Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Bild)
Hastig wühlt Imelda Caluag in der Plastiktasche. Sie zieht Socken, Slips und Sandalen hervor, bis sie findet, was sie zeigen will – ihren Fernseher. Dessen Monitor gibt schwarzweisse Bilder wieder und misst diagonal 22 Zentimeter. «Er verleiht mir das bisschen Würde, die mir zusteht», sagt sie. «Sehe ich fern, vergesse ich, wo ich bin.»
Sie ist Maklerin für Mobilheime und lebt seit Januar unter einer Ulme in einem Zelt. «Mein Markt brach einfach weg, die Banken hörten auf, meinen Kunden neues Geld zu leihen.» Monatlich sechs Häuser verkaufte Caluag, bis die kolossale Kreditkrise den finanziellen Fluss abwürgte. Erst verloren ihre Klienten das Zuhause. Dann konnte sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen. Ihr Mobilheim kam unter den Hammer, die 40-jährige Maklerin war obdachlos.
Freunde kauften ihr ein Zelt und brachten sie nach Tent City, zum augenscheinlichsten Ort der US-Immobilienkrise. Rund 200 Menschen hausen hier in 149 grünweissen Polyesterzelten, welche die Stadt Ontario ausserhalb von Los Angeles errichtet hat – als Reaktion auf ein wild wucherndes Zeltdorf mit einst 600 Bewohnern. Sie duschen unter freiem Himmel, kochen auf offenem Feuer, betreiben Fernseher mit Autobatterien. Kirchen bringen ihnen Esswaren.
Stellvertretend campieren sie für Millionen zahlungsunfähiger Familien, deren Häuser zwangsversteigert werden. Nie mehr seit der Depression der Dreissigerjahre verloren so viele Amerikaner ihr Haus. Um 53 Prozent war im Juni die Zahl der Enteignungen gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 2,7 Millionen Subprime-Kreditnehmer müssen ausziehen, sagt die Credit Suisse. Der Kongress stellt 300 Milliarden Dollar in Aussicht, um weitere zwei Millionen Beschlagnahmen zu verhindern. Um 3,5 Billionen Dollar ist seit Frühjahr 2006 der Wert von Amerikas Eigenheimen gesunken, so die Ratingagentur Moody’s. Bis Ende Jahr sollen die Hauspreise nochmals um fünfzehn Prozent fallen.
Da das marode US-Sozialwesen solches Leid nicht auffängt, droht vielen, was Caluag widerfahren ist – der Fall in die Obdachlosigkeit.
Sie wählt eine Nummer. Nach einem kurzen Gespräch wählt sie die nächste, dann noch eine. «Es ist unmöglich, Arbeit zu finden», sagt sie und beisst in ein Sandwich. «Sobald jemand hört, ich hätte keine Adresse, hängt er auf.» Sie stoppt, weil sie das eigene Wort nicht mehr hört. Eine startende Boeing 757 peitscht über sie hinweg. Camp Hope, so der inoffizielle Name der Zeltstadt, liegt in direkter Verlängerung zur Startbahn des Flughafens.
Gleich daneben verlaufen die Schienen vom Frachthafen in Long Beach ins Landesinnere. Halbstündlich donnern die Lastzüge vorbei. Auf vielen Wagons stehen grüne Container, weiss beschriftet mit «China Shipping». Die chinesische Transportfirma liefert Güter, die längst nicht mehr in den USA produziert werden. «Vom Zelt aus sehen wir zu, wie auf den Gleisen der amerikanische Schuldenberg wächst», sagt Ronda Farnsworth, eine kräftige 38-jährige Rechtsstudentin. Vor dreissig Jahren kaufte ihre Mutter ein Haus unweit von Ontario. Letztes Jahr nahm sie darauf einen Kredit auf bei New Century, einer Bank, die risikoreiche Subprime-Hypotheken ausstellt. Kurz darauf machte New Century Pleite. Ihr Haus kam in die Konkursmasse und wurde für 8000 Dollar versteigert. Da Farnsworth Geld schuldete, blieb ihr nichts übrig.
Eine Blache hält bei ihrem Zelt den Regen fern. Sie hat einen Klapptisch aufgestellt, an dem ein Abfallsäckchen baumelt. «Um sechs weckt uns der Müllwagen», sagt sie. Frühmorgens ist es schon heiss, sie trägt rote Shorts, dazu ein ärmelloses Leibchen. Auf dem Gaskocher brät ihre Freundin Rühreier, Würstchen und Kartoffelpuffer.
Das Paar hat Glück. Es stammt aus Ontario. Konnte hier einst jeder ein Zelt aufschlagen, verschafft nun nur ein städtischer Ausweis Zutritt. Zwischen zehn Uhr nachts und sechs Uhr früh müssen alle im Zelt sein. Wächter der Privatfirma Securitas fahren nonstop in einem weissen Toyota Corolla entlang dem Maschenzaun, der den Platz umrundet.
Gemächlich latscht ein schlanker Kerl mit wehendem grauem Haar vorbei. Aus dem Gesicht lugen zwei bestechend schöne blaue Augen. Wie ein Filmstar sähe David Busch aus, würde er sich pflegen. Seit 1992 ist er obdachlos. Am Hals hängt ein Schild mit der Aufschrift «More Love». Der 53-Jährige bettelt, schreibt für Obdachlosen-Blätter und organisiert Proteste. Ein «wahres Wunder» nennt er das städtische Lager. «Amerika steckt in der grössten Wohnungsnot der Geschichte», sagt er. «Diese Zelte bringen das ans Licht.» Zumal etliche US-Städte das Modell bereits nachahmen. «Wir waren süchtig nach stetig steigenden Immobilienpreisen», sagt er. «Allein der Glaube, dass Häuser unaufhörlich an Wert zulegen, trieb die US-Wirtschaft an.» Nun erwache das Land verkatert. «Wir sind Immobilien-Alkoholiker.»
Lastzüge? Ich denke hier sind eher Güterzüge gemeint.
Zelte haben dünne Wände, die Verbindung zur Außenwelt ist näher. Hinter dicken Wänden kann man sich verstecken