Joe Pistone – Detective Mafia

Diamantendieb war seine Tarnung, Donnie Brasco sein Deckname: Sechs Jahre lang lebte FBI-Agent Joe Pistone Seite an Seite mit den Mafiosi der Familie Bonanno. Jetzt redet er.

Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Fotos)

joe_pistone_peter_hossliMister Pistone, unter welchem Namen sind Sie in diesem Hotel gemeldet?
Joe Pistone: Ich wohne nicht in diesem Hotel. Wenn ich reise, melde ich mich stets unter anderen Namen an, nie unter Pistone.

Sie haben die Mafia vor Jahren infiltriert. Warum verstecken Sie sich noch immer?
Pistone: Die Mafia hat eine Prämie von 500’000 Dollar auf mich ausgesetzt und das Kopfgeld nie zurückgezogen. Erkennt mich zudem irgendein Cowboy, könnte er sich sagen: «Lege ich Donnie Brasco um, werde ich berühmt.»

Sie riefen mich an und meldeten sich als Donnie Brasco. Wissen Sie überhaupt noch wer Sie sind?
Pistone: Donnie Brasco ist ein bekannterer Name als Joe Pistone. Sie reagierten sofort auf Donnie Brasco. Aber ich weiss etwas: ich bin Joe Pistone.

joe_pistoneMit dem Decknamen infiltrierten Sie die Bonanno-Familie. Wie haben sie ihn ausgewählt?
Pistone: Donnie Brasco – ich mag, wie er klingt.

Wir treffen uns in Las Vegas, der Spielerstadt, die der Mob einst fest im Griff hatte. Ist das noch immer so?
Pistone: Das Glücksspiel kontrolliert die Mafia heute nicht mehr. Sie hat ihre Finger bei den Lieferanten drin. Die Kasinos geben jedes Jahr enorme Summen aus für Seife, für Besteck und Geschirr, für die Wäscherei. Da mischt die Mafia heute noch mit.

Kein FBI-Agent hat das organisierte Verbrechen tiefer unterwandert als Sie. Warum gelang es Ihnen?
Pistone: Ich bin ein ausgeglichener Mensch. Für diese Arbeit muss man mental sehr stark sein. Diese Stärke er-möglichte es mir, mich zu fokussieren und nie aufzugeben.

Allein deshalb wählte Sie das FBI damals aus?
Pistone: Ich hatte eben eineinhalb Jahre verdeckt ermittelt. Dabei unterliefen mir keine Fehler. Zudem bin ich Italiener. Ich kenne die Mafia. Ich wuchs in einem Quartier auf, das die Mafia kontrollierte.

Sie mussten nie lernen, ein Mobster zu sein?
Pistone: Entweder Du bist es, oder Du bist es nicht. Ich agierte wie Mafiosi, redete wie sie, ging wie sie.

Weil Sie mit Gangsters aufwuchsen. Es muss eine mitreissende Jugend gewesen sein. Doch statt sich der Mafia anzuschliessen, wurden Sie Polizist. Warum?
Pistone: Wer in einem solchen Quartier in New Jersey aufwuchs, wurde Mafioso oder Polizist. Meine Eltern bläuten mir ein, den rechten Weg einzuschlagen.

Später fiel die Mafia auf Sie herein. Warum?
Pistone: Ich blieb stets mich selbst. Ich habe nie vorgegeben, jemand anders zu sein. Und ich hatte viel Geduld. Ich hegte und pflegte diese Typen, bis sie glaubten, ich sei Donnie Brasco der Diamantendieb.

Wie hegt und pflegt man Mafiosi?
Pistone: Ich kannte ihre Sprache und wusste, wie sie organisiert waren. Und ich wusste wie sie tickten.

Gleichwohl: Sie waren ein Polizist. Warum schöpfte die Mafia so lange keinen Verdacht?
Pistone: Meine Legende war dicht. Als Diamantendieb kannte ich mich aus bei teuren Steinen. Alarmanlagen wa-ren mir vertraut. Ich wusste, wie man in Gebäude eindringt oder Tresore knackt. Zudem erwirtschafte ich der Mafia sehr viel Geld.

