Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)
Es ist kalt in Kalifornien. Dunkle Wolken ziehen über den frisch gemähten Trainingsplatz beim Home Depot Center in Carson, einem Vorort südöstlich von Los Angeles. Raphaël Wicky trabt entlang der Seitenlinie, stützt den Rücken, setzt sich hin, dehnt, steht auf. «Gib mir den Ball», fordert er. Er kriegt ihn, schlägt einen verhaltenen Pass, verzehrt das unrasierte Gesicht. Der Ball kullert ins Leere. Erneut greift sich Wicky an den Rücken.
Beschwerdefrei trainiert er nicht, das sieht der Coach, das sehen die Mitspieler. Vor zehn Tagen fiel er «blöd auf den Rücken», seither zwickt es. Sein Einsatz beim morgigen Spiel gegen Dallas ist fraglich. Dabei müsste er die zuletzt unsichere Abwehr seines Teams festigen.
Wicky, der neun Jahre in der Bundesliga spielte und 75 Mal in der Schweizer Nationalmannschaft, lebt seit Januar in Los Angeles. Vorerst ein Jahr läuft sein Vertrag mit Chivas USA, einem amerikanischen Verein, der einem mexikanischen Industriellen gehört. In der neuen Welt wagt Wicky den Neuanfang. Die satte Lohneinbusse nimmt der lange verletzte Mittelfeldspieler in Kauf. Die Europameisterschaft im eignen Land – «ein Traum für jeden Spieler» – wird er wohl verpassen. Dafür, sagt er, «erlebe ich nochmals etwas völlig Neues.»
Eine Stunde verstreicht. Endlich scheint die Sonne, vom Meer bläst eine kühle Brise. Der Coach setzt ein Spiel auf engem Raum an. Wicky luchst einem Angreifer den Ball ab, passt präzise, der Stürmer muss nur noch knipsen. Tor. «Nice, Rapha, thanks», ruft der. Wicky dreht um, lächelt verlegen. Er spürt, die andern mögen ihn, achten sein Können. Ein Absatztrick gelingt, er schiesst ein Tor von der Mittellinie, eines per Kopf. Fehler unterlaufen ihm keine, selten hält er den Rücken.
Nach zwei Stunden schlendert er vom Platz. «Wie ein Vierzigjähriger» fühlt er sich, witzelt er. Zwei Tage konnte er nicht trainieren, nun sind die Muskeln müde. «Der Fussball hier ist ganz anders», sagt Wicky, der zuvor bei europäischen Spitzenclubs wie Werder Bremen und dem Hamburger Sportverein gespielt hatte. «Das Niveau ist nicht schlecht, das Spiel ist physischer, läuferischer, wilder als in Europa.» Taktisch bestünden aber Mängel. «Oft rennen alle zum Ball.»
Er verschwindet in der Kabine, duscht, pflegt den geschundenen Rücken, tritt danach in die grelle Sonne. Zur modisch abgewetzten Jeans trägt er ein lila Leibchen mit langen Ärmeln, dazu braune Stoffschuhe. Schlüssel und Portemonnaie liegen im alternativ anmutenden Schulterbeutel. Keck sieht er aus im Spät-Grunge-Look, sexy sind die blauen Augen und die wild spriessenden Haare. Er besteigt einen Hummer H3, ein Geländewagen, dessen Design US-Militärfahrzeuge inspiriert hatten. «Ich wollte etwas Amerikanisches», sagt Wicky, der in Steg in Oberwallis aufwuchs, seine Karriere beim FC Sitten begann, mit zwanzig nach Bremen zog, in Spanien spielte, dann in Hamburg.
Letzen Sommer kam er zurück nach Sion. Er war öfters verletzt, gab dem Team nicht, was von ihm erwartet wurde. Nach wenigen Monaten wechselte er vom Wallis in die USA.
