Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Rasch zieht Tony Hendrichs am gelben Seil, das über ihm baumelt. Eine Sirene schrillt, eine orange Lampe blinkt. Prompt stoppt das Fliessband, auf dem im Schritttempo rohe Karosserien vorbeigleiten.
«Was ist los?», ruft ein Arbeiter. «Ein Lift klemmt», sagt Hendrichs, ein gedrungener Kerl mit Oberlippenflaum. Gelassen trotten zwölf Arbeiter zu ihm hin. Wenige Worte fallen. Dann gehen alle an ihre Plätze zurück. Die Sirene schrillt, flugs rollt das Fliessband an.
Sie hätten das Problem kollektiv gelöst, sagt Hendrichs, der seit 18 Jahren am Fliessband werkt. Der Lift hebe jetzt effizienter. «Wir nennen das “kaizen” – ständige Verbesserung.» Kaizen. Japanisch.
Mitten in Kentucky, im beschaulichen Städtchen Georgetown, schwören amerikanische Schichtarbeiter auf japanische Weisheiten. Hier, in Amerikas Hinterwald, betreibt Toyota das grösste Autowerk ausserhalb Japans. Amerikaner stellen Autos her, die sich allesamt verkaufen und für das Mutterhaus satte Gewinne erzielen. Es ist die verblüffende Kehrseite der kriselnden US-Autoindustrie. Schreiben General Motors (GM) oder Ford Rekordverluste, schwingt Toyota in diesem Jahr als weltweit grössten Autobauer obenauf. Der Grund: Toyota verkauft in der Autonation nicht nur mehr Autos denn je, der Konzern hat den Amerikanern auch beigebracht, die Fahrzeuge gewinnbringend zu fabrizieren – in Georgetown seit 20 Jahren.
Toyota hat über 5 Milliarden Dollar in das weisse, fensterlose Werk investiert, das in einer Senke nordöstlich der Innenstadt liegt. 7000 Arbeiter – sie heissen Teammitglieder – fabrizieren in zwei Schichten jährlich eine halbe Million Wagen. Vornehmlich den Typ Camry, das meistverkaufte Auto in den USA.
«Es ist ein amerikanisches Auto», betont Hendrichs. «80 Prozent der Bestandteile sind “made in America”, die US-Firmen schneiden da viel schlechter ab.» Den Ausverkauf seiner Heimat verneint er und sagt: «Toyota fahren ist patriotisch.»
So wie Hendrichs denkt Georgetown. Die Stadt verdankt ihren unvergleichlichen Boom den Japanern. Die Zahl der Einwohner schwoll von 8000 auf heute fast 25 000 an. Zehn lokale Fabriken beliefern Toyota. Mindestens einmal im Jahr wird eine neue Schule eröffnet. Die Kindergärten sind übervoll, ebenso das College. Das Spital vervierfachte die Bettenzahl. Während landesweit die historischen Innenstädte zerbröckeln, säumen in Georgetown säuberlich renovierte Häuser die Hauptstrasse. Fünf Restaurants servieren seit Kurzem sogar Bier und Wein. Über Georgetown, der Heimat des famosen Bourbons, lag jahrzehntelang ein Alkoholverbot. Nun stoppten junge Familien, allesamt von Toyota angelockt, die Prohibition.
Täglich nimmt die Handelskammer neue Mitglieder auf, heute die Praxis eines Nierenarztes. Mit einer überdimensionierten Holzschere durchtrennt Doktor Ziad Sara das rote Band. Gesichter strahlen, Applaus brandet auf, Blitzlichter zucken, die Bürgermeisterin redet. «Wir sind stolz, in unserer Stadt nun Blut zu waschen.» Toyota wollte es.
Das kam so: Ziad Sara, einst aus Syrien eingewandert, fragte bei Toyota nach, ob bei der Belegschaft Nierenprobleme aufträten. Als die Japaner bejahten, reagierte der Nierenspezialist und liess sich in der Stadt nieder.