Man geht nicht einfach in eine Mafia-Bar und sagt, «hallo, ich trete Euch bei». Wie kamen Sie rein?
Pistone: Mit viel Geduld. Ich wusste, wen ich infiltrieren wollte. Zuerst besuchte ich Bars und Restaurants auf der Mulberry Street in Little Italy in Manhattan. Dann in Brooklyn, wo meine Typen vor allem herumlungerten. Öfters zeigte ich mein Gesicht – bis endlich jemand mit mir zu reden anfing.

Und dem boten Sie dann Diamanten an?
Pistone: Es ging viel langsamer. Die Mafiosi mussten glauben, sie umgarnten mich, während ich sie umgarnte. Schritt für Schritt baute ich Barrieren ab. Mit dem ersten Typ verbrachte ich insgesamt acht Monate bis ich ihm ein paar edle Steine zeigte und ihn fragte, ob er sie für mich verkaufen könne.

Waren die Diamanten echt?
Pistone: Es waren konfiszierte Steine der US-Regierung.

Hätte Sie die Mafia entdeckt, wären Sie sofort umgebracht worden. Wie gingen Sie mit der Gefahr um?
Pistone: Schauen Sie, jeder muss mal sterben. Wenn die Zeit kommt, kommt sie. Ich hatte das Vertrauen, dass dies noch nicht meine Zeit war. Etwas kann ich überdies wirklich gut – am Leben bleiben.

Das taten Sie sechs Jahre lang unter hartgesottenen Gangstern. Wann hatten Sie mal richtig Angst?
Pistone: Einmal zweifelte ein Typ meine Identität als Diamantendieb an. Er drohte, mich in einen Teppich einzurollen und umzubringen.

Wie haben Sie ihn davon abgebracht?
Pistone: Es ist alles eine Frage der Kommunikation. Ich musste mich rausreden ohne zu Schwitzen, ohne nervös zu werden, ohne Angst zu zeigen. Ein anderes Mal warf mir einer vor, der Familie Drogengelder in der Höhe von 250’000 Dollar gestohlen zu haben. Just befand der Familienrat darüber. Verläuft so ein Treffen gut, kommen die Mafiosi danach raus und gratulieren dir, verläuft es negativ, laden sie dich ins nächste Auto und fahren dich davon.

Was taten Sie während dem Familienrat?
Pistone: Ich hing einfach rum und wartete, bis er vorbei war. Was hätte ich sonst tun sollen?

Andere flippen aus und rennen davon.
Pistone: Ich dachte nie daran, davon zu rennen. Ich verliere nie die Kontrolle.

Sie hatten eine Wohnung in Manhattan. Ab und zu besuchten Sie Ihre Frau und drei Töchter in Jersey. Wie schwierig war es, wieder Joe Pistone zu sein?
Pistone: Ich sah meine Familie ja höchstens alle fünf oder sechs Monate für einen oder zwei Tage. Wirklich zurückgehen musste ich also nicht.

Wie änderte sich das Verhältnis zu Ihrer Familie?
Pistone: Mein Status als Familienvorstand schwand merklich. Meine Frau und meine Töchter erledigten alles ohne mich. Sie brauchten mich nicht mehr. Das hatte ich zu akzeptieren, dagegen konnte ich nichts tun, am nächsten Tag ging ich ja wieder weg war.

Wie hielten Sie es aus, Ihre Frau und Ihre Kinder monatelang nicht zu sehen?
Pistone: Ich war überzeugt, die Gesellschaft und mein Land zu verbessern. Davon profitierten dereinst ja auch meine Kinder. Hätte ich es getan, um ein Star zu werden, wäre ich sicher daran zerbrochen.

Sind Sie noch verheiratet?
Pistone: Ja.

