Nach einer nächtlichen Autofahrt von Maine nach Halifax fiel zuerst eine Schweizer Fahne auf. Sie flatterte im Regen auf Halbmast über einer Tankstelle. Entlang der Küstenstrasse, die sich nach Peggy’s Cove schlängelt, zeugten spontan aufgestellte Tafeln vom Mitleid der kanadischen Bevölkerung. «Swissair 111 – wir teilen die Trauer», hiess es, «Wir sind mit Euch». Kaum hatte eine örtliche Radiostation den fatalen Absturz von Swissair-Flug 111 vor Peggy’s Cove vermeldet, boten rund 5000 Menschen ihre Hilfe an.
Freiwillige brachten belegte Brote, Früchte und heissen Kaffee zur Unglücksstelle. Soldaten der Heilsarmee verpflegten müde Bergungsleute der kanadischen Küstenwache, Swissair-Leute sowie die rund dreissig Reporter, die im Sonderflug aus Zürich angereist waren. Hans Klaus, damals Pressesprecher der Swissair, erzählte, wie ein lokaler Taxifahrer nichts von ihm verlangte, als er erfuhr, warum er in Kanada war.
Der absurdeste Moment der ersten Tage nach dem Crash spielte sich während einer Pressekonferenz ab. Ein Reporter von Radio DRS sagte, ihm seien auf der Opferliste viele deutschschweizerische Namen aufgefallen, obwohl der Jet von New York nach Genf unterwegs war. «Stammte die Crew aus Zürich?», fragte er. Das riss im Nordosten Kanadas den Röschtigraben auf. «Es gab viel mehr Tote aus der Romandie», reklamierte ein welscher Radiomann. Minutenlang zankten die zwei.
Was in Halifax wirklich zählte, war am selben Tag im Hotel Lord Nelson zu beobachten. Arzt John Butt, der medizinische Ermittler, meisterte die schmerzliche und schwierige Pflicht, rund 300 angereiste Angehörige der 229 Passagiere zu informieren. «Leichen wird niemand sehen», sagte er so sachlich wie aufrichtig. «Vermutlich hat sie eine Explosion in Stücke gerissen.» Butt brach in Tränen aus. Familienmitglieder sanken in die Knie. Andere besänftigte die makabre Information. Sie hatten nun Gewissheit, dass ihre Liebsten nur kurz litten. Der Tod trat vor Halifax sofort ein.
Er ist häufiger Gast in dieser kalten Ecke am Atlantik. «City of Sorrow» lautet der Übername der Provinzhauptstadt von Neuschottland, Stadt der Trauer. Rund 5000 Schiffe zerschellten an oder sanken vor den zerfurchten Küsten. 150 Opfer der Titanic sind auf dem Friedhof von Halifax begraben. «Jetzt hat das Meer noch ein Swissair-Flieger geschluckt», sagte sarkastisch einer der sechzig Bewohner von Peggy’s Cove.
Gespenstische Ruhe umhüllte das schmucke Fischerdorf, fünfzig Kilometer entfernt von Halifax. Nur wer direkt mit dem Unfall zu tun hatte – Bergungs- und Medienleute, Behörden, Helfer – durfte zum Felsen, auf dem ein weissroter Leuchtturm thront. Gleich daneben hielt das Rote Kreuz Blumen bereit für Angehörige. Da die Klippen steil abfallen, warfen zur Sicherheit Soldaten die Sträusse ins eisigkalte Meer. Damit Freunde und Verwandte der Opfer etwas nach Hause tragen konnten, füllte eine Rot-Kreuz-Helferin Meerwasser in Glasflaschen ab. «Das ist wichtig, um den jähen Verlust zu akzeptieren», sagte sie.
Anfang September liegt hier oft dichter Nebel über der felsigen Küste. Als die Angehörigen in Halifax landeten, regnete es. Kurz darauf verzogen sich die dunklen Wolken. Strahlt die Sonne, ist ein prächtigerer Fleck als Peggy’s Cove kaum vorstellbar. «Es ist schön zu wissen, dass mein Vater und meine Mutter an diesem einzigartig friedlichen Ort starben», sagte Claire Mortimer, die aus Kalifornien angereist war. Später fand sie in einem Hangar der kanadischen Navy die Geldbörse ihres Vaters. Sie lag zwischen unzähligen Überbleibseln des Unglückfliegers, welche die Küstenwache auf dem Meer in einem Radius von 160 Kilometern fand.
Dem medizinischen Ermittler lieferte Claire Mortimer gleichentags einen Haarbüschel ab. Andere Angehörige liessen Blutproben zurück. Anhand dessen identifizierten in der kanadischen Hauptstadt Ottawa Spezialisten die geborgenen Leichenteile. Bis dahin wurde nie zuvor derart viel genetisches Material vergleichen und zugeordnet.
Einen Monat nach dem Crash war ich erneut in Peggy’s Cove. Über dem zuvor bedächtigen Ort lag nun eine sonderbar frivole Stimmung. Vierzig Touristenbusse fuhren täglich vor. «So viele wie vor dem Crash», sagte Fischer Murray Garrison, der beim Schiffsteg eine kleine Beiz betrieben hatte. Er servierte frisch gefangenen Hummer, tat das aber mit Unbehagen. Beim Essen blickten seine Gäste auf zwei Kriegschiffe, von denen aus Taucher nach Flugzeugteilen suchten. Sonst zeugte wenig vom Unfall. Helfer wie Reporter waren weg. Ein älteres Ehepaar füllte eine Flasche mit Meerwasser ab und warf Rosen ins Meer. Die beiden waren erst jetzt gekommen, weil sie wochenlang nichts vom Crash wussten. Auf ihrer Chinareise lasen sie keine Zeitung.
Die Crash-Spezialisten waren längst in Ottawa, um die Unglücksursache zu finden. Da waren nur noch die Bewohner von Peggy’s Cove. «Wir bleiben», sagte Fischer Garrison, «mit dem Meer und den 229 Toten.»
Swissair 111: Was geschah
Am Abend des 2. September 1998 startete am New Yorker Flughafen John F. Kennedy eine MD-11-Maschine der Swissair. Der Jet trug das Wappen des Kantons Waadt, die Flugnummer lautete SR 111, der Zielflughafen war Genf. An Bord waren 229 Menschen aus 21 Ländern. 14 Personen gehörten der Crew an. 53 Minuten nach dem Start bemerkte Pilot Urs Zimmermann Rauch im Cockpit. Er versuchte, Halifax anzufliegen, musste vorher aber Kerosin ablassen. Um 22.31 stürzte die Maschine acht Kilometer vor Peggy’s Cove in der kanadischen Provinz Neuschottland ins Meer. Der Crash bewegte die Schweiz wochenlang. Die Untersuchung der Ursachen zog sich bis ins Jahr 2003 hin und kostete fast 40 Millionen Dollar. Das vage Fazit: Ein Kurzschluss – ausgelöst durch die gebrochene Isolierung eines Kupferkabels hinter der Cockpitverkleidung – hatte die Thermoschallisolation entzündet. Das Kabel versorgte das Unterhaltungssystem des Fliegers mit Strom.
Bilder: Yvon Baumann
Weiterlesen:
Das letzte Adieu, Facts, 10. September 1998
Der letzte Kampf von Raging Bull, Facts, 17. September 1998
Allein mit dem Meer und den Toten, Facts, 1. Oktober 1998
Die Firma fürs Grobe, Facts, 1. April 1999