“Es war eine Explosion”

Eine Geste machte Tommie Smith zur Personifizierung des politischen Sportlers. Hier sagt er, was er über Boykott und Fackel-Angriffe denkt.

Interview: Peter Hossli

tommie_1.jpgMr. Smith, nehmen Sie an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking teil?
Tommie Smith: Bisher hat mich niemand eingeladen. Es ist nicht meine Art, ungefragt auf eine Party zu gehen.

Reisen Sie als Besucher hin?
Smith: Hoffentlich, aber das Flugticket ist teuer. Kriege ich das Geld zusammen, fliege ich hin.

Sie haben 1968 in Mexiko mit einer Geste gegen Menschenrechtsverletzungen in den USA protestiert. Würden Sie nicht Ihre Prinzipien verraten, wenn Sie sich in China blicken ließen?
Smith: Wer mich kennt, weifl, dass ich stets für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte eingetreten bin. Mein Akt war damals gegen Ungerechtigkeiten in Amerika gerichtet. Es steht mir nicht zu, andere Länder zu kritisieren.

Bringen Sie eine Botschaft mit nach China?
Smith: Nein, ich gehe als Privatmann hin. Würde Tommie Smith nochmals protestieren, wäre das redundant. Ich habe das ja bereits getan.

War es ein Fehler, China die Spiele zu geben?
Smith: Darüber rede ich nicht. Aber es ist klar, dass politische und vor allem finanzielle Interessen dahinterstanden.

Derzeit greifen Pro-Tibet-Protestanten den olympischen Fackellauf an. Was halten Sie davon?
Smith: Angriffe auf Fackeln fördern den Frieden nicht. Wir brauchen Dialoge, nicht Gewalt. Olympische Spiele beflügeln menschliche Kontakte, die zu Frieden führen. Boykotten gelingt das nicht.

Sie kritisieren den Protest, obwohl Sie damals selbst protestierten?
Smith: Meine Aktion war gewaltfrei. Es wurde kein Wort gesprochen, kein Stein geworfen, keine Flamme ausgelöscht. Ohne etwas zu sagen, habe ich einen Dialog ausgelöst.

Was raten Sie Sportlern, die in Peking protestieren wollen?
Smith: Jeder muss selbst entscheiden, ob er etwas tut. Ich übernehme keine Verantwortung! Wollen Sportler reden, müssen sie zuerst eine gemeinsame Botschaft festlegen. Sie können nicht nach China gehen und blind jemandem folgen.

tommie_2.jpgWas war damals Ihre Motivation für Ihre Siege?
Smith: Ich wollte aus meinem Dasein als Farmpächter ausbrechen. Als Feldarbeiter diente ich stets der Gruppe. Je mehr ich tat, desto besser ging es uns allen. Dieser Sinn für die Gemeinschaft bildete mein Bewusstsein. Als ich dann realisierte, dass Siege mich vom Feld wegbrachten, wollte ich der Beste werden, wollte ich immer als Erster über die Ziellinie sprinten, die Hände gen Himmel recken und dazu breit grinsen.

Ihr größter Sieg gelang bei den Olympischen Spielen von 1968 über 200 Meter.
Smith: Ich musste es gewinnen, weil ich etwas sagen wollte. Es ging um mehr als dieses Rennen. Es ging um die sozialen Spannungen in unserem Land, um die Ungleichheit der Rassen, die ich ins Rampenlicht rücken wollte. Der Sieg gab mir ein Podium, darüber zu reden.

Wann entschieden Sie sich, die Faust zum Black-Power-Protest zu recken?
Smith: Kurz vor dem Rennen. Zwar wusste ich schon lange, dass ich meine Demut und mein Menschsein zum Ausdruck bringen wollte. Da ich kein Mikrofon hatte, bot sich mir die Siegerehrung als Bühne für eine sichtbare Geste an. Damit zeigte ich meinen Leuten und der Welt meinen Glauben an Menschenrechte. Um mehr ging es gar nicht.

Es gibt verschiedene Meinungen darüber, wer den Protest angezettelt hat.
Smith: Ich wars, Tommie Smith! Kurz vor der Siegerehrung saßfl ich in der Katakombe, 25 Meter entfernt von der Ziellinie. Dort entschied ich mich, einen schwarzen Handschuh an der rechten Faust zu tragen.

Später hieß es, Sie seien von Amerikas schwarzen Radikalen gedrängt worden.
Smith: Niemand hat mich gedrängt. Ich tat genau das, was ich tun wollte. Wir Schwarzen waren Teil des olympischen Projekts für Menschenrechte. Während der Spiele war es aber jedem selbst überlassen, etwas zu tun. Vor mir hatten schwarze US-Sprinter bereits Staffelgold geholt. Sie taten nichts, weil sie Angst hatten, Geld zu verlieren.

Sie trugen bei der Siegerehrung keine Schuhe, sondern schwarze Socken …
Smith: … ich rannte das Rennen in schwarzen Socken! Es war das erste Mal überhaupt, dass schwarze Socken in einem olympischen Sprint getragen wurden. Es waren keine Sportsocken, sondern elegante Socken. Wie die Handschuhe standen sie für unser Bedürfnis zu überleben. Die schwarzen Handschuhe standen für Glück, für unseren Stolz, für unsere Macht. Heute noch recken Sportler ihre Faust gegen den Himmel, wenn ihnen ein 3-Punkte-Wurf oder ein Touchdown gelungen ist. Damit strahlen sie Stärke aus. Unser Protest wurde als Black Power ausgelegt, was zulässig ist. Zwei schwarze Athleten trugen schwarze Handschuhe. Wir traten für die Solidarität unter den Schwarzen ein.

Warum trugen Sie keine Schuhe?
Smith: Die Socken standen für unsere Armut. Der Anblick der nackten Füße hatte etwas sehr Erhabenes.

Ihr Ausrüster Puma war sicher wütend, dass Sie Ihr Arbeitswerkzeug ablegten.
Smith: Darüber hat sich Puma bislang nicht beschwert.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie während der Hymne die Faust reckten?
Smith: Oh Gott, das war ein ergreifender Moment. Alles raste mir in wenigen Sekunden durch den Schädel, die Jahre, Stunden und Minuten, die ich für das Menschenrechtsprojekt geopfert hatte, meine Arbeit auf den Feldern in Texas, die ständige Ausbeutung, die mein Vater erlebt hatte, nur um Geld für Brot zu verdienen. Es kam alles zusammen. Ich bin eher ein intellektueller Mensch, dieser Moment aber war sehr emotional. Alles schien darin verpackt zu sein. Glück. Trauer. Gebete. Vergebung. Tod. Es war eine Explosion. Ich erinnere mich, wie ich betete und Gott dankte, dass er mich hierhergebracht hatte. Danach sagte ich zu ihm: “Bring mich rasch wieder weg.”

Peter Norman, der australische Silbermedaillengewinner, steckte sich für die Siegerehrung eine Menschenrechtsplakette an. Manche sagen, es sei wichtig gewesen, dass ein Weißer an dem Protest beteiligt war.
Smith: Für mich war es komplett unwichtig. Ich kümmerte mich weder um Peter noch um John (Carlos, der Drittplatzierte, Red.). Ich kümmerte mich allein um Tommie Smith. Ich war ja verletzt an den Start gegangen. Hätte ich nicht gewonnen, hätte ich bei der Siegerehrung nichts unternehmen können. Ich hätte mich lächerlich gemacht. Der Sieg gelang mir dank Gottes Hilfe. Wie sonst ist es möglich, dass jemand mit einem gezerrten Muskel schneller rennt als je zuvor?

Was hat der Protest gebracht?
Smith: Wenige schwarze Sportler hatten damals die Möglichkeit, über die Situation in unserem Land zu reden. Ich konnte das mit einer stillen Geste tun. Ich stand zuoberst auf dem Podest, und die ganze Welt sah zu. Mein Handeln hat seither viele berührt. Es war gewaltlos. Andere Schwarze wehrten sich gewaltsam. Ich habe damals beides in Betracht gezogen. Beides hat Vor- und Nachteile.

Die Aktion brachte Ihnen viel Ärger ein – Ausschluss aus dem US-Team, dann sogar Morddrohungen. Haben Sie sie mal bereut?
Smith: Nein, nie.

Nach Ihrer Rückkehr in die USA wurden Sie als Landesverräter kritisiert.
Smith: Mein Akt in Mexico-City entsprach nicht dem Amerika des Apfelkuchens. Ich öffnete dem Land die Augen, die Wahrheit zu sehen. Zuvor sagten alle: “Wir sind gleich.” Ihnen entgegnete ich: “Nein, wir sind so lange nicht gleich, wie es Gesetze gibt, welche die Ungleichheit festigen.”

In den USA wurde die Aktion als rein “schwarzer Protest” gewertet.
Smith: Wer das sagte, hatte nichts begriffen. Es ging um Menschenrechte, nicht um schwarze Rechte. Schwarze sind Menschen, bevor sie Rechte haben.

Wurden Sie denn von den 68ern, den Flower-Power-Leuten oder dem liberalen Hollywood gefeiert?
Smith: Niemand hat mich begrüßt, diese Leute schon gar nicht. Kein einziger weifler Liberaler ist zu mir gekommen und hat mich gefragt, wovon ich eigentlich rede. Sie kämpften für ihre eigene Freiheit, für eine weifle Freiheit. Sie kämpften nicht für uns Schwarze, obwohl wir ihnen die Türen geöffnet hatten. Weder Peter noch Jane Fonda noch sonst irgendeiner der liberalen Bewegung hat mir einen Brief geschrieben oder mich angerufen.

Vielleicht aus Angst, mit der militanten schwarzen Gruppe Black Panthers in Verbindung gebracht zu werden.
Smith: Ich hatte mit den Black Panthers nichts zu tun. Aber ich hielt sie für eine wichtige Bewegung und unterstützte deren Ideale. Sie begegneten Gewalt mit Gewalt und setzten damit einen Gegenpol zu Dr. Martin Luther King, der gewaltfrei auf Gewalt reagierte.

Sportler wie Sie oder Muhammad Ali erhoben damals öfters ihre Stimme. Warum tut das heute keiner mehr?
Smith: Die Sportler liegen heute in schweren Ketten. Mit sehr viel Geld hat man ihr Schweigen gekauft. Um das Geld beneide ich sie nicht, denn ich konnte reden.

Mit Barack Obama könnte erstmals ein Schwarzer US-Präsident werden. Würden Sie ihn wählen?
Smith: Ich werde ihn bestimmt berücksichtigen.

Ist Amerika bereit für einen Schwarzen im Weißen Haus?
Smith: Man hat uns hierhergebracht. Wir leben hier. Was braucht es sonst noch, damit wir bereit sind? Sitzen wir etwa noch immer im Käfig? Natürlich sind wir bereit! Also, Barack, tu, was du tun musst, damit alle verstehen, dass Schwarze alles tun können.