Die Stadtpräsidentin ist ein Fan der Japaner
Dass in Georgetown ohne Toyota nichts rollt, weiss Karen Tingle-Sames. Die gross gewachsene Blonde mit einnehmendem Südstaatenlächeln wuchs hier auf. Seit Anfang Jahr regiert sie die Kleinstadt. Burgunderrot wie ihre Bluse hat sie das Eckzimmer im zweiten Stock der City Hall streichen lassen. «Wir haben die modernste Wasserversorgung und die besten Strassen in ganz Kentucky», sagt sie. «Dank Toyota.» Die Autobauer leisten zwei Drittel der Lohnsteuereinnahmen. Der Konzern trägt gar über 90 Prozent der lokalen Firmensteuer bei. «Wir beten zu Gott, dass sich das nicht ändert», sagt Tingle-Sames. Doch sie belässt es nicht dabei, die amerikanische Politikerin hofiert die japanische Firma. Regelmässig fährt sie zur Fabrik hoch, um, wie sie sagt, «zu erfahren, welche Bedürfnisse Toyota gerade hat». Bei ihrem ersten Besuch erhielt sie «The Toyota Way», ein Sachbuch, das die Methoden des japanischen Fabrikanten schildert. Sie las es – und war begeistert. «Nun wende ich das Toyota-Prinzip in der Stadtverwaltung an.»
Wie die Teammitglieder sollen sich die Beamten nun ständig verbessern und konstant Kosten sparen. Das allein erkläre den Erfolg von Toyota und die gleichzeitige Krise bei GM und Ford jedoch nicht, betont die republikanische Stadtregentin. Für sie ist klar: «Toyota ist erfolgreich, weil sie keine Gewerkschaften hat.»
Peggy Turley stimmt ihr zu. Seit 19 Jahren arbeitet sie für Toyota. Sie sagt: «Ich will keine Gewerkschaften.» Einst nähte sie in einer Kleiderfabrik Hemden. Dort hätten die Unions-Funktionäre monatlich Gebühren eingestrichen, öfter geurlaubt und nichts getan. Turley, eine selbstbewusste Frau mit kurzem schwarzem Haar, sitzt im hellen Schauraum der Fabrik, neben einem Camry Hybrid. «Toyota behandelt uns gut, wir brauchen keine Gewerkschaften.»
Dank hohem Lohn und den Sozialleistungen habe sie zwei Kinder allein aufziehen können. Der Konzern stärkte sie. «Toyota schenkt uns viel Aufmerksamkeit, deshalb sind wir bereit, der Firma etwas zurückzugeben», sagt sie. «Wir geben 100 Prozent, weil wir jeden Prozess kennen.» Werken in US-Autofabriken Arbeiter jahrelang am selben Platz, lässt Toyota das Personal zwei- oder dreimal rotieren – täglich. Dicke Rollen aus dünnem Stahl lagern auf makellos sauberem Linoleum. Ein Gabelstapler hievt sie zu einer Schneideanlage, von wo aus kleinere Stücke zum Stanzwerk gelangen. Dort stanzen die Kolben Karosserieteile aus dem grauen Blech. Nun legen Arbeiter Hand an. 20 Stunden später rollt ein Auto auf den Parkplatz. Lenker fahren es in bereitstehende Waggons.
An der Decke der blitzblanken Fabrik hängt eine schwarze Kiste, die in Realzeit anzeigt, wie viele Autos die jeweilige Schicht zu bauen hat: Heute sind es 536. Sie zeigt an, wie viele fertig sind: 459. Sie errechnet, wie hoch die Auslastung ist: 97,7 Prozent. Ein Computer kalkuliert sofort, ob Überstunden anstehen, um die Vorgabe einzuhalten. «Alle wissen, dass sie Zusatzschichten schieben», sagt Hendrichs. «Das gehört bei uns dazu.»
Bevor er Autos zusammenschraubte, kochte er Dinners und diente in der Armee. Das prädestinierte ihn geradezu für einen Job bei Toyota. Der Konzern stellte nämlich ungern Arbeiter ein, die zuvor schon Autos gebaut hatten. Es ist einfacher, Novizen das Toyota-Prinzip einzubläuen. «Wir sind Schüler», sagt General Manager Tom Zawacki. Unter der Aufsicht von japanischen Managern richtete er vor 20 Jahren die Fabrik ein. «Vergiss alles, was du weisst», bestellten die Japaner dem einstigen GM-Vorarbeiter. «Eigne dir das Bewusstsein an, dich ständig verbessern zu wollen.» Er sei seither nie mehr zufrieden gewesen, sagt Zawacki, ein massiger und fröhlicher Kerl mit dünnem grauem Haar. Wenig erinnert bei ihm an die graziöse und enthaltsame japanische Art.