Nicht wegen des Geldes. Wicky verdient in Los Angeles pro Jahr 200000 Dollar, nicht einmal die Hälfte seines Salärs in Sitten, ein Bruchteil dessen, was er beim HSV kriegte. «Was ich finanziell mache, macht kein anderer Spitzenfussballer», sagt Wicky. Er lenkt den Hummer über die achtspurige Autobahn, vorbei an Ölraffinerien und Fabriken. Dreissig Minuten fährt er vom industriellen Carson zum malerischen Venice Beach. Hier lebt Wicky mit seiner Freundin in einer Mietwohnung. «Bleiben wir nur ein Jahr, lege ich drauf.» Alles kauft er neu, das Auto, den Fernseher, den Staubsauger.
In der Schweiz gefiel es ihm nicht, deshalb ging er weg. «Nach zehn Jahren im Ausland war es nicht einfach, wieder in Aarau oder Thun zu spielen.» Hier hingegen hilft er mit, den Fussball populärer zu machen. Er spielt in Boston und New York, in Washington und Chicago. Das erweitert den Horizont. «Die Schweiz ist wunderschön, das Wallis ist wunderschön, es reizte mich aber, etwas kennen zu lernen, das ich nach Ende der Karriere gebrauchen kann.»
Nochmals will er in Hochform kommen, den Durchbruch schaffen. Bei Chivas kann er sich ruhiger von den Verletzungen erholen, die ihn letztes Jahr plagten. Trotz Operation an den Sprunggelenken nahm ihn der Club unter Vertrag. «Ich will das Vertrauen in meinen Körper wieder finden, das geht hier besser, weil ich anonymer bin», sagt er. Die lokale Presse berichtet nicht täglich über seine Blessuren. «Und, hey, es ist einfach schön, jeden Tag scheint die Sonne, wir leben am Meer, LA ist eine aufregende Stadt, das ist ein Abenteuer.»
Die Strassen werden enger, der Verkehr dichter, Wicky biegt in eine schmale, von Sträuchern umgarnte Gasse, parkiert unterm Vordach seines Hauses. Rein lässt er die Reporter nicht. Noch sind die Möbel per Schiff unterwegs. Privat belassen will er die Privatsphäre. Binnen fünf Minuten ist er zu Fuss an der famosen Strandpromenade von Venice. Graffiti zieren Häuser. Wahrsagerinnen legen Tarotkarten aus, Hippies verkaufen Ohrringe, Clowns ziehen Fratzen, Muskelmänner stählen ihren Bizeps. Der Blick schweift über den feinen Sand. «Es fühlt sich oft an wie Urlaub», sagt er. Nachmittags radelt er entlang des Strandes, er staunt, stoppt, wenn er was sieht, beobachtet ein Basketball-Spiel.
Heimisch ist er nicht, aber er ist zufrieden. «Ich bin froh, hier zu sein, diesen Entscheid getroffen zu haben, ich verdiene nicht das grosse Geld, spiele nicht im grossen Fussball, aber es gefällt mir.»
Er biegt in die Abbot-Kinney-Road ein, benannt nach dem Tabakhändler, der das Venedig Amerikas 1905 gegründet hatte. In einem Gartenrestaurant isst Wicky mit seiner Freundin ein spätes Mittagessen. Er bestellt einen Salat. Den Kuchen schlägt er aus, obwohl er Süsses mag. «Esse ich Zucker, fühle ich mich schlaff», sagt er. Wicky achtet auf die Linie. Erstmals legte er im Trainingslager Gewicht zu. Isst in Europa ein Team jeweils zusammen, erhalten die Spieler hier Spesen. Sie essen, wo sie wollen. Da etliche Chivas-Fussballer monatlich nur 1000 Dollar verdienen, speisen sie im Schnellimbisslokal. Wicky, der sich Fisch und Teigwaren beim Italiener leisten kann, verzehrte mit den anderen fettige Sandwichs.
Geld ist knapp im amerikanischen Fussball. Jedes Team hat eine Lohnsumme von 2,4 Millionen Dollar, verteilt auf 28 Spieler. Der Topverdiener bei Chivas kriegt 250000 Dollar, ein Klacks im Vergleich zu den Löhnen in Europa. «Das spielerische Gefälle innerhalb der Teams ist daher gross», sagt Wicky. Ein halbes Dutzend guter Spieler reisst viele durchschnittliche mit. «Solange nicht mehr Geld da ist, zieht die Liga keine europäischen Talente an, talentierte Amerikaner gehen nach Europa, wo sie das Zehnfache kriegen», sagt Wicky. Bei Chivas kicken US-Nationalspieler, die pro Jahr 70000 Dollar verdienen, weniger noch als Wicky.