Wie nur konnten Sie Ihre Frau behalten?
Pistone: Ich weiss es auch nicht. [lacht]. Sie blieb, weil ich nie von ihr wegrannte. Wir hatten diese innige Verbindung, die selbst dann nicht zerbrach als ich weg war. Sie wusste, dass mir enorm wichtig war, was ich tat.

Ihre Kinder müssen wütend sein auf Sie.
Pistone: Sie waren noch klein.

Wie beschützen Sie Ihre Familie heute?
Pistone: Nach dem ersten Prozess zogen wir fünfmal um, um Distanz zu schaffen, letztes Mal vor zwei Jahren. Öf-ters wechseln meine Frau und die Kinder ihre Namen. Ich halte sie der Öffentlichkeit fern.

Wer sechs Jahre lang vorgibt, eine andere Person zu sein, verändert sich wohl. Wie verlief das bei Ihnen?
Pistone: Nicht meine Persönlichkeit, mein Kleiderschrank änderte sich. Ich musste mich besser kleiden, schönere Hosen und schicke Jacketts tragen. Die Kleidung musste meine Rolle treffen.

Sie mimten einen Diamantendieb. Warum nicht einen Drogenhändler oder einen Autodieb?
Pistone: Es musste ein Job sein, den ich allein ausüben konnte. Die meisten Diamantendiebe arbeiten alleine. Zudem wählte ich einen Beruf, der nicht gewalttätig war. Als Autodieb musst du Tag und Nacht Autos stehlen, sonst lohnt es sich nicht. Als Diamantendieb landest du einen Coup pro Monat und verdienst eine Menge Geld damit.

Geld ist wichtig für die Mafia…
Pistone: … warum bist du sonst dort? Geld ist alles. Mit mir war die Mafia zufrieden, ich verdiente recht gut. Ich brachte ihnen Diamanten und Edelsteine. Zudem half ich, Schlösser zu knacken, in Häuser einzudringen und Alarmanlagen zu entschärfen.

Begingen Sie echte Verbrechen? Oder brachten Sie einfach Diamanten der Regierung vorbei?
Pistone: Hätte ich keine Verbrechen begangen, hätte mich die Mafia nicht gebraucht.

Was durften Sie tun? Wie weit ging die Immunität?
Pistone: Ich durfte keine Gewaltverbrechen begehen, durfte auf niemanden schiessen, keinen verhauen. Gestattet waren mir Einbrüche ohne Gewalt. Selbst durfte ich keine Verbrechen initiieren.

Wie aufregend ist es für einen Cop, kriminell zu sein?
Pistone: Es entspricht nicht meiner Natur, Verbrechen zu begehen. Aber nur so konnte ich Beweise sammeln, um diese Leute in den Knast zu bringen.

Die Gangster verdienten weit mehr Geld als ein Beamter wie Sie…
Pistone: … ich war nie versucht, die Seite zu wechseln. Nie.

Andere Geheimagenten sind zur Mafia gewechselt.
Pistone: Natürlich. Wer für diesen Job nicht den nötigen Fokus und die mentale Stärke mitbringt, kann daran zerbrechen.

Die Mafia ist gewalttätig. Sie tötet. Ihnen war das verboten. Wie konnten Sie es verhindern?
Pistone: Das war schwierig, zumal ich öfters den Auftrag erhielt, Leuten umzubringen. Zum Glück tauchten die Typen immer rechtzeitig unter.

Sie haben als Donnie Brasco nie jemanden getötet?
Pistone: Nein, nie.

Was haben Sie getan, wenn Sie einen fanden, den Sie hätten töten sollen?
Pistone: Das FBI schnappte und versteckte ihn.

Wie kontaktierten Sie das FBI ohne Mobiltelefon?
Pistone: Es gab überall öffentliche Telefonzellen. Darüber wickelte ich meine ganze Kommunikation ab. Ich hatte stets genügend Wechselgeld dabei.

