Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Verheissungsvoll blickt Christian Rey nordwärts, über die Reling hinweg. Tiefgraue Wolken hängen über der Passagierfähre, die ihn von Staten Island nach Manhattan bringt. Mit jedem Wellengang rückt die Skyline seiner Träume etwas näher. Einen Job in einem dieser gläsernen Wolkenkratzer strebt Rey an. Zuvor investierte er in Costa Rica die Vermögen anderer, er wickelte Börsengänge ab, strukturierte Schulden. Nun sucht der Banker “ein besseres Leben in New York”.
Das dunkle Haar ist frisch frisiert, das karierte Hemd gestärkt, die Schuhe sind poliert. Eindruck schinden will er in Personalabteilungen amerikanischer Investmentbanken, um “mit meinem Fachwissen endlich was zu bewirken”, sagt Rey, 34. Seit zehn Monaten sucht er Arbeit. Vergebens. Er dachte, seine gute Bildung und die vielseitige berufliche Erfahrung würden ihn rasch vermitteln. Zudem besitzt er dank seiner amerikanischen Ehefrau eine Arbeitsbewilligung. “Ich dachte, es sei einfach”, erzählt er weiter.
Er irrte. Unterschätzt hatte er die enormen kulturellen Unterschiede bei der Stellensuche. Beachtet in Costa Rica ein Arbeitgeber allein die Kompetenz, zählt in den USA nur das Erreichte. Lange wunderte sich Rey, warum niemand auf seinen Lebenslauf reagierte. “Er war völlig falsch formuliert “, weiss er nun. Nicht einem chronologischen Abriss, sondern einer einladenden Werbebroschüre muss das Curriculum Vitae ähneln. “Prahlen gilt in meinem Land als unhöflich”, sagt er in fast akzentfreiem Englisch. “In den USA musst du ständig protzen.”
Wie das geht, lernt Rey derzeit bei Jane Leu, der Gründerin der Non-Profit-Organisation Upwardly Global. Es ist Samstag früh an der New Yorker Park Avenue. Leu hält ein Seminar für Stellensuchende ab. Rasch und präzise redet die zierliche und eifrige Frau. Pausiert sie, erfasst ihr Blick am Fenster das silbern schimmernde Chrysler Building. “Es ist tragisch, wenn Ingenieure, um zu überleben, Taxis fahren.” Leu vermittelt hoch qualifizierten Einwanderern aus Entwicklungsländern in den USA angemessene Stellen. Damit, ist sie überzeugt, hilft sie sowohl den Neuankömmlingen als auch der amerikanischen Wirtschaft. Die US-Firmen profitierten vom Wissen und von der internationalen Erfahrung der Ansiedler. Auf der anderen Seite ermögliche sie den Immigranten “in der neuen Heimat ein würdevolles Leben”.
Amerikanische Eigenarten lernen
Sie hat Erfolg. Leu, deren Vorfahren einst aus der Schweiz – aus Schaffhausen – in die USA kamen, startete Upwardly Global 2001 in ihrer Küche. Mittlerweile beschäftigt sie 13 Personen in Büros in New York und San Francisco. Ihr Budget schwoll von 267 000 Dollar im Jahr 2005 auf 1,6 Millionen Dollar im laufenden Jahr an. Für Leu der wichtigste Erfolgsindikator: Bisher betreute die Organisation 500 Arbeitssuchende aus aller Welt, 2007 werden es voraussichtlich 900 sein. “Es macht mich glücklich, wenn andere glücklich sind” sagt sie.
Die meisten, die zu ihr kommen, muss Leu zuerst ermutigen. “Viele überspringen eine emotionale Hürde, um Hilfe anzunehmen”, erzählt sie. Öfters kämen Immigranten, die seit Jahren einen Job suchen und seit Jahren einen zerknitterten Artikel über Upwardly Global in der Tasche tragen. Mit realen Erfolgsgeschichten zeigt ihnen Leu, dass es möglich ist, eine Stelle zu kriegen. Dann amerikanisiert sie deren Lebenslauf, setzt etwa den Doktortitel wieder rein, den jemand für eine Bewerbung bei McDonald’s fallen liess. Sie vermittelt den ausländischen Kandidaten amerikanische Eigenarten sowie Techniken für das entscheidende Vorstellungsgespräch. Ein Mentor führt die Bewerber schliesslich in die angestrebte Branche ein. “65 Prozent der Jobs werden über Beziehungen vergeben”, erklärt Leu. “Beziehungen, die den Einwanderern fehlen. Wir verbinden sie mit Amerika.”
