Von Peter Hossli
Frühmorgens im Aufzug in Dumbo, einem Quartier in Brooklyn mit Sicht auf den Finanzdistrikt. Die Liftpassagiere halten dampfende Kaffeebecher in den Händen. «Hallo», sagt ein Schnauzträger zum grauhaarigen Kumpel, «wie geht es deiner Pensionskasse heute?» Eine junge Frau lacht verlegen, zwei ältere Männer erstarren. «Hey, ich werde wohl ein paar Jahre länger arbeiten als geplant.» Einen Tag zuvor auf einem Spielplatz in Brooklyn Heights. Kinder schaukeln. Babys kreischen. Mütter tratschen, jedoch nicht über die ersten Schritte des Juniors. Eine erzählt von ihrem Mann, einem Investmentbanker bei Merrill Lynch, der um den Job fürchtet. Eine muss wegziehen, weil der Hedge Fund ihres Gatten schliesst. Eine dritte klagt, sie könne die Gebühren für die Privatschule beider Töchter nicht mehr zahlen. «Unser ganzes Vermögen steckt in unserem Haus, und das ist bald weit weniger wert.»
Letzte Woche geriet New York in Schock. «Es ist Megapanik-Stimmung», sagt ein New Yorker UBS-Banker. Börsen krachten, alteingesessene Finanzkonzerne wie Lehman Brothers und AIG verschwanden oder wurden sozusagen verstaatlicht. Die amerikanische Regierung lancierte das umfangreichste Rettungsprogramm seit der Depression. Bürgermeister Michael Bloomberg, der einst an der Wall Street reich wurde, warnte die Einwohner: «Noch ist das Schlimmste nicht vorbei.» Just gemahnte er die Finanzkonzerne, die Tausende von Leute entlassen müssen: «Tut das woanders als in New York.»
Bloomberg weiss: Es wäre kata-strophal für die Metropole am Hudson River. Hüstelt die Wall Street, geht ein altes Sprichwort, schlottert New York. Nun ist die Wall Street krank, und Analysten sehen die düsteren Siebzigerjahre am Horizont aufziehen. Hoch verschuldet waren damals Stadt wie Staat New York. Die Strassen gehörten den Gangstern. Zuerst zerfielen Häuser, dann ganze Quartiere. Jobs gab es wenige. Die Wall Street bescherte New York in den Neunzigerjahren eine unverhoffte Renaissance mit niedriger Kriminalität, explodierenden Immobilienpreisen und Vollbeschäftigung.
Hochfinanz zahlt jeden dritten Lohn
Mehr als ein Drittel, rund 35 Prozent, der Saläre New Yorks zahlt mittlerweile die Hochfinanz. An jeder Stelle im Nadelstreifen-Sektor hängen zwischen drei und vier Jobs, seien es Fahrer der Bankers oder Wäscherinnen, die Hemden bügeln, oder die Ferrari-Händler. New Yorks Schönheitschirurgen verlören derzeit en masse Kundinnen, berichtete das «Wall Street Journal», ebenso Kaviarhändler und Juweliere. Ein Investor, so das Blatt, annullierte nach der Lehman-Pleite den Bau einer 25 Millionen Dollar teuren Jacht. Exquisite Restaurants, die in der Nähe der Wall Street den Hamburger für über 100 Dollar servieren, entlassen derweil Kellner und Köche.
Der durchschnittliche Verdienst in der Finanzbranche – laut «New York Times» 280 000 Dollar jährlich – ist fünfmal höher als der Durchschnittslohn aller anderen Angestellten New Yorks. Geld, das der Stadt bald fehlen wird. Bis Ende August verloren 25 000 Banker in Manhattan den Job. Die Lehman-Pleite dürfte nochmals rund 12 000 auf die Strasse treiben. Merrill Lynch und AIG bauen Jobs ab, ebenso die beiden verbliebenen unabhängigen Investmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley. Schätzungen gehen bis Ende Jahr von einem Minus von 50 000 Stellen im Finanzsektor aus. Gefährdet wären demnach weitere 200 000 Jobs im Grossraum New York.
Etwa an der Madison Avenue, wo die Büros der Werbeagenturen sind. Hier geht derzeit mancher mit gesenktem Kopf über die Strasse. Neun Milliarden Dollar oder sechs Prozent des US-Werbekuchens steuert der Finanzsektor bei. Der Versicherungsriese AIG gab 2007 fast 120 Millionen Dollar für Werbung aus. Merrill Lynch, letzte Woche von Bank of America geschluckt, schaltete Inserate und Werbespots für 37 Millionen Dollar. Verschmerzen kann die Werbebranche das Ende von Lehman Brothers. Deren Werbebudget betrug 1,2 Millionen Dollar.
Um Steuereinnahmen bangt die Stadt. Gewinne der Banken und Abgaben des Personals machen zehn Prozent der städtischen Einnahmen aus. Verlieren 1000 Finanzleute den Job, verliert der Fiskus 50 Millionen Dollar. Um mehrere Milliarden Dollar dürfte daher die Stadtkasse einbrechen.
Selbst die Immobilienhändler, sonst ewige Optimisten, zittern. «Wir verkaufen weniger, bald sinken wohl die Preise», sagt Pamela Liebman, Chefin der Immobilien-agentur Corcoran. Dabei gilt der Häusermarkt New Yorks als unverwüstlich. Fielen landesweit die Preise, stiegen sie hier noch bis vor kurzem. Fast an jeder Ecke wachsen Wohntürme mit luxuriösen Behausungen in die Höhe. Mit dem Jahresendbonus schnappen sich Investmentbanker jeweils eine oder gleich mehrere davon. Letzten Montag, als der Dow Jones Index um 504 Punkte absackte, sollen Banker ihre Sommervillen an der Küste zum Verkauf angeboten haben, sagt Liebman. «Noch zieht niemand ins Zelt.»