Guantánamo vor Schliessung?

Der oberste amerikanische Gerichtshof stellt die Rechtsmässigkeit des Gefangenenlagers in Guantánamo in Abrede. Damit verliert die US-Regierung ein Kernstück im Krieg gegen den Terrorismus. Eine politische Lösung soll spektakulären öffentlichen Anhörungen zuvorkommen.

Von Peter Hossli

gu.jpgAmerika sei ein Rechtsstaat mit einer Verfassung, die allen Menschen das Recht auf einen fairen Prozess einräumt – selbst vermeintlichen Terroristen, die in der US-Militärbasis Guantánamo auf Kuba inhaftiert sind. Diesen Schluss zog am Donnerstag der Oberste Gerichtshof der USA in Washington in einem aufsehenerregenden Urteil. «Die Gesetze und die Verfassung sind geschaffen worden, um auch in aussergewöhnlichen Zeiten Bestand zu haben», begründet Richter Anthony Kennedy das Urteil.

Für Präsident George W. Bush stellt der Richterspruch eine bittere Niederlage dar. Rund 270 muslimische Gefangene erhalten das Recht, auf US-Boden vor einen ordentlichen Bundesrichter zu treten und Argumente für ihre Freilassung vorzutragen. Wie in anderen Prozessen muss die Staatsanwaltschaft in jedem einzelnen Fall darlegen, ob genügend Beweise für ihre Festnahme und oft jahrelange Inhaftierung vorlagen.

Menschenrechtsorganisationen jubeln. «Wir begrüssen den Entscheid», sagt Anwältin Deborah Colson von Human Rights First. Die USA würden nun weltweit wieder als Rechtsstaat wahrgenommen. «Das Urteil zerstört eine zentrale Position der Bush-Regierung im Krieg gegen den Terrorismus», so Colson. «Ab sofort ist Guantánamo keine rechtsfreie Zone mehr.» Infolge dessen könnte das Camp als verfassungswidrig erklärt und geschlossen werden.

Doch nicht alle begrüssen den Entscheid für die Menschenrechte und zeichnen Horror-Szenarien: «Das Urteil wird beinahe sicher den Tod vieler Amerikaner bedeuten», schreibt Bundesrichter Antonin Scalia. Andere Fürsprecher von Guantánamo warnen, dass geheime Fakten des amerikanischen Anti-Terror-Kriegs öffentlich würden, wenn es zu Befragungen an ordentlichen Gerichten käme. Die US-Regierung werde gezwungen, Teile des Kriegsplans preiszugeben. Überdies drohten Angriffe auf amerikanische Gerichte.

Alles Einwände, die Anwältin Deborah Colson zurückweist. «Unsere Gerichte sind sehr wohl in der Lage, eine Balance zu finden zwischen dem Schutz amerikanischer Geheimnisse und der Fairness gegenüber Angeklagten.» Eine Analyse von Human Rights First von 100 Terrorprozessen der letzten 15 Jahre ergab, dass «bestehendes US-Recht sehr effektiv ist, Terrorverdächtige zu inhaftieren, sie zu befragen und ihnen den Prozess zu machen», so Colson.

Eine Prozesswelle schliesst Stacy Sullivan von der Terrorabteilung bei Human Rights Watch allerdings aus. «Das wird auf politischem Weg verhindert.» Zumal die juristischen Mühlen langsam drehen und Amerika Guantánamo rasch hinter sich bringen möchte. «Bevor es auf US-Boden zu Hunderten öffentlichen Anhörungen kommt, werden der Kongress und das Weisse Haus das Camp schliessen», sagt sie.

Das Urteil zum unrühmlichen karibischen Knast prägt auch den Präsidentschaftswahlkampf. Der Demokrat Barack Obama lobte den Gerichtshof und möchte eruieren, welche Insassen wirklich Terroristen sein könnten. Ihnen soll ordentlich der Prozess gemacht werden. Der Republikaner John McCain hingegen sprach vom «schlechtesten Entscheid der Geschichte unseres Landes». Er will die Militärtribunale weiterführen, an denen 20 Gefangenen der Prozess gemacht wird.

Diese sind nun ebenfalls gefährdet. Gerade mit deren groben juristischen Mängeln begründete der Oberste Gerichtshof die Öffnung des Rechtswegs für Guantánamo-Häftlinge. «Die Tribunale könnten nun verfassungswidrig werden», sagt Menschenrechtlerin Sullivan. «Die amerikanische Regierung stünde vor einem juristischen Scherbenhaufen.»

Das Gros der insgesamt 900 Männer, die zwischenzeitlich unter kubanischem Himmel schmorten, ist ohnehin bereits frei. Ein Recht auf Schadenersatz haben sie trotz fälschlichem Freiheitsentzug aber nicht. Das hat ihnen der Kongress per Gesetz entzogen.