Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Fotos)
Die vergilbte Visitenkarte erzählt die ganze Geschichte. «Chuck Wepner», steht vorne, «Wein- und Schnapshändler.» Hinten schimmert bläulich ein unscharfes Foto, das einen verschwitzten Hünen zeigt, der aufrecht davon trottet, weg vom grössten Boxer aller Zeiten. Der liegt angeschlagen auf den Brettern. «Überstand 15 Runden gegen Muhammad Ali», steht beim alten Bild. «Hat die ‹Rocky›-Filme inspiriert.»

Ein rosaroter Rosenstrauss aus Plastik ziert das Kaffeetischchen in Wepners Stube. Die Tapeten sind blumig gemustert. Es riecht nach Parfüm. Spiegelwände lassen die Dreizimmerwohnung in Bayonne, New Jersey, grösser erscheinen als sie ist. Wepner, 67, zwängt seinen knapp zwei Meter langen und über hundert Kilo schweren Rumpf in den eierschalenfarbenen Ledