Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)
Gemütlich lässt Olivia Bowie ihre dünnen Beine baumeln, etwas verlegen dreht sie am strähnigen Haar. Ihre Fingernägel hat sie Orange bepinselt. Sie scheint tagzuträumen. Was sie dereinst werden will, weiss das 12-jährige Mädchen jedoch genau. «Präsidentin will ich werden», sagt sie keck und zupft dabei an ihrem braunen Kurzarmhemd. «Dann kann ich all das ändern, was mich stört.» Klappt der Sprung ins Weisse Haus wider Erwarten nicht, hat Olivia bereits eine Alternative parat. «Dann werde ich Rektorin meiner Schule.» Hauptsache, sie kann andere führen, sagt sie. Wie sie das anpacken wird, ist der Siebtklässlerin ebenfalls klar. «Ich werde immer das tun, was ich für richtig empfinde, ohne die Konsequenzen zu fürchten.»
«Gib nie auf» lautet das Motto der jungen Amerikanerin. Eine Haltung, die sie ihrem Vorbild abgeschaut hat – George Washington, dem General, der vor 232 Jahren den Revolutionskrieg Amerikas anführte und das Land vom Joch der britischen Krone befreite. Tapfer schlug sich an dessen Seite auch ein direkter Vorfahre Olivias: Major John Bowie kämpfte in South Carolina für die Befreiung der 13 alten amerikanischen Kolonien. Olivias Vater entdeckte die Verbindung vor zwei Jahren. Seither liest das Mädchen mit Vorliebe historische Abhandlungen der Revolutionstage, studiert Schlachtpläne und die Bauart damaliger Waffen. «Es war schon toll zu erfahren, dass ich so einen Ahnen habe», sagt sie. «Keine meiner Freundinnen ist verwandt mit einem echten Revolutionär.» Ihre Augen funkeln. «Ich fühle mich als etwas Besonderes.»
Olivia ist ein Kind der amerikanischen Revolution, wie ihre beiden Schwestern und die anderen sieben Kinder, die sich an diesem nasskalten Samstag in einem Privathaus im schmucken Örtchen Sandwich auf Cape Cod einfinden. Es ist kurz vor Mittag, man knabbert an salzigen Bretzeln und rohem Gemüse, trinkt Cola, Wasser oder Sprite. Es ist das Jahresendtreffen der Massachusetts-Gruppe der Children of the American Revolution (CAR). Der im ganzen Land aktive patriotische Bund wurde 1895 von Harriett Lothrop ins Leben gerufen.
Die Kinderbuchautorin hatte vor, jungen Menschen «echten Patriotismus und die Liebe zum eigenen Land» zu lehren. Auf ihre Rolle als Führungskräfte und aufrechte Mitglieder der Gesellschaft wollte sie die Kleinen vorbereiten. «Gute Bürger entstehen nicht auf einen Schlag», sagte Lothrop. «Sie müssen heranwachsen.» Heute zählt der Bund rund 10 000 Mitglieder in allen fünfzig Bundesstaaten sowie in etlichen Ländern ausserhalb der USA – im Alter von einem Monat bis zu 21 Jahren.
Ein ausgebildeter Ahnenforscher prüft den Nachweis
Mittun darf, wer eine Blutsverwandtschaft beweisen kann zu einem Angehörigen der Kontinentalarmee oder zu jemandem, der den Truppen geholfen hatte. Einfach ist die Beweisführung nicht. Eine mündliche Überlieferung der Grosseltern reicht nicht aus. Abgewiesen wird auch, wer nur einen selbst erstellten Stammbaum vorlegen kann. Nötig sind schriftliche historische Dokumente – ein Eintrag in die Kartei der Armee, eine von den Revolutionären unterzeichnete Quittung, ein Schlachtbericht in einer zeitgenössischen Zeitung. Wer solche Zeugnisse besitzt, reicht sie bei der CAR-Zentrale ein. Ein ausgebildeter Ahnenforscher prüft das Material und entscheidet über die Zulassung.
Wer einmal drin ist, knüpft wertvolle Beziehungen fürs Leben. Sechzehn US-Präsidenten gehörten dem Bund einst an, darunter die beiden Bushs, Jimmy Carter, Dwight Eisenhower oder Gerald Ford.
Gemeinsam betreiben die revolutionären Kinder Ahnenforschung, sie halten Sitzungen ab und lassen sich dabei von den Hausregeln des US-Kongresses leiten. Bewusst ohne politische Stossrichtung lernen sie die Mechanik des amerikanischen Staatswesens kennen. Sie besuchen Museen oder sie helfen, historische Monumente zu restaurieren. Regelmässig schmücken sie Gräber von revolutionären Soldaten. Letzten Sommer platzierte Olivia Bowie eine bronzene Plakette auf dem Grab von Joshua Gray, einem Obersten der Miliztruppen. In ihrer Freizeit sammelt die ernannte Historikerin der Massachusetts-Gruppe Informationen über Leute, die nicht direkt ins Kriegsgeschehen involviert waren, die Revolution aber dennoch stützten, sei es als eifrige Krankenschwestern, als tüchtige Hufschmiede oder als Fleischer, die ganze Regimenter ernährt hatten.
