Interview: Peter Hossli
Alan F. Westin ist emeritierter Professor der Columbia University, an der er während 37 Jahren öffentliches Recht und Staatskunde gelehrt hatte. Er gilt als führender Privatsphäre-Experte und hat weltweit zahlreiche Regierungen und Firmen beraten. Westin kam 1929 zur Welt und hat an der University of Florida Politologie und an der Harvard Law School Recht studiert. Er ist Autor und Redakteur von 26 Büchern.
Professor Westin, geht von Google die grösste Gefahr aus für unsere Privatsphäre?
Alan F. Westin: Google an sich stellt keine Gefahr für die Privatsphäre dar. Google ist die Triebfeder der Vorteile, die das Internet immer häufiger bringt. Aber wir sind gerade mitten drin, neue Regeln für die Privatsphäre innerhalb der von Google geprägten Welt auszuarbeiten.
Welche Kernpunkte bestimmen die neuen Regeln?
Westin: Junge Menschen sind häufig bereit, sehr rasch ihre privaten Informationen preiszugeben. Nie zuvor gab es ein Kommunikationsmittel wie das Internet, mit dem die Leute so einfach weltweit kommunizieren konnten. Es verführt dazu, eine enorme Menge von Informationen über sich selbst zu veröffentlichen.
Was motiviert die Leute, ihre Informationen auf Websites wie Facebook oder MySpace mit Fremden zu teilen?
Westin: Es ist eine Generationsfrage. Heute wachsen jungen Menschen problemlos in eine Kommunikationswelt hinein. Die Technologie, nicht Fragen um die Privatsphäre bestimmt wie diese Generation über das Kommunizieren nachdenkt. Zwar warnen Privatsphäre-Experten, dass Arbeitgeber oder Gesetzeshüter einfach sehen können, was ins Internet gestellt wird. Aber derzeit werten viele die freie Kommunikation höher als das Recht auf Privatsphäre.
Stärken oder schwächen neue Technologien die Privatsphäre?
Westin: Beides passiert. Anfänglich haben Technologien wie Lauschgeräte oder Computer hauptsächlich grossen Organisationen gedient, selten aber Einzelpersonen. Zuerst der Personal Computer, dann das Mobiltelefon und schliesslich das Internet führten einen Wechsel herbei. Technologie hat die Menschen gestärkt und ihnen Möglichkeiten gegeben, ihre Privatsphäre besser zu wahren, etwa mit Verschlüsselungssoftware.
Was ist Privatsphäre?
Westin: Privatsphäre wird oft als etwas schwer Fassbares beschrieben. Das trifft aber nicht zu. Privatsphäre bedeutet, dass jede Person ein Recht darauf hat, selbst zu entscheiden, an wen er wann welche Informationen preisgibt. Zudem beschriebe ich vier Zustände der Privatsphäre: Einsamkeit, Vertrautheit, Distanziertheit und Anonymität.
Wie wichtig ist für Sie die eigene Privatsphäre?
Westin: Für mich ist Privatsphäre extrem wichtig. Auf Facebook bin ich nicht. Ich will selber bestimmen können, was über mich veröffentlich wird. Das ist der Kern der Privatsphäre.
Warum ist es wichtig für Menschen, dass sie selber entscheiden können, was über sie bekannt ist?
Westin: Wir alle brauchen Ruhe. Um uns zu fangen, um zu reflektieren, um wichtige Entscheide zu treffen müssen wir immer wieder aus den Augen und den Ohren anderer verschwinden können. Es wäre extrem schädlich für Menschen, keinen Rückzugsmöglichkeiten in die Privatsphäre zu haben. Zudem besteht eine enge Verbindung zwischen Privatsphäre und Diskriminierung. In unserer Gesellschaft werden Informationen genutzt, um Rechte, Vorteile oder Möglichkeiten an Konsumenten, Bürger oder Angestellte zu verteilen.
Sie begannen in den fünfziger Jahren, sich mit der Privatsphäre wissenschaftlich zu befassen. Warum hielt Ihr Interesse am Thema während nun mehr fünf Jahrzehnten an?