“Ethnische Vielfalt hebt den Gewinn”
Mitte der Neunzigerjahre betreute Leu Asylbewerber – und traf auf völlig veraltete Strukturen. Die USA waren auf Flüchtlinge aus Südostasien ausgerichtet, auf ungeschulte Reisbauern, die nach dem Vietnamkrieg eintrafen und rasch einen Job auf einer Farm fanden. Bei Leu sprachen aber Anwältinnen aus Serbien, Banker aus Bosnien oder Ingenieure aus Somalia vor. “Diesen Fachkräften mangelte es ebenso an kulturellem Verständnis wie auch an Wissen über Amerika als Ganzem.” Ihre Organisation sollte die fehlende Brücke schlagen. Gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg spielend, Westeuropäer zu integrieren, fehlt jetzt das Verständnis für hoch qualifizierte Menschen aus Entwicklungsländern. “Das ist ein enormer Verlust für Amerika”, sagt Leu, die betont, keine Wohltätigkeitsorganisation zu führen. “Es zahlt sich aus, ausländische Experten anzustellen”, bläut sie den Konzernen ein, denen sie Leute vermittelt. Zehn Millionen Fachleute fehlen der US-Wirtschaft im Jahr 2010. “Immigranten können diese Lücke schliessen.” Ist die Belegschaft ethnisch und geografisch vielfältig, findet sich ein Konzern rascher auf dem globalen Markt zurecht. Die Firma wird dynamischer. “Ethnische Vielfalt hebt den Gewinn”, weiss Leu.
Netzwerk von 300 Freiwilligen
Angespannt sitzt José Sanchez am runden Holztisch. Der Kolumbianer hat sich für ein Übungsinterview hergerichtet. Der gestutzte Oberlippenbart betont das freundliche Gesicht. Zum schwarzen Hemd trägt er eine schwarze Krawatte. 2002 heiratete der Ingenieur eine Amerikanerin und zog nach New York. Seither rackerte er, um zu überleben, wusch Teller, servierte, schleppte Koffer, putzte. Derzeit überführt Sanchez, 37, in einem Grossmarkt von Home Depot Ladendiebe. “Keine Bedeutung in den USA” hätten seine zehn Berufsjahre in der Finanzwelt Kolumbiens.
Konzentriert blickt Sanchez den Interviewern in die Augen. Die PR-Fachfrau Jeizel Pickett, 27, und der Investmentbanker Michael Fox, 28, führen das Gespräch. Beide gehören dem rund 300 Personen umfassenden Netzwerk von Freiwilligen an, das Upwardly Global aufgebaut hat. “Was erwarten Sie von der neuen Stelle?”, will Fox zuerst wissen. Rasch findet Pickett heraus, dass Sanchez in Kolumbien 16 Leute unter sich hatte. Bei Home Depot weist der Ausländer ein Dutzend anderer Wächter an, alles Amerikaner. “Was sind Ihre Stärken?”, fragt Fox, ein Engländer, der in New York bei Goldman Sachs arbeitet. “Ich kann Leute motivieren”, sagt Sanchez. Zudem verlange sein derzeitiger Job ein hohes Mass an kulturellem Verständnis. “Wir haben jüdische und islamische Kunden; ich achte darauf, dass ich niemanden berühre oder lange anschaue.”
Sanchez verkaufe sich viel zu schlecht, stellen die Testfrager bei der anschliessenden Auswertung des Interviews fest. Im Lebenslauf fehlten seine Führungsfähigkeiten, beim Gespräch preise er sie kaum an.
Wenn Gestik und Augenspiel plötzlich wichtig werden
Ein Verhalten, dem Jane Leu allzu oft begegnet. Immigranten seien es nicht gewohnt, ein Gespräch zu dominieren. Rasch gelten sie als wenig fokussiert. Perplex reagierten sie auf die oft gestellte Frage, was ihr grösster Misserfolg sei. “Misserfolge sind vielerorts Tabu”, sagt Leu. Oft versage zudem die Körpersprache. Verblüfft war etwa Christian Rey, der Banker aus Costa Rica, wie bei einem Interview die Hände oder das Augenspiel beobachtet werden. “Es war für mich neu, aufgrund meiner Gestik beurteilt zu werden.”
Gelassen sitzt Sandra Plaza in einem fensterlosen Sitzungsraum im 34.Stock an der 58. Strasse. Sie trägt einen schicken, karierten Hosenanzug, das schwarze Haar fällt ihr auf die Schultern, sie spricht einnehmend und zuversichtlich. “Ich habe es geschafft.” Rechtsbücher umgeben sie. Seit November betreut die 36-jährige Kolumbianerin für die New Yorker Anwaltskanzlei Akst & Akst Immigranten.
