Von Peter Hossli
Nichts ahnend parkierte die Besitzerin des schwarzen Jeep Liberty ihr Auto auf dem Platz vor dem Kino in einem industriellen Vorort von San Francisco. Nach Filmende sah sie ein Loch in der Karosserie. Räuber hatten es mit einem batteriebetriebenen Handbohrer gedreht. Mittels Gummischlauch entleerten sie ihren Tank. Kurz danach trieben die dreisten Diebe ein Leck in einen Chevy Silverado. Sie saugten das Benzin ab und entwichen in die Nacht.
Berichte über Treibstoffklau füllen derzeit die Spalten lokaler US-Zeitungen. Vor zwei Wochen steckten sich zwei rauchende Spritdiebe in Wisconsin in Brand. Benzin, in den neunziger Jahren in Amerika ein günstiger Massensaft, ist zum Diebesgut geworden.
Eine Gallone (3,78 Liter) Normalbenzin kostete am Montag im landesweiten Durchschnitt 3,936 Dollar, so viel wie nie zuvor. Täglich ermittelt diese wichtigste Kennzahl Amerikas ein Computer der American Automobile Association (AAA) aus den Angaben von 100’000 Tankstellen. Jeweils drei Stunden nach Mitternacht publiziert die AAA-Website die Zahl. Nunmehr seit vier Wochen steigt sie stetig. Innert Monatsfrist verteuerte sich Benzin um 34 Cents. Alaska und Kalifornien melden sogar Preise von über 4 Dollar.
Das schlägt auf die Psyche Amerikas, zumal billiger Treibstoff als Grundrecht gilt. Dabei soll es noch schlimmer werden. Bis im Sommer, wenn Amerika in die Ferien fährt, dürfte der Mischpreis auf fünf Dollar steigen. Trifft, wie Meteorologen prophezeien, ein Orkan die Ölplattformen im Golf von Mexiko und Raffinerien in Louisiana, verteuert sich Gasolin auf sieben oder acht Dollar, sagen US-Energieanalysten.
Sie erklären den massiven Preisanstieg mit dem unstillbaren Durst nach fossilen Brennstoffen in China und Indien. Vor allem aber treibt der schwache Dollar den Ölpreis und somit die Kosten an der Zapfsäule. Pensionskassen wie Hedge Funds versuchen mit Rohstoffkäufen ihre Anlagen in US-Dollar abzusichern.
Noch ist der Sprit in den USA billiger als in Europa. Für amerikanische Geldbeutel ist der Anstieg aber atemberaubend. Vor Jahresfrist kostete eine Gallone Normalbenzin weniger als drei Dollar. Mehr als verdoppelt hat sich der Preis einer Tankfüllung seit 2005. Wie einst während der Ölkrise in den späten siebziger Jahren betragen die Energieausgaben wieder über sieben Prozent des Familienbudgets. In den neunziger Jahren waren es vier Prozent. Damals pendelte der Preis zwischen 89 Cents und 1,26 Dollar.
Günstiges Gasolin veranlasste Autokonzerne durstige und leistungsstarke Geländewagen zu bauen. Das ist nun vorbei. Das teure Benzin führe bei der US-Autoindustrie den «dramatischsten Wandel seit dreissig Jahren» herbei, sagt ein Verkaufsmanager des Autokonzerns Ford. Erstmals wurden im April in den USA mehr vier- als sechszylindrige Autos abgesetzt. Der Absatz von Geländewagen schmolz um 32,3 Prozent, derjenige von Kleinwagen nahm um 18,6 Prozent zu. Ford drosselt die Autoproduktion drastisch.
«Unsere Verkaufserwartungen werden bei weitem übertroffen», sagt hingegen die Sprecherin von Smart USA, Jessica Gamarra. Anfang Jahr lancierte Daimler den Smart in den USA. Der Zeitpunkt passt perfekt, sagt sie. «Viele Kunden nennen teures Benzin als Grund, einen Smart zu bestellen.» Wer keine effizienten Kleinwagen im Sortiment hat, verkauft Autos mit Anreiz. Chrysler bietet Neukunden die Gallone während drei Jahren zu 2,99 Dollar an. Altautohändler Major World auf Long Island gibt Käufern einen Monat lang Sprit zum Dumpingpreis von 95 Cents die Gallone ab. Dazu kriegen sie eines der begehrten Tankschlösser, die einst in der Depression entwickelt wurde. Damals wie heute schrecken sie Benzindiebe ab.
Die rund 200 Millionen US-Automobilisten helfen sich in der Not. Tausende haben lokale Websites eingerichtet mit Daten zu günstigsten Tankstellen. Schnellimbisslokale finden Abnehmer für altes Frittieröl, mit dem mancher seinen Tank füllt. Im Grossraum der Hauptstadt Washington verzeichnet eine vor Jahren eingeführte Praxis regen Zuwachs: Gegen Gebühr fahren Autofahrer unbekannte Passagiere aus den Vorstädten ins Zentrum. Autoreisen fallen kürzer aus. Ob in Miami oder Atlanta – Autostädte vermelden besser besetzte Busse. Zudem sparen die Amerikaner. Um sieben Prozent sank der Benzinabsatz letzte Woche gegenüber dem Vorjahr. Erstmals seit 17 Jahren wird 2008 der Spritverbrauch sinken.
Prägen wird der Benzinpreis in November auch die US-Präsidentschaftswahlen. Der republikanische Kandidat John McCain will die Benzinsteuer aussetzen und so den Preis drücken. Sein wahrscheinlichster Konkurrent Barack Obama spricht sich dagegen aus. Das birgt Gefahren, weiss sein Parteifreund Jimmy Carter. 1980 unterlag der damalige Präsident gegen Ronald Reagan. Der Benzinpreis stand infolge der iranischen Geiselkrise im Rekordhoch.