Das FBI konnte innert Minuten reagieren?
Pistone: Innert Stunden. Zumal ich darauf verzichtet hatte, beschatten zu werden. Gangster erkennen eine Beschattung stets und fragen sich, wer warum überwacht wird. Zudem rettet dich eine Beschattung nicht. Als Geheimagent kannst du dir das Leben nur selbst retten.

Wie konnten Sie zuschauen, dass die Mafia andere tötet?
Pistone: Wen tötet die Mafia? Wen verletzt sie? Ihresgleichen. Sie tötet keine unschuldigen Bürger.

Sie spürten kein Verbarmen für die Opfer?
Pistone: Sie hatten das Gangsterleben ja selbst gewählt. Ich hatte sie nicht dazu gedrängt.

Das FBI stoppte Ihren Job kurz bevor Sie ein gemachter Mann wurden, bevor sie die Bonanno-Familie zum echten Mitglied der Mafia erhob. Waren Sie froh darüber?
Pistone: Oh nein. Ich empfand es als lächerlich, die Operation jetzt abzubrechen, drei Monate bevor ich zum gemachten Mann wurde. Ich ermittelte sechs Jahre lang geheim. In wenigen Monaten wäre ich ein gemachter Mann gewesen. Für die Mafia wäre es höchst peinlich gewesen, hätte sie einen FBI-Agenten in ihren geheimsten Kreis aufgenommen.

Dann wollten Sie die Mafia erniedrigen?
Pistone: Klar. Für mich wäre es höchst befriedigend gewesen, in die geheime Organisation aufzusteigen.

Warum stoppte Sie das FBI?
Pistone: Es herrschte Krieg innerhalb der Familie. Viele starben. Ich sollte ebenfalls bald getötet werden.

Sie lebten sechs Jahren mit den Bonannos zusammen. Haben Sie Freundschaften geschlossen?
Pistone: Es ist unmöglich, diese Leute sieben Tag die Woche und 365 Tage im Jahr zu sehen und sich nicht mit ihnen anzufreunden. Es war mir aber stets klar, wie diese Freundschaften zustande kamen. Es waren meine Freunde wegen der geheimen Operation. Etwas vergass ich dabei nie: Das waren allesamt Gangster und Mörder, die in der Lage waren, ihren besten Freund jederzeit umzubringen.

Sie waren der Trauzeuge von Benjamin Lefty Ruggiero, dem Gangster, den Al Pacino im Film «Donnie Brasco» verkörpert. Wie reagierten Sie auf seine Anfrage?
Pistone: Da wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich hatte sein Vertrauen gewonnen.

Neben Lefty wurde Sonny Black Napolitano ein guter Freund. Kurz nach Ihrem Rückzug musste Lefty ins Zuchthaus. Napolitano wurde umgebracht, weil er für Sie gebürgt hatte. Spürten Sie Reue?
Pistone: Es war nie meine Absicht, dass andere wegen umgelegt werden. Ich sammelte Beweise, damit die Leute ins Gefängnis kamen. Allerdings hatten diese Kerle ihr Leben als Gangster selbst gewählt. Als Gangster gehst du entweder in den Knast oder du wirst getötet.

Wie haben die beiden reagiert, als sie herausfanden, dass ihr langjähriger Freund ein FBI-Agent war?
Pistone: Lefty drückte gegenüber seinen Anwälten tiefen Hass auf mich aus. Sonny Black erzählte seiner Freundin etwas anderes: «Donnie war besser als ich, besser als wir alle, er erledigte seinen Job, er verleitete uns nie zu Verbrechen, die wir nicht ohnehin verübt hätten, er war einfach nur besser als wir.»

Dann zollte Ihnen die Mafia Respekt?
Pistone: Sonny, ja.
Respektierten Sie Ihre Mafia-Freunde?
Pistone: Sie blieben ihren Prinzipien treu. Sonny und Lefty waren Gangster. Sie blieben auch dann Gangster als sie wussten, wer ich war. Sonny starb wie ein Mann. Er hätte zum FBI rennen und ausplaudern können. Er tat es nicht. Kurz bevor Lefty hätte getötet werden sollen, schnappte ihn das FBI. Er verbrachte 15 Jahre hinter Gittern – und sagte nie ein Wort. Hätte er gesungen, wäre die Strafe milder ausgefallen. Er tat es nicht. Das respektiere ich.

