Nachfolger zu Zwergen. Verlegen schauten George W. Bush wie John McCain und Barack Obama letzte Woche zu, wie Henry «Hank» Paulson über sich hinaus zum Supermann der globalen Finanzkrise emporwuchs. Banken schlingerten, Aktienkurse stürzten in den Keller – und weltweit warteten Politiker wie Konzernchefs händeringend auf einen Befreiungsschlag des62-jährigen kantigen Kahlkopfs. Und sie bekamen in kurzer Kadenz geliefert, was sie sich vielleicht nicht einmal vorzustellen trauten.

Vergangenen März orchestrierte Paulson den Verkauf der Investmentbank Bear Stearns. Im Frühjahr überzeugte er Bush auch davon, den US-Steuerzahlern 168 Milliarden Dollar zu schicken, um ihre Konsumlust anzukurbeln und die schleppende Konjunktur zu beleben. Ohne Rücksprache entschied er vorletztes Wochenende, Lehman Brothers pleitegehen zu lassen, den Versicherungsriesen AIG aber zu retten. «Hank ist der hyperaktivste Handwerker, der versucht, Probleme sofort zu reparieren und dann weiterzugehen», sagte Ökonom Allan Hubbard der New York Times. Er ist, so viel scheint klar, der Krisenmanager der Stunde. Der Mann, von dem Politiker wie Banker einen Ausweg aus dem drohenden Crash des globalen Finanzsystems erhoffen. Das sind Zeiten, in denen Geschichte geschrieben wird. «Ich glaube an die Märkte», sagte Paulson dem US-Wirtschaftsmagazin Fortune, «ich glaube aber auch, dass es eine Rolle für den Staat gibt.» Vernünftige, wenn auch unerwartete Sätze aus dem Munde des ehemaligen Chefs der erfolgreichsten Investmentbank der Welt, Goldman Sachs. Und auf die Worte folgten Taten: Paulson brachte das Weisse Haus wie auch den Kongress dazu, darüber Rechenschaft abzulegen, wo genau zwischen diesen beiden für einen Wirtschaftsliberalen sich ausschliessenden Polen in der Krise die richtige Balance liegt. Dafür erntet er nicht nur Beifall. Konservative, die sich von Bush eine Minimierung der Staatsquote erhofft hatten, sehen in Paulson den Zerstörer der Reagan-Revolution. «Paulsons Vorschlag vernichtet den freien Markt und bringt den Sozialismus nach Amerika», sagt der republikanische Kongressabgeordnete Jim Bunning.

Bereits am College fiel Paulsons Lust an der Aggressivität in der Not auf. Ohne Rücksicht auf Verluste pflegte er als Football-Spieler auf die gegnerische Torlinie zuzustürmen. Lag sein Team im Rückstand, ersprintete er öfter den entscheidenden Touchdown. Anerkennend riefen ihn Mitspieler wie Gegner «Hank the Hammer». Nach dem Wirtschaftsstudium an der Harvard University diente er im Pentagon, danach zwei Jahre lang als Assistent von US-Präsident Richard Nixon im Weissen Haus. Schon damals soll er selten weniger als neunzig Stunden die Woche gearbeitet haben. Legendär sind seine Gottesfürchtigkeit und seine Passion für Vögel, aber auch sein Eifer und Einsatz, von dem die Überwindung der Krise nun abhängt. Und er weiss aus eigener Anschauung, worum es geht. 1974 heuerte er bei Goldman Sachs an, und zwei Dutzend Jahre später hatte sich Paulson vom Juniorpartner zum Chef hochgerackert. Wem soll die Finanzwelt heute vertrauen, wenn nicht einem Mann aus solchem Holz?

Das Hirn hinter dem Hammer ist Ben Bernanke, der im Februar 2006 Alan Greenspan als Notenbankchef beerbt hat. Zuvor hatte der Ökonom an der Princeton University ein Labor zur Analyse von Finanzblasen aufgebaut. Sein Spezialgebiet: die Grosse Depression nach dem Crash von 1929. Bernanke, im Herzen ein Feind der Inflation, beschuldigt die damalige Notenbank und das Finanzministerium der Inaktivität. Hätten sich beide dem Geldwertzerfall mit aggressiven Zinskürzungen entgegengestemmt und so die Konjunktur angekurbelt, ist Bernanke überzeugt, wäre die Grosse Depression verhindert worden.

Nach diesem Drehbuch agierte das Duo Paulson/Bernanke vergangene Woche. Sie pumpten billiges Geld in die Märkte und nahmen damit eine Preisspirale in Kauf. «Nicht zu handeln», sagt Paulson, «wäre teurer.» Er wähnt sich in einem historischen Kampf.

Eine lange Bremsspur

Wenn die Finanzkrise wütet, sind geschichtsträchtige Analogien schnell zur Hand. Was aber ist heute anders als in den Krisenjahren 1907, 1929 oder 2001? Was ist historisch, was Ausdruck des systemimmanenten Auf und Ab der Finanzmärkte?

Immobilienkrisen gab es immer schon, in der Schweiz zuletzt in den frühen neunziger Jahren. Auch die Grosse Depression in den USA war zum Teil auf den Zusammenbruch eines Immobilienbooms zurückzuführen. Die USA haben ihre bislang letzte Immobilienkrise in den 1980er Jahren erlebt, als die Hälfte aller Spar- und Leihkassen bankrott ging. Der Staat musste damals eine Menge Geld einschiessen, erhielt aber später, als die Krise überwunden war, rund drei Viertel wieder zurück.

Zunächst bedeutet dies, dass die Bereinigung der aktuellen Krise Zeit in Anspruch nehmen wird. Ein Crash im Immobilienmarkt hinterlässt in jedem Fall eine lange Bremsspur, da die reale Wirtschaft stark von den Hypothekarkreditmärkten abhängt. In der Schweiz hat dies dazu beigetragen, dass die erste Hälfte der neunziger Jahre eine Zeit der wirtschaftlichen Stagnation war. Die Bereinigung der letzten amerikanischen Immobilienblase nahm zwanzig Jahre in Anspruch, bis der Staat für die letzten Schuldpapiere einen Käufer fand.

Auch die Ursache des gegenwärtigen Krisenbilds fühlt sich aus historischer Perspektive vertraut an. Nicht umsonst titelt der amerikanische Wirtschaftshistoriker Michael Bordo: «The Same Old Story, Only the Players Have Changed». Eine Blase entsteht, wenn verschiedene Ingredienzien zusammenkommen. Die Finanzmärkte müssen liberalisiert sein. Das war von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre der Fall und zunehmend wieder seit den 1970er Jahren. Die Folge waren sehr viele Krisen im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und auch wieder seitden siebziger Jahren. Vor 1940 zählen wir Börsenpaniken in den Jahren 1857, 1873, 1893, 1907 und die Grosse Depression, die «Mutter aller Krisen». In jüngster Zeit hatten wir die Schuldenkrisen der frühen 1980er Jahre, die «savings and loan crisis» in den späten Achtzigern, jene in den frühen neunziger Jahren in Skandinavien und die Krise des europäischen Währungssystems 1992 sowie den Immobiliencrash und die anschliessende Deflation in Japan in den Neunzigern, die Mexiko-Krise 1994/95, die Asien-Russland-Brasilien-Krise 1997/98, das Platzen der Internet-Blase 2001 und nun 2008 eben wieder einmal einen Immobiliencrash.

Phasen tiefer Zinsen

Stark regulierte Märkte verhindern derartige Überhitzungen. In den fünfziger und sechziger Jahren war dieses Phänomen an den Finanzmärkten nahezu unbekannt. Nach der Weltwirtschaftskrise in den Dreissigern und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Staat die Banken und den internationalen Kapitalverkehr an die Kandare genommen und reguliert. In den 1970er Jahren, als sich das Weltwirtschaftswachstum stark verlangsamte, schlug das Pendel Richtung Liberalisierung zurück: Es herrschte die Meinung vor, Finanzsystem und Wirtschaft seien aufgrund zahlreicher Kontrollsysteme ineffizient und träge geworden. Die Märkte wurden dank Liberalisierung zwar wieder dynamischer und innovativer, freilich zum Preis stärkerer Volatilität der Finanzmärkte.

Krisenfördernd wirken auch längere Phasen mit billigem Geld. Daraus wächst die Nachfrage nach riskanten Geschäften. In Zeiten tiefer Zinsen sind Staats- oder Unternehmensanleihen für den Anleger nicht attraktiv, (zu) viel liquides Kapital sucht nach Rendite. Die zwanziger Jahre bis zum Börsencrash von 1929 und die neunziger Jahre bis zum Platzen der Dotcom-Blase sind Phasen tiefer Zinsen. Hinzu kommt fast immer eine tiefe Inflation, was bedeutet, dass die Zentralbanken einen guten Job gemacht haben. Tiefe Zinsen aber verführen zur Hoffnung, dass dies auf längere Sicht so bleiben könnte. Ein Trugschluss. Jede Hochkonjunktur führt irgendwann einmal zu steigenden Preisen, und die Zentralbanken müssen dann mit Zinserhöhungen reagieren.

Ein weiterer Bestandteil sind (Finanz-)Innovationen, welche Marktteilnehmern das Gefühl vermitteln, in einem neuen Zeitalter zu leben, in welchem die tradierten Gesetze der Ökonomie ausser Kraft gesetzt sind. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war es beispielsweise das Radio, welches die Fantasie der Anleger beflügelte; in der zweiten Hälfte der Neunziger das Internet und eine New Economy, für die der Begriff «Rezession» zum Fremdwort wurde. 2008 waren es Derivate, welche Hypothekarkredite bis zur vermeintlichen Risikolosigkeit zu zerlegen imstande waren.

Kein Vergleich zur Grossen Depression

Dennoch ist die aktuelle Krise keineswegs die grösste der vergangenen hundert Jahre. Auf Rang eins dieser Liste ist und bleibt die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. In den USA schrumpfte das reale Bruttoinlandprodukt damals um 30 Prozent, die Industrieproduktion um rund 50 Prozent, die Arbeitslosigkeit stieg auf 25 Prozent. Von den 24 000 Banken, die 1929 existierten, kollabierten 10 000. In der Schweiz traf es damals zwei Grossbanken. Die Schweizerische Volksbank wurde durch Bund und Nationalbank gerade noch gerettet, die Genfer Diskontbank ging unter.

Sicher ist, dass für die damalige Krise eine verfehlte Geldpolitik und ein archaisches Währungssystem wie der Goldstandard mitverantwortlich waren. Die Währungshüter blieben (zu) passiv, erkannten die Gefahr nicht, hofften auf eine schnelle Gesundung der Märkte.

Aus den Fehlern von damals haben wir gelernt und sind dadurch gefeit gegen eine Wiederholung. Ohne historisches Vorbild sind heute jedoch Ausmass und Verschachtelung von Schulden und Opfer. Das sind Gründe zur Beunruhigung. Das Ausmass der Verschuldung erreicht 9,6 Billionen Dollar. Im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt der USA möglicherweise ein historischer Rekord.

Besorgniserregend und ebenfalls rekordverdächtig ist in jedem Fall die Verschachtelung der Schulden. In den Krisenjahren 1907 und 1929 existierten zwar ebenfalls Finanzgesellschaften, die ihre Geschäfte mit bis zu neunzig Prozent Fremdkapital betrieben hatten. Doch damals war noch sichtbar, welche Werte hinter den Wertpapieren standen. Dies ist bei Derivaten ungleich schwieriger.

Neu ist auch, dass die grossen Investmentbanken und Versicherungen zu den prominenten Opfern gehören. In den 1930er Jahren waren es hauptsächlich Spar- und Leihkassen, Lokal- und Regionalbanken sowie Investmentfonds, die damals im Gegensatz zu den marktbeherrschenden Banken in den Strudel hineingezogen wurden.

Aus der Geschichte lässt sich dennoch ableiten, dass wir heute mit einiger Sicherheit keineswegs Zeuge eines wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels werden. Es ist zwar eine neue regulatorische Welle zu erwarten, das Ende des liberalen Finanzmarktes bedeutet dies jedoch kaum. In der Vergangenheit hat erst die Kombination von Grosser Depression und Zweitem Weltkrieg dazu geführt, dass der Staat eine starke Kontrolle über das Finanzsystem ausüben konnte. In den 1970er Jahren drehte die Stimmung, und zudem führten der wachsende Welthandel und die daraus resultierenden grösseren regulatorischen Lücken dazu, dass es kaum mehr möglich war, das Finanzsystem auf internationaler Ebene vollständig zu zügeln.

Heute existiert lediglich ein Vorbehalt: Sollte der Plan von Henry Paulson scheitern, lauern grosse Gefahren. Dies ist mehr als nur eine theoretische Eventualität, da der Staat keine direkte Beteiligung an den notleidenden Banken anstrebt, sondern diesen die faulen Kredite abkaufen und später weiterverkaufen will. Ein unübliches Vorgehen: Die schwedische Regierung hat in den frühen neunziger Jahren, wie in der Vergangenheit auch die USA, die Krise unter anderem mit einer Bankbeteiligung über Vorzugsaktien («preferred stocks») bewältigt. Paul Krugman, der amerikanische Universalgelehrte, hat in jüngster Zeit wieder auf diesen Aspekt hingewiesen. Dass Paulson diese historische Erfahrung ignoriert, muss nachdenklich stimmen.

Das Modell der vorübergehenden staatlichen Bankbeteiligung hat sich bewährt. Die schwedische Regierung konnte durch ihr zeitlich begrenztes Engagement am Ende sogar einen Gewinn verbuchen.