Das Mittagessen – es gibt Käsenudeln und Lasagne – hat geschmeckt. Jetzt schreiten die jungen Patrioten zum Tagesgeschäft. «Bitte alle ins Wohnzimmer», bittet Stephanie Pommrehn, 19. Sie trägt die Farben Amerikas. Am dunkelblauen Jackett haften goldene Knöpfe, der Rock ist weiss, den roten Rollkragenpullover ziert eine Medaille, auf der ein Weisskopfseeadler das Sternenbanner durch die Luft trägt. Es ist ihr präsidiales Medaillon. Während eines Jahres leitet Stephanie Pommrehn die CAR-Gruppe von Massachusetts. Auf ihr Kommando legen neun Mädchen und ein Junge die rechte Hand auf ihre Herzen. Sie rezitieren das Gelöbnis auf Staat und Flagge, gefolgt vom offiziellen Credo der revolutionären Kinder. «Mein Geburtsrecht überträgt mir die Verantwortung, die Arbeit jener Jungen und Mädchen von 1776 weiterzuführen, die eine aktive Rolle im Unabhängigkeitskrieg hatten», tun sie mit ernster Miene im Chor kund.
Geld sammeln für Kriegsinvaliden
Was das heissen kann, erklärt die Präsidentin beim ersten und einzigen Geschäft des Tages. Sie zieht Bilanz über ihr Jahresprojekt. Die Gruppe sammelt Geld für die Ausbildung von Assistenzhunden. Die treuen und smarten Tiere sollen den Alltag von Kriegsinvaliden erleichtern, die aus Irak oder Afghanistan heimgekehrt sind. Dafür verkaufen die Kinder Hundekekse. Am Schluss werden wohl kaum mehr als 2000 Dollar zusammenkommen, ein symbolischer Betrag angesichts der Schulungskosten von 20 000 Dollar pro Hund.
Weit wichtiger als die Summe sei der Lerneffekt, sagt Stephanie Pommrehn. «Wir tun etwas, das der Gesellschaft nützt.» Sie studiert an der University of St. Andrews in Schottland Internationale Beziehungen und Wirtschaft. Ein persönliches Schicksal inspirierte sie. Ihre Kusine, eine 29-jährige Mutter und Sanitäterin in der US-Navy, starb in der Provinz Al Anbar in Irak bei einer Explosion. «Junge Amerikaner im Irak sind bereit, für die Ideale unseres Landes zu kämpfen – genau wie das unsere Vorfahren während der Revolution taten», sagt sie. Ob der Feldzug ins Zweistromland gerechtfertigt ist, darüber redet sie nicht. «Wir sind eine unpolitische Organisation.»
Stephanie kam in Minnesota zur Welt. Sie war vier, als ihre Familie nach Massachusetts zog, in die Wiege der amerikanischen Geschichte. Ihre Mutter stöberte in genealogischen Archiven – und stiess auf sieben Revolutionäre, die mit ihrem Mann Mark Pommrehn blutsverwandt sind. Einer – Oberst John Potter – überquerte an Weihnachten 1776 an General Washingtons Seite den Delaware River, beim wohl famosesten Ereignis des Revolutionskriegs. Just trat Vater Mark Pommrehn den Sons of the American Revolution bei, der Männerorganisation. Stephanie ging zu den Kindern. Susan Pommrehn, die Mutter, darf nicht mittun. Ihre Vorfahren kamen aus Klosters in der Schweiz nach Amerika. Eine Ehe mit einem revolutionären Abkömmling reicht nicht aus für die Mitgliedschaft.
Gemeinsam sitzen Tochter und Vater am Esstisch. Das zweistöckige schmucke Haus in Sandwich ist dekoriert für Weihnachten. An den Wänden hängen antike Fotos, am Eingang prangt eine US-Flagge. «Es ist fabelhaft, derart eng mit den USA verbunden zu sein», sagt Stephanie. «Jeder kann ein amerikanischer Bürger werden, aber nicht jeder hat diese direkte Verbundenheit zur amerikanischen Geschichte.»
Mit der Würde komme die Pflicht, sagt sie. Das Kind der Revolution will sich dereinst in den Dienst Amerikas stellen. Ein Sitz am Obersten US-Gerichtshof nennt sie als Berufsziel. «Ich will Einfluss haben und ich will, dass die Leute auf mich hören.»
«Tragen das revolutionäre Gen in sich»
Solche Selbstsicherheit strahlen die meisten Kinder aus, die in Sandwich zusammengekommen sind. «Sie tragen das revolutionäre Gen in sich», glaubt William Battles, ein stattlicher 67-jähriger Talentspäher für Supermärkte. Als achtjähriger Junge kam er zur CAR. Seine Grossmutter brachte ihn vorbei. Damals habe er noch gelernt, wie man eine Frau anständig grüsst und wie man sich standesgemäss anzieht, sagt Battles, der hinter den Kulissen für die Kindergruppe die Fäden zieht.
An seiner Brust hängen Kriegsabzeichen. Das blondgraue Haar hat er nach hinten gekämmt. In den Augen liegt Schalk. Als Marinesoldat diente er in Vietnam. Sein Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg, sein Grossvater im Ersten. «Unsere Familie hat immer für das Wohlergehen Amerikas gefochten.» Zwanzig seiner Ahnen beteiligten sich an der Revolution. «Es ist aufregend, dieses Blut in meinen Adern zu wissen», sagt er. «Wir müssen diese Vergangenheit am Leben halten, denn sie ist eine gute Sache.»
Gleichzeitig warnt er vor zu viel Snobismus, in dessen Ruf die patriotischen Organisationen zuweilen stehen. «Wir sind nicht besser und nicht schlechter als andere Amerikaner.» Zuweilen gelten die patriotischen Vereine als Geheimbünde. Wer sie nicht kennt, hat erst einmal Vorbehalte. Zum altertümlichen Image tragen die weissen Samthandschuhe bei, die Mädchen an der Jahresversammlung überstülpen, oder die roten Uniformen, die Jungen anziehen für die Nachstellung historischer Schlachten. Auch meinte eine CAR-Telefonistin in Washington beim Versuch einer ersten Kontaktaufnahme schnöde: «Wir reden nur mit Leuten, die direkt von Revolutionären abstammen.» «Wir schämen uns für diese Arroganz», sagt Marinesoldat Battles. «Was hat uns denn in diese Position gebracht? Allein das Glück unserer Geburt.»
Zumal George Washington nach gewonnener Revolution jene Bescheidenheit offenbarte, die Amerika prägt wie sonst nichts. Als ihn seine Soldaten zum Kaiser krönen wollten, lehnte er weitsichtig ab. «Nur deshalb sind wir heute ein freies Land», sagt Battles. Wegen dieser Freiheit sei er stolz auf Amerika. «In diesem Raum hat es 50 verschiedene Menschen», sagt Battles. Seine Augen gleiten durch den Raum. «Sie haben 50 verschiedene Meinungen, es sind mindestens sechs Religionen vertreten, vielleicht hat es auch Atheisten darunter – und trotzdem sind hier alle willkommen. Für diese Freiheit kämpfen wir Patrioten.»
Suche nach Nachfahren der schwarzen Freiheitskämpfer
Das galt lange nicht für alle. Zehn Prozent der Soldaten an Washingtons Seite waren schwarz. Deren Ahnen kamen als Sklaven in die Neue Welt. Trotzdem sind die patriotischen Bünde hauptsächlich weiss. Das soll sich nun ändern. Aktiv suchen Ahnenforscher nach direkten Nachfahren der schwarzen Soldaten, insbesondere nach Kindern. Darüber hinaus sollen die Kindeskinder der Indianer eingebunden werden, die für die Freiheit Amerikas kämpften, aber auch der Iren und der Franzosen, die Washington zur Hilfe eilten und danach in ihre Heimat zurückkehrten.
Fünfzehn Meilen ist David Bowie mit seinen drei Töchtern nach Sandwich gefahren. Er arbeitet am Jugendgericht von Barnstable County und gehört den Sons of the American Revolution an. «Für meine Kinder ist es wichtig, ihre Vorfahren zu kennen», sagt Bowie. «Wohl erst als Erwachsene werden sie verstehen, wie sehr sie davon profitieren.»
Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu. Sue serviert Kaffee, Tee und Kuchen. Stephanie verkauft Lose für eine Tombola. Zu gewinnen sind Preise, welche die Eltern gestiftet haben, darunter ein Plüsch-Elch oder die Unabhängigkeitserklärung der USA. Das Geld kommt der Ausbildung der Blindenhunde zugute.
Danach brechen die meisten Eltern mit ihren Kindern auf. Wer bleibt, plaudert über die anstehenden Präsidentschaftswahlen. Partei nimmt niemand. Als gemeinnützige Organisationen dürfen sich die Patrioten nicht in den politischen Prozess einmischen. Bei der Beurteilung eines Kandidaten aber, sagt Battles, stelle er stets denselben Vergleich an. «Meine Stimme kriegt, wer wie George Washington den Dienst an Amerika vor seine eigene Person stellt.»
Children of the American Revolution (CAR) Die Vereinigung CAR wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der Kinderbuchautorin Harriett Lothrop gegründet, und zwar als der Kinderund Jugendlichenverband der Daughters of the American Revolution (DAR). Wie bei den Töchtern dürfen bei den Kindern nur direkte Nachfahren amerikanischer Revolutionäre beitreten. Lothrop war davon überzeugt, junge Menschen so zu aufrichtigen Amerikanern erziehen zu können. Heute zählt CAR über 10 000 Mitglieder in allen fünfzig US-Bundesstaaten, aber auch in Irland, Frankreich oder Deutschland. Mitglied werden kann man ab Geburt, mit 21 Jahren gehen die Mädchen zur DAR, die Jungen zu den Sons of the American Revolution.
mit der würde kommt die pflicht, die erhabenheit über andere menschen. das dass scheiße ist, ist mir auch klar.