Westin: Historisch gesehen kannte jede Gesellschaft mit einem hohen Grad an Freiheit stets das Recht auf Privatsphäre. Autoritäre Gesellschaften hingegen hinterfragen und bedrohen das Recht auf Privatsphäre ständig. Privatsphäre ist ein Teil der Geschichtsschreibung der Freiheit, wofür ich mich schwerwiegend interessiere.
Ihr erstes Buch über Privatsphäre erschien 1967, kurz nach der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ein Jahr später wurde Richard Nixon zum US-Präsident gewählt. Wie wichtig war – oder ist – Nixon für die Privatsphäre-Bewegung?
Westin: Er ist der Pate der Privatsphäre. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren sprach ich in Reden über die zahlreichen neue Probleme im Umfeld der Privatsphäre. Die Leute sagten, «das ist alles nur hypothetisch, wer wird denn Informationen sammeln und sie gegen irgendjemanden anwenden?». Mit Watergate dramatisierte Nixon das missbräuchliche Sammeln von Informationen. Ohne Watergate hätte 1974 der Privacy Act, das US-Gesetz für die Privatsphäre, nie verabschiedet werden können.
Dann war Watergate in den USA die Triebfeder für die Gesetzgebung der Privatsphäre. Was war der Antrieb in Europa?
Westin: Die Erinnerung an den Faschismus und die Nazis brachte zuerst in Schweden, dann in Deutschland und schliesslich in der ganzen EU die Einsicht, dass Privatsphäre ein Menschenrecht ist.
Wie unterscheiden sich die juristischen Ansätze in den USA und in Europa hinsichtlich Privatsphäre?
Westin: Die europäische Tradition orientiert sich weit mehr an spezifischen Regeln und Gesetzen. Während in den USA die laissez-fair Tradition vorherrscht. Wir sagen, «zeig mir zuerst den Schaden, wenn es nicht schadet, können es die Leute tun».
Sie analysieren die Privatsphäre-Rechte wohlhabender Menschen. Dabei betonen Sie, dass die Reichen und die Berühmten immer häufiger das Ziel grossangelegter Daten-Sammlung werden. Warum?
Westin: Es ist ein Paradox der Privatsphäre. Oft müssen Arme und Mittelständige sehr viel mehr preisgeben, um in den Genuss von staatlichen Dienstleistungen oder wirtschaftlichen Vorteilen zu gelangen. Die Reichen haben da wenig zu fürchten. Anderseits sind die Aktivitäten der Reichen und Berühmten seit Beginn der Zeitrechnung von enormem Interesse. Die Reichen und Mächtigen können sich in private Siedlungen zurückziehen und mit Privatflugzeugen fliegen. Gleichzeitig sind die ständig Zielscheibe der medialen Öffentlichkeit. Alle wollen wissen, wie sie ihr Geld ausgeben oder wie sie ihre Haare schneiden.
Wie können sich die Wohlhabenden schützen?
Westin: Sie müssen ständig auf dem Laufenden sein, was über sie gesagt wird, geschrieben und gezeigt wird. Immer mehr benutzen Dienstleistungen, die ihnen dabei helfen, und mit denen sie im Notfall reagieren können.
Die Reichen sind zudem dem Konflikt ausgesetzt zwischen dem Recht auf Privatsphäre und dem Interesse von Regierungen, Finanzinformationen zu sammeln und mit anderen zu teilen. Wie lösen Sie diesen Konflikt auf?
Westin: Seit dem Mittelalter in Venedig waren Wohlhabende in der Lage, ihr Geld ausserhalb der offiziellen Systeme zu verwalten. Seit dem Anfang von Finanzsystemen nutzen sie dafür Privatbanken und private Geldwechsler. Noch immer gibt es private Schweizer Konten und Banken auf den Cayman Islands. Es gibt also Möglichkeiten für die Wohlhabenden, ihr Finanztransaktionen privat zu halten.
Regierungen wollen diese gelegentlich überprüfen.
Westin: Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, wenn Geld genutzt wird, um das Wirtschaftssystem, die Sicherheit oder den politischen Prozess zu beeinflussen. Wir müssen definieren, was rechtmässig privat gehalten werden kann. Das kann nur von Fall zu Fall geschehen.
Häufiger wollen Regierungen Finanzinformationen untereinander austauschen. Wie kann in solchen fällen das Recht auf Privatsphäre geschützt werden?
Westin: Es gibt keine Weltregierung. Wir haben Einzelstaaten. Es gibt verschiedene Traditionen und unterschiedliche Rechts- und Finanzsystem. Geld bewegt sich global. Es gibt zwar Anstrengungen, eine Norm zu kreieren für den Austausch von Finanzinformationen. Das wird kaum funktionieren, da es keine Zauberformel gibt. Meist muss von Fall zu Fall entschieden werden. Die Frage sollte dabei immer lauten: «Zu welchem Zweck will eine Regierung Informationen einer Einzelperson in einem anderen Staat sammeln?»
Oft geht es um Steuerfragen. Wie lösen Sie den Konflikt zwischen einem Staat, der seine Steuerzahler nicht verlieren will, und dem Recht einer Einzelperson auf finanzielle Privatsphäre?
Westin: Historisch gesehen waren Steuern stets ein wichtiger Bestandteil der Privatsphäre-Debatte. Ein Staat will Steuereinnahmen. Diese sichert er sich entweder auf demokratischem oder diktatorischem Weg. Dann muss er das Geld für die richtige Sache verwenden. Einzelpersonen hatten stets das Gefühl, «das ist mein Geld, ich habe es dank meiner Denkfähigkeit oder meiner Arbeit verdient, und ich möchte so wenig wie möglich davon abtreten». Das ist ein anhaltender Konflikt.
Wie lösen Sie den Konflikt auf?
Westin: Von Fall zu Fall. Es scheint einen grossen wirtschaftlichen und sozialen Vorteil zu geben, private Geldströme ausserhalb des Radars zu halten. Deshalb lassen Regierungen das auch zu. Wird es aber missbraucht, oder sind zu viele Transaktionen illegal, so dass ein Staat nicht mehr genügend Geld kriegt um seine Pflichten zu erfüllen, dann wird er sich dagegen wehren.
Ist Geld die intimste Information, die Menschen privat halten wollen?
Westin: Seit mehr als vierzig Jahren führe ich Umfragen durch, wobei stets zwei Bereiche als besonders wichtig angesehen werden: Die Finanzen und die Gesundheit. In den Augen vieler offenbaren Finanzinformationen alles.
Warum ist die Privatsphäre wichtig, wenn es um Gesundheit geht?
Westin: Weil ein enger Zusammenhang zwischen Gesundheit und Diskriminierung besteht. Ist mein Gesundheitszustand bekannt, dann kann mein Arbeitgeber gegen mich vorgehen. Eine Versicherung kann eine Police entweder anlehnen oder aber die Prämien erhöhen. Eine Krankheit kann eine Person zudem stigmatisieren.
Wie hat der Terroranschlag vom 11. September 2001 das Recht auf Privatsphäre verändert?
Westin: Dramatisch. Es hat sich ein Konflikt entwickelt zwischen der Regierung, die beschränkt in die Privatsphäre eingreifen soll, und einer Welt, in der Mobiltelefone, das Internet oder Geldströme von Terroristen genutzt werden. Die Leute wollen beides. Sie wollen der Regierung die Macht geben, gegen Terroristen vorzugehen, aber sie werden sehr nervös, wenn die Regierung den E-Mail-Verkehr überwacht und bei Telefongesprächen mithört. Wir müssen die richtigen Limiten finden und Sicherungen einbauen. Um sicher zu bleiben, müssen wir wohl gewisse Ansprüche auf Privatsphäre opfern.
Was werden die grossen Themen der Privatsphäre-Forschung in den nächsten Jahren sein?
Westin: Das Internet ist und wird die Triebfeder sein. Wir müssen den Leuten darlegen wie wichtig es ist, dass sie an ihre Privatsphäre denken wenn sie das Internet nutzen.