In dieser Fabrik herrscht eine «gesunde Paranoia»
Ständig müsse die Qualität verbessert, die Sicherheit erhöht, der Ausstoss vermehrt werden. Die Firmenkultur beschreibt er als «gesunde Paranoia»: «Läuft es gut, muss es besser werden.» Das sei nicht einfach für die heiteren Amerikaner. «Sie feiern Erfolge überschwänglich», sagt Zawacki, «bei Toyota liegt der Fokus auf dem Negativen.» Ein Prinzip, das sich auszahlt. Wer einen Missstand behebt, erhält Geld. Steigern Einsparungen die Produktivität, erhöht Toyota die Löhne – aber nur dann.
Toyota sei profitabel, weil die Abläufe wenig Material vergeuden, sagt Tom Zawacki. Die Fabrik in Georgetown erzeugt keinerlei Abfall, alles wird rezikliert. Das Werk kann innert Tagen auf ein anderes Modell umrüsten. Die US-Fabrikanten brauchen Wochen dafür.
Nicht nur bei der Produktion ist Toyota günstiger. Schieben die US-Konzerne den Gesundheitskosten die Schuld für das Darben zu, betreibt Toyota auf dem Gelände vieler Fabriken eigene Spitäler. Das Personal kauft in der Toyota-Apotheke Generika-Pillen ein. Es besucht den Toyota-Arzt. Da stramme Körper seltener erkranken, ermutigt der Konzern seine Leute mit einem Bonussystem, sich regelmässig zu trimmen. Zufriedene Angestellte und strikte Kostenkontrolle allein erklären den Erfolg nicht. Jeder Wagen, der in Georgetown übers Fliessband rollt, ist bereits verkauft. «Unsere Produkte gefallen», sagt Zawacki. Sitzen Ford oder GM auf Zehntausenden von Autos, die keine Käufer finden, muss Toyota mehr Autos importieren als geplant. Die Firma sucht nach Standorten für weitere US-Fabriken.
Unter tiefgrau bewölktem Himmel stehen bei Green’s Toyota Dutzende von Geländewagen, daneben ebenso viele Camry Hybrid in Reih und Glied. «Letztes Jahr schlug ich jeden Rekord», sagt Lance Royalty, Chefverkäufer des grössten Toyota-Händlers in der Region. Toyota hat amerikaweit den Umsatz 2006 um 25 Prozent gesteigert, Green’s hat sogar um 50 Prozent zugelegt. Ein Viertel der Kunden seien Toyota-Angestellte, die Rabatte kriegen, sagt Chefverkäufer Royalty. Die Mitarbeitenden kaufen jedoch nicht jedes Jahr ein neues Auto, wie das etwa GM-Arbeiter tun. Im Gegenteil.
In Georgetown, wo überwiegend Toyotas verkehren, kursieren die Geschichten von Autos, die schon ewig fahren. «Mein Truck ist elf Jahre alt, ich könnte mir ein neues Auto kaufen», sagt etwa Tom Zawacki. Er wolle aber dereinst prahlen können, sein Auto fahre seit 20 Jahren.
Vor 20 Jahren hatte man hier noch Angst vor den Japanern
Die innige Verbundenheit bestand nicht immer. Mitte der Achtzigerjahre, als japanische Financiers in New York das Rockefeller Center und das Empire State Building kauften, fürchtete man im beschaulichen Georgetown die japanische Invasion. Man hatte Angst davor, ein zweites Detroit mit reichlich Kriminalität zu werden. Die Insektenplage, die kurz nach der Eröffnung des Werks die Stadt befiel, kreidete man Toyota an. Der Fremdling würde US-Jobs zerstören, hiess es. Das traf zu, jedoch nicht in Kentucky. US-Autofirmen bauten Zehntausende von Stellen ab. Toyota aber beschäftigt in den USA 40 000 Personen, 400 000 weitere arbeiten zudem in direkten Zulieferfirmen.
Toyota will amerikanisch sein. Eine Werbekampagne zeigt die Autos in berühmten US-Landschaften. Am Werkseingang flattert das Sternenbanner. Wenn Teammitglieder in den Krieg ziehen, hält ihnen Toyota stets den Job frei. In Georgetown sind nur noch 5 Prozent der Belegschaft japanisch.
Abgesehen vom grellen Kimono, der im Rathaus hinter Glas hängt, fehlen japanische Spuren weitgehend. Wenige nutzen den japanischen Garten, den Toyota einst anlegte. Sushi gibt es in der Stadt nicht. Jeni Gruchow serviert im «Fava», dem populärsten Restaurant der Stadt, Hamburger und Pommes frites, Sandwichs und Apfelkuchen. Die buckelige Brillenträgerin steht hinter der Kasse und zählt Bargeld. Hätte sie mehr Platz, sagt sie, könnte sie doppelt so viele Tische füllen. Sie macht es mit Catering wett. Verunfallt jemand in einer Toyota-Familie oder wird ein Kind geboren, bestellt die Fabrik bei ihr Essen für alle, «um den Stress zu mindern».
