Von Peter Hossli und Claude Baumann
Am letzten Sonntag erhielt die Investmentbank Lehman Brothers einen Übernamen: «Dead Bank Walking». Der Grund: Übers Wochenende hatte niemand die faulen Lehman-Darlehen schlucken wollen. Ergebnislos endeten die zähen Verhandlungen zwischen den US-Behörden und führenden Vertretern der Finanzwelt. So blieb nur noch der Gang vors Bankrott-Gericht unter dem Chapter-11-Verfahren wird die Bank nun liquidiert.
Aus dem Lehman-Glasturm an der Sixth Avenue in Manhattan strömten alsbald Hunderte von Bankern in Freizeitkleidung. Sie trugen Kartonschachteln weg, vollbepackt mit ihren persönlichen Utensilien. Sie wussten: Statt morgen ins Büro zu gehen, würden sie ihren Lebenslauf aufpolieren und an die Personalabteilung anderer Banken schicken. Weltweit befinden sich seither 25 000 Mitarbeiter von Lehman Brothers auf Jobsuche.
Zu Ende war der Tag damit aber noch nicht. Später wurde bekannt, dass eine weitere, hochangesehene Wall-Street-Institution ihre Unabhängigkeit verlor: Als Opfer der Kreditkrise ging Merrill Lynch für 50 Milliarden Dollar an die Bank of America. Bei Merrill Lynch sind es 60 000 Beschäftigte, die nun um ihren Job bangen. Hatte es am Freitag noch vier unabhängige US-Investmentbanken gegeben, waren es am Montag bloss noch deren zwei: Goldman Sachs und Morgan Stanley.
«Das Finanzministerium musste den Rettungsaktionen einen Riegel schieben», erklärt John Coffee, Bankenexperte an der Columbia University. Oder mit anderen Worten: Die Lehman-Pleite war für Henry Paulson offensichtlich weniger gravierend, als das Ende der Investmentbank Bear Stearns und der Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac. Alle drei Finanzhäuser hatte Finanzminister Paulson zuvor mit staatlichem Geld gestützt. «Hätte er nun auch noch Lehman Brothers gerettet, wären Merrill Lynch und alle andern bedrohten Finanzinstitute mit hohler Hand dagestanden.» Nach den Banken hätte die Regierung die strauchelnden Airlines und die Automobilindustrie retten müssen.
Paulson lehnte die Rettung Lehmans ab, «weil er Corporate America nicht gefährden wollte», sagt John Coffee. Mit den Hiobsbotschaften ging es diese Woche gleich weiter: Zuerst stürzte die Börse massiv ab, dann wurde bekannt, dass der Versicherungsriese American International Group (AIG) in allerhöchster Zahlungsnot war und das gleiche Schicksal der Sparkasse Washington Mutual drohte. All diese Informationen lösten Schockwellen an den Märkten aus und versetzten die Investoren in Panik. So stürzte die New Yorker Börse ab und zog alle internationalen Märkte in ihren negativen Bann.
Massiv unter Druck gerieten einmal mehr die Aktien der UBS. In der ersten Wochenhälfte büssten sie täglich gut fünfzehn Prozent an Wert ein. So etwas hatte es noch nie gegeben. Klar, dass dies eine Reihe von neuen und alten Fragen weckte: Droht nun doch der Kollaps? Reisst die Grossbank den Finanzplatz ins Verderben? Und schlittert am Ende gar die ganze Schweiz in eine Rezession? Vorderhand geben die Behörden und Auguren immer noch Entwarnung. Sie verweisen auf die stabile, breitabgestützte Wirtschaft in der Schweiz, auf den anhaltenden privaten Konsum und die Investitionsneigung in der Industrie. Im laufenden Jahr gehen etwa die Konjunkturforscher von BAK Basel Economics weiterhin von einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent aus.
Auch sehen viele Finanzanalysten bei der UBS keinen Grund zu neuerlicher Besorgnis. Zwar fiel die Aktie der Grossbank zu Wochenbeginn auf unter fünfzehn Franken. Der Auslöser dafür war aber eher psychologischer als fundamentaler Natur. In der Branche hiess es, die UBS sei bei Lehman Brothers mit enormen Positionen exponiert. Das Gerücht hielt sich so hartnäckig, dass die UBS gezwungen war, ihre entsprechenden Engagements offiziell mit 300 Millionen Dollar zu beziffern ein Pappenstiel, verglichen mit den vielen Milliarden Dollar, welche die Grossbank bisher schon abgeschrieben hat. In der Folge erholte sich der Kurs etwas. «Die Finanzwelt», sagt der St. Galler Ökonomieprofessor Peter Leibfried (siehe Interview Seite 13), «gehört trotz aller Zahlen und Methoden in die Sozialwissenschaften. In der menschlichen Interaktion ist viel mehr Psychologie im Spiel, als man meint.»
Tatsächlich geht in der Aufregung oft vergessen, dass beide Schweizer Grossbanken trotz ihrer nicht immer erfolgreichen Investmentbanking-Abenteuer den «wichtigsten Ertragspfeiler in der stabilen und lukrativen Vermögensverwaltung haben», sagt Peter Thorne, Finanzanalyst der Genfer Bank Pictet. Mit anderen Worten: Selbst eine massive Schrumpfung der Investmentbanking-Branche, wie sie zu erwarten ist, würde beide Schweizer Grossbanken nicht zu Boden bringen. Vorausgesetzt, dass sich die Konzerne entschiedener dem Wealth-Management zuwenden, der Betreuung grosser (Privat-)Vermögen. Damit liesse sich möglicherweise auch ein seit Jahrzehnten währender Konflikt innerhalb der Schweizer Grossbanken entschärfen: die kulturelle Aversion zwischen den Private Bankern in der Schweiz und den Investmentbankern in Übersee. Jahrzehntelang laborierten die Bankleute dies- und jenseits des Atlantiks selbst innerhalb des Unternehmens in einem extremen Misstrauensverhältnis zueinander. Das rührte zum einen daher, dass die Vermögensverwaltung die waghalsigen Engagements der US-Investmentbanker stets subventionierte. Zum andern ist die amerikanische Finanzkultur anders gepolt als die europäische. Die Geschäftsphilosophie in den USA beruht auf einer «Kaufmannskultur», die sich stark auf den Einzelfall, den «Deal» richtet im Gegensatz zur europäischen «Handwerkerkultur», wo der Handwerker nach fachlicher Perfektion strebt und sich als Mitgestalter versteht. Er übt nicht einen Job aus, sondern einen Beruf – öfters gar eine Berufung –, den er mit entsprechendem Pflichtgefühl erfüllt. Unterschiedlich ist dadurch die Wahrnehmung der volkswirtschaftlichen Rolle eines Unternehmens. In Europa gelten Firmen weniger als Anlageziele und Gewinnproduzenten, sondern als Hersteller von Gütern und Dienstleistungen sowie als Arbeitgeber.
Sehr lange haben die Schweizer Banken Milliarden von Franken nach Amerika verschoben. Entweder wollten sie im US-Geschäft als europäische Vorreiter Fuss fassen oder Verluste decken. Die Turbulenzen seit dem Sommer 2007 relativieren jetzt manches. Sie erweisen sich als Antithese dessen, was in der Finanzindustrie der letzten zwei Jahrzehnte fast unerschütterliche Gültigkeit besass: höher, grösser, weiter und immer noch mehr.
Inzwischen liegt die grösste Herausforderung für die UBS und die Credit Suisse in ihrer organisatorischen Dimension und Komplexität. War die Kreditkrise etwa ein Signal dafür, dass Finanzkonzerne mit mehr als 60 000 Beschäftigten eine kritische Grösse erreicht haben, die hinterfragt werden muss? Vieles deutet darauf hin, dass die Geschäftsstruktur mit den drei Sparten Private Banking, Investmentbanking und Asset Management, wie sie bei vielen Instituten ab Mitte der neunziger Jahre Einzug hielt, überdacht werden muss.
Möglicherweise beginnt eine Phase der Neuordnung in der Finanzwelt, weil kleinere Gesellschaften unter einem Holdingdach überblickbarer und wendiger sind. Dabei würde auch besser ersichtlich, wo und wie das meiste Geld verdient wird. Die Schweizer Grossbanken zählten seinerzeit zu den ersten europäischen Instituten, die ins amerikanische Investmentbanking einstiegen möglicherweise werden sie auch die Ersten sein, die sich daraus wieder verabschieden.