Aus politischen Gründen kam die Anwältin vor sechs Jahren in die USA. “Mein Leben war bedroht”, erzählt sie und verschweigt warum. Knapp schildert sie ihre Story, “eine Erfolgsgeschichte”, betont sie. Sie kam mit ihrer Tochter und ihrem Mann, einem Ingenieur. Niemand sprach Englisch. Die Familie erhielt Asyl – und fing von vorne an. Sie betreute Babys, ihr Mann fuhr schwere Lastwagen, “um zu überleben”, sagt Plaza, die im neuen Land “um mehrere soziale Schichten” fiel. In Kolumbien hatte sie einen Chauffeur, einen Gärtner, eine Putzfrau. Hier musste sie zuerst die Fahrprüfung bestehen und einen Staubsauger kaufen.
“Höchst unbefriedigend” war es für die Juristin, anderen Kindern die Windeln zu wechseln. Nie hätte sie aber den Fokus verloren, “unser Leben aufzubauen”, erklärt sie. Ihr Englisch verbesserte sich, schliesslich fand sie Upwardly Global. Die Organisation arbeitete ihr Curriculum Vitae um und brachte ihr amerikanische Eigenheiten näher.
Lernen, dem Chef in die Augen zu schauen
Sie lernte, mit kräftigen Handschlägen Respekt zu entlocken. Niemand würde in Kolumbien zum Gruss die Hände schütteln, sagt Plaza. Gilt es als unanständig, einem kolumbianischen Chef in die Augen zu schauen, sucht sie nun ständig Augenkontakt. “Das signalisiert in den USA, dass du offen und direkt bist.” Sie war es gewohnt, ihre beruflichen Erfolge stets zu teilen und in der dritten Person darüber zu reden. “Hier zählt das Ich, nicht das Wir”, sagt Plaza. “Es geht um dich, du musst die Grösste sein.”
Ein Mentor brachte sie schliesslich mit George Akst zusammen, einem New Yorker Anwalt, der seit 30 Jahren Einwanderern Visa besorgt. “Weil sie als Immigrantin jene Empfindlichkeiten mitbringt, die meinen Klienten wichtig sind”, habe er Sandra Plaza eingestellt, erläutert Akst.
Plaza hofft, demnächst das New Yorker Anwaltspatent zu erwerben und allenfalls eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Sie besitzt eine Wohnung in Stamford, Connecticut, eine Zugstunde von Manhattan entfernt. Spanisch ist für die Tochter eine Zweitsprache. Nur ihr Mann bekundet Mühe mit Englisch. Noch fährt er Lastwagen. Trotzdem: Für Plaza ist “Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten” geworden, sagt sie. “Du musst nur zugreifen.”
Die klassische Tellerwäscher-Karriere
Von seinem Büro aus sieht Waspada Peranginangin die Baustelle am Ground Zero, dort wo einst das World Trade Center stand. Er arbeitet als interner Rechnungsprüfer, im 21.Stock am Firmensitz des Finanzhauses JP Morgan Chase. Der heute 33-jährige Banker war vor fünf Jahren aus Indonesien eingewandert; die USA gewährten dem religiös Verfolgten Asyl. Es folgte eine mehrjährige Odyssee durch das Land, das ihm “ein besseres Leben” bescheren sollte. Von Los Angeles nach Seattle, er war in Chicago, in Milwaukee und Houston, in Salt Lake City, schliesslich in New York. Der Akademiker schrubbte Böden, wusch Geschirr, servierte Hamburger mit Cola. Für Starbucks braute Peranginangin Kaffee, für Subway strich er Sandwiches. “Das Leben setzte mir zu”, sagt Peranginangin, der in Jakarta als Berater und Rechnungsprüfer bei internationalen Konzernen anspruchsvoll wirkte. “In den USA war ich ein Gefangener”, sagt er. “Ich wollte diesem Land mein Können weitergeben; ohne amerikanischen Hochschulabschluss, ohne lokale Erfahrung war ich chancenlos.” Just belegte er Kurse an der New York University. Er langweilte sich, wusste mehr als der Lehrer. Ein Freund schickte ihm einen Artikel über Upwardly Global. Er meldete sich, “ohne etwas zu erwarten”, sagt Peranginangin.
Prompt half ihm Jane Leu, “mein angeschlagenes Selbstvertrauen zu stärken”, sagt er. “Sie hat mir beigebracht, mich zu verkaufen.” Nach nur einem Monat erhielt er von JP Morgan Angebote in zwei Städten. Er entschied sich für die Finanzmetropole New York. “Ich war sprachlos”, sagt er. Zumal er neben dem hohen Lohn und der kostenlosen Krankenkasse einen Bonus erhielt. “Ich habe mein Ziel erreicht, ich arbeite in Amerika für eine US-Firma.”