Eddie Wynn erhielt einen freien Tag, um seine 18-jährige Tochter und ihr krankes Baby zum Arzt zu fahren. Er zog aus Ost-Kentucky hierher, von dort, wo Amerikas Kohle vergraben liegt. Als Teenager riskierte er in nasskalten Minen sein Leben. «Es war dreckig und gefährlich», sagt Wynn, 40, «alle vier Monate verlor ich die Stelle.» Bei Toyota, wo er acht Arbeiter führt, seien «Entlassungen nie ein Thema». Dank dem japanischen Konzern lebt er den amerikanischen Traum. Wynn, an dessen Hals ein Kreuz hängt, steht vor einem stattlichen Haus mit fünf Schlafzimmern. In der Garage stehen zwei Motorräder von Harley-Davidson, davor ein silberner Toyota-Truck mit acht Zylindern. Zufrieden blickt er über die sanften Hügel, an deren Fuss sich die Reihenhäuser reihen. Wenige stehen leer, viele sind im Bau. Während der Immobilienmarkt anderswo stockt, wächst er hier unaufhörlich weiter. Neue Siedlungen legen sich öfter Golfplätze oder Hallenbäder zu.
«Go Girl, go!», ruft George Steanbeck, 42. Locker steht der 2-Meter-Mann mit dem grauen Bürstenschnitt am Court der Basketball-Halle der Highschool. Seine Tochter hat sich eben den Ball geschnappt, dribbelt an einer Gegnerin vorbei, steigt hoch und wirft einen Korb. Sie trainiert für das Toyota Classic, ein nationales Turnier in Georgetown. «Keine Highschool des Landes hat eine modernere Basketball-Halle», sagt Steanbeck. «Toyota hat sie bezahlt.» Seit 20 Jahren lackiert er Autos. «Ich ging zu Toyota, weil du dort das Gefühl bekommst, wichtig zu sein.»
Nun sorgt er sich. «Toyota wird amerikanisch», sagt Steanbeck. Das Werk finde nicht mehr genügend unerfahrene Arbeiter und heuere vermehrt ehemalige GM- oder Ford-Leute an. «Sie gefährden unsere Kultur.»
Auto-Weltleader
Ende 2006 gab Toyota eine Zahl bekannt, die General Motors verstimmte. 2007 werde der japanische Konzern 9,42 Millionen Autos fabrizieren, eine Zunahme von 4 Prozent. Toyota will dieses Jahr neue Werke in China, Russland und Thailand eröffnen. Zudem kommt eine neunte Fabrik in den USA hinzu. Sie wird in Blue Springs, Mississippi, zu stehen kommen. Dieser symbolträchtige Entscheid ist der zweite Schock für die Amerikaner: Nur einen Steinwurf entfernt liegt nämlich Tupelo, der Geburtsort der US-Ikone Elvis Presley. Als Seichi Sudo, Toyota-Chef USA, den Standortentscheid vor etwas mehr als einer Woche bekannt gab, trug er eine Elvis-Brille auf der Nase und angeklebte Koteletten an den Wangen. Elvis verkündete: 2010 sei Eröffnung und es würden jährlich 150 000 Autos vom Band rollen.
General Motors, seit 76 Jahren die Nummer 1, hat hingegen vor, Fabriken zu schliessen und Leute zu entlassen. Analysten erwarten nicht, dass GM 2007 mehr Autos herstellen wird als letztes Jahr (rund 9,18 Mio). «Es wird ein trauriger Tag sein, wenn Toyota an uns vorbeizieht», sagte GM-Chef Rick Wagoner unlängst. «Wir werden dafür kämpfen, Nummer 1 zu bleiben.» Anders tönt Toyota. «Wir konzentrieren uns nicht darauf, die Nummer 1 zu sein», sagt Toyota-Sprecher Victor Vanov, «wir wollen die Besten sein.»
Ein Prinzip, das sich auszahlt. Erzielte Toyota im letzten vollen Geschäftsjahr einen Gewinn von über 12 Milliarden Dollar, schrieb GM einen Verlust von über 16 Milliarden