Sie beschreiben die famose Schweigepflicht, die omerta, die Filme und Fernsehserien oft glorifizieren. Wie nah kommt die Pop-Kultur der echten Mafia?
Pistone: Die echte Mafia ist nicht romantisch. Mobster zitieren nicht ständig Aristoteles und Sokrates. Es sind Diebe, Gangster, Killer. Sie lungern zwar in Bars und Clubs herum, aber sie reden nicht wie Shakespeare.

Wenn jemand die Schweigepflicht bricht, stirbt er?
Pistone: Ja, es ist das Todesurteil.

Wie wird es vollstreckt?
Pistone: Sie fahren dich an einen stillen Ort und erschiessen dich. Andere nehmen Klaviersaiten und erwürgen dich.

Just steht Pistone auf. «Ich habe jetzt eine geschäftliche Sitzung.» «Ich hätte noch ein paar Fragen, zudem sollten wir Sie noch fotografieren.» «Holen Sie mich um 9 ab.» Stunden später wartet er in der Lobby. Er trägt dieselben Ho-sen und dasselbe blaue Hemd. Nur die Brille hat er gewechselt. Vier Typen stehen um ihn herum. «Wir sind alles Italiener», grüsst einer freundlich. «Meine Grossmutter war auch Italienerin, sie wanderte einst von Verona in die Schweiz ein.» Stille, verdeckt rollen Augenpaare. Eines wird in diesem Moment klar: «Italiener» bedeutet in diesen Kreisen nur Sizilianer.

Joe Pistone zwängt seine langen Beine in den kleinen Mietwagens. Es geht Richtung Downtown Las Vegas. Eine dunkle Gasse eignet sich als Kulisse für ein Bild. Einer seiner Begleiter sitzt vorne. Pistone lässt sich auf dem Rücksitz befragen.

In Ihren Memoiren beschreiben Sie Gangster, die wenig Geld haben. Wie einträglich ist eine Karriere als Mafiosi?
Pistone: Gangster müssen jeden Tag klauen, um ihren Lebenswandel zu finanzieren. Es gibt gute und schlechte Diebe. Ein paar sparen ihr Geld, andere geben es so schnell aus wie sie es stehlen.

Wer wird reich? Alle, oder doch nur die Bosse?
Pistone: Hauptsächlich die Bosse. Es gibt Gangster, die haben ein durchschnittliches Einkommen, verwalten es geschickt und haben ständig Geld. Ich kannte aber auch Typen, die an einem Tag 100’000 Dollar einnahmen und zwei Tage später pleite waren. Sie hatten alles verspielt.

Donnie Brasco kriegte sein Geld von der US-Regierung. Wie grosszügig gaben Sie es aus?
Pistone: An einem Tag lud ich alle ein, am nächsten liess ich mich einladen. Als Geheimagent konnte ich nicht zu viel ausgeben. Sie hätten sich gefragt, woher das Geld käme. Zudem hätten sich mich gnadenlos ausgenommen.

Mafiosi leben ständig mit dem Wissen, getötet oder verhaftet zu werden, kein angenehmes Lebensgefühl. Was hält die Leute trotzdem in der Mafia?
Pistone: Sie wollen keinen legalen Job. Sie wollen nicht jeden Morgen aufstehen und das gleiche tun. Zudem schätzen sie das Ansehen, das die Mitgliedschaft in einer geheimen Organisation bringt.

Ist die Mafia strikte männlich?
Pistone: Die Mafia kennt keine Gleichberechtigung. Du musst weiss, männlich und Sizilianer sein. Den Frauen bleibt nur die Rolle der Ehefrauen. Wissen sie es, dass Ihre Männer Mafiosi sind? Natürlich. Wissen es die Kinder? Natürlich.