Klare Trennung von Privatleben und Job
Im Schnitt verdoppeln Immigranten, die zu Upwardly Global gehen, ihr Einkommen. Jobs mit Jahressalären von 25 000 bis zu 85 000 Dollar hat die Organisation bisher vermittelt. “Wäre ich in Europa geblieben, würde ich mehr verdienen”, meint hingegen Olena Lysenko. Die 26-jährige Ukrainerin sitzt in einem Café am Metrotech, einem Bürokomplex in Brooklyn. Das gewellte blonde Haar hat sie hinten zusammengeschnürt. An der Diplomatenschule von Kiew studierte sie Wirtschaft, im bayerischen Coburg erwarb sie ein MBA. Neben Russisch und Ukrainisch spricht sie auch fliessend Deutsch und Englisch. Sie arbeitete in der Finanzkommission des ukrainischen Parlaments und als Expertin für die grösste Bank ihrer Heimat, Prominvestbank.
Zudem sei sie “jung, vif, ehrgeizig und global ausgerichtet”. All das würde ausreichen, um in der Welthauptstadt der Hochfinanz rasch einen Job zu finden. Zumal sie mit einem Amerikaner verheiratet ist und eine Green Card besitzt. Olena Lysenko lag falsch. Ihr fehlte, was Immigranten oft fehlt – das Verständnis für die amerikanische Art. Als “riesig” bezeichnet sie die Unterschiede. “Oft habe ich das Gefühl, von einem anderen Planeten zu kommen.” Nicht geläufig war ihr etwa die klare Trennung zwischen persönlichen und beruflichen Dingen. Schmunzeln musste Jane Leu, als sie das Foto sah, das Lysenko an ihren Lebenslauf geheftet hatte – ein absolutes Tabu in der amerikanischen Geschäftswelt. An ihr erstes Vorstellungsgespräch nahm sie zudem all ihre akademischen Auszeichnungen und Diplome mit, um zu beeindrucken. Vergebens. “Keiner wollte sie sehen.”
Seit September wickelt sie für JP Morgan Chase Schatzanweisungen ab und verwaltet Konten von Pensionskassen – “ein Einsteigerjob”, wie sie sagt. “Als Ausländerin muss ich unten anfangen, obwohl ich besser ausgebildet bin als höher platzierte Amerikaner.” Es sei der Preis, den Einwanderer zahlen. Ewig möchte sie ohnehin nicht in New York bleiben. Eine Familie gründe sie in der Ukraine. “Ich will etwas lernen, das ich dann meiner Heimat weitergebe.”
Jane Leu will global tätig werden
Damit ist Lysenko keine typische Kandidatin für Upwardly Global. Bewusst betreut Jane Leu nur Einwanderer aus Entwicklungsländern, die ein Visum haben und in Amerika bleiben wollen. Die Hälfte seien Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten. Um Westeuropäer, die in die USA ziehen, kümmere sie sich nicht. “Sie wollen ihren Lifestyle verändern, dazu brauchen sie meine Hilfe nicht”, sagt Leu.
Sie beabsichtigt, bald schon eine dritte und vierte Zweigstelle zu eröffnen – und die Idee nach Australien und Grossbritannien zu tragen. “Die Globalisierung bewegt nicht nur Güter, sie bewegt Menschen, viele davon sind hoch qualifiziert”, sagt sie. Dies kreiere auf den Arbeitsmärkten weltweit grosse Verunsicherungen, die sie beheben will. “Ich bin besessen davon, Probleme zu lösen”, beschreibt Leu ihre Umtriebigkeit. Der Eifer entstammt wohl dem Gewerbehaushalt, in dem sie aufwuchs. Ihre Eltern betrieben in Cleveland, Ohio, eine Metzgerei.
Verkniffen blickt Christian Rey in den eisigen Wind, der über den Hudson River fegt. Frust liegt in seiner Stimme. Noch hat er keine Stelle. “Gibt mir jemand eine Chance, dann zeige ich, was ich kann”, sagt er. Hätte er den Fuss drin, ist Rey überzeugt, winkte auch ihm einer der famos hohen Wall-Street-Boni. Er gibt nicht auf, denkt nicht daran, nach Miami zu gehen, obwohl der Costa-Ricaner dort vermutlich bessere Chancen hätte. US-Banken tätigen von Florida aus das Geschäft mit Lateinamerika. Er will es in New York schaffen. Denn, so Rey, “Sinatra hatte Recht: Schaffst du es in New York, schaffst du es überall.”