Klar, sagt er, Geld ermöglicht vieles, «aber es macht nicht glücklich, es macht Dich nicht gesund». Fünfzehn Jahre lang hätte er gut verdient. Heute sind ihm flotte Autos und schicke Klamotten nicht mehr so wichtig. Er denkt darüber nach, was ihn nach Ende der Karriere glücklich machen könnte. Dem Sport will er verbunden bleiben, vielleicht Junioren ausbilden. Auch für eine Firma würde er arbeiten. Er ist eloquent, spricht vier Sprachen, hat die Welt gesehen, und er kann am Fernsehen «einen geraden Satz sagen», wie er sagt.
Um in Los Angeles nochmals den Rhythmus zu finden, legt er sich öfter auf die Yoga-Matte, verordnet von Coach Predrag Radosavljević. Preki, wie alle den einstigen US-Nationalspieler, rufen, spielte bis er 42 Jahre alt war, dank Yoga, wie er sagt. Von Wicky erwartet Preki eine ähnliche Rolle, die er erfolgreich in der Nationalmannschaft spielte – nach hinten fehlerlos und nach vorne druckvoll spielen.
Jedes Spiel an der WM 2006 bestritt Wicky. Nun entscheide nicht die Distanz zur Schweiz, ob er an der EM spielt. Es ist die Fitness. «Köbi Kuhn weiss, was er an mir hat, bin ich gesund, kann ich dem Team helfen.» Hat es eine Chance? «Ich bin zuversichtlich.» Trotz den zuletzt dürftigen Spielen? «Es ist schwierig, sich auf ein Turnier vorzubereiten, für das man bereits qualifiziert ist. Am 7. Juni wird das Team bereit sein.» Beunruhigt ihn der Leistungsabfall seit der WM? «Wir waren ein kompaktes Team, kassierten wenig Tore. Heute besteht die Mannschaft aus guten Einzelspielern, die ein Spiel entscheiden können, sie kriegen aber pro Spiel 2 bis 3 Tore. Es fehlt an der Geschlossenheit, die wir hatten. Die Trainier wissen das, sie werden darauf reagieren.»
Plötzlich steht ein schlanker blonder Mann am Tisch. «Herr Wicky?», fragt er in breitem Basler Dialekt. «Ja», antwortet Wicky, er errötet. «Willkommen in Los Angeles, es freut uns, dass Sie hier sind, wir besuchen sicher mal ein Spiel», sagt er und geht. «Die Leute sind sehr nett», sagt Wicky. Er mag die amerikanische Freundlichkeit. Tiefe Freundschaften erwartet er nicht. «Meine besten Freunde habe ich bereits, sie sind im Wallis.»
Am nächsten Nachmittag in Carson. Die Sonne fällt auf die Osttribüne des Home Depot Centers. Familien mit Kindern strömen rein. Sie kaufen Hot Dogs, Burritos, Cola. Auf dem Platz grinsen Cheerleaders mit langen Haaren, dicker Schminke und kurzen Röcken. Hinter den beiden Toren füllen sich die Fankurven. Über die rotweiss gestreiften Chivas-Leibchen haben einige mit Schweizerkreuz bemalte Westen übergezogen, «für Wicky», sagt ein Fan.
Der steht nicht im Aufgebot. Der Rücken schmerzt, er schont sich für das Derby gegen LA Galaxy, das Team von David Beckham. «Da will ich fit sein.» Er rennt auf den Platz, spielt die Kollegen warm. Den Match schaut er sich mit der Freundin auf der Tribüne an. Ein paar Reihen entfernt sitzt der schlanke Basler, der ihn gestern begrüsst hatte. Wicky fehlt, das sieht er. Chivas verliert 0 – 2 gegen Dallas, die Tore fallen nach groben Abwehrfehlern.
Eine Woche später. Das Stadion ist ausverkauft. Wicky, der heute 31 wird, kommt in der 80. Minute aufs Feld, beim Stand von 2 – 4. Das Spiel endet 2 – 5.