Warum schrieben Sie Ihr erstes Buch «Donnie Brasco: My Undercover Life in the Mafia»?
Pistone: Ich wollte den Mythos der Mafia zerschlagen, aufzeigen, dass das keine romantischen und unantastbaren Typen sind. Schliesslich hatten wir sie infiltriert und die Bosse eingesperrt. Während des ersten Prozesses realisierte ich, wie gross das Interesse für diese Geschichte ist. Tagelang berichteten die wichtigen Zeitungen auf den Titelseiten darüber.

Sie sagten öffentlich aus. Alle sahen Ihr Gesicht, hörten Ihre Stimme. Wie schützen Sie seither Ihr Leben?
Pistone: Ich blieb bis 1996 beim FBI, dort war ich sicher. Jetzt reise ich stets mit drei oder vier Kerlen, mit denen sich keiner anlegen will. Mein Undercover-Job erntete bei der Polizei viel Respekt. Wo ich hingehe, hat es Cops, die mich beschützen wollen.

Es wird oft argumentiert, Ihre Arbeit hätte die italienische Mafia zerstört. Hat sie sich seither erholt?
Pistone: Es ist unmöglich, das organisierte Verbrechen auszulöschen. Wir haben es neutralisiert. Damals kontrol-lierte die Mafia die amerikanische Wirtschaft. Weil sie die Gewerkschaften kontrollierte, kontrollierte sie das Trans-port- und das Bauwesen, die Fischmärkte und die Textilindustrie. Sie entschied, welche Politiker und Richter gewählt wurden. Als die Bosse ins Gefängnis mussten, ging diese Macht abhanden. Die Mafia hat nun niemanden mehr, der Politiker und die Gewerkschaften peinigen könnte.

Wie hat die Mafia seither darauf reagiert?
Pistone: Sie änderte ihre Taktik. Früher kontrollierte der Mob nur den Import und den Grosshandel der Drogen. Die Feinverteilung überliessen sie anderen, in ihre eigenen Quartiere kamen keine Drogen. Die heutigen Gangster dealen überall, sogar vor der eigenen Haustüre. Früher nahmen die Mafiosi selbst keine Drogen, die jungen Mobster verkaufen und nehmen Drogen.

Deren moralischen Codes sind weniger strikt?
Pistone: Sie haben weniger Respekt und keinen Bezug zur Tradition. Das hat die Mafia geschwächt.

Wie wirkt sich das auf die neuen Donnie Brascos aus?
Pistone: Es gibt nie mehr einen Donnie Brasco.

[Lacht]
Pistone: Sie lachen. Aber es ist wahr. Zwar gibt es Typen, die verdeckt ermitteln. Aber niemand taucht so lange unter und bettet sich bei der Mafia so tief ein wie ich das getan hatte. Heute eröffnen Geheimagenten Firmen und tätigen Geschäfte mit der Mafia. Ich hatte nie eine Firma. Ich lebte mit der Mafia. Ich war einer von ihnen.

Gehen Sie heute noch zurück zur Mulberry Street?
Pistone: Ab und zu, aber immer mit ein paar Typen an der Seite. Vor ein paar Monaten war ich da. Ein Kerl kam heraus und sagt, «zum Teufel, Donnie, was treibst denn du hier? Hast du nicht schon genug Ärger gemacht?» Ich antwortete, «offenbar nicht, du bist noch immer auf freiem Fuss.» Die Leute in Little Italy erinnern sich schon an mich.

Nach dem Ende der sechsjährigen Geheim-Operation erhielten Sie vom FBI eine Verdienstmedaille und 500 Dollar. Hat es sich gelohnt, dafür Ihr Leben aufzugeben?
Pistone: Ich tat es weder für Geld noch für den Orden. Es war mein Job. Es reicht mir zu wissen, gute Arbeit, et-was Gutes für die Gesellschaft und mein Land getan zu haben. Es ist so einfach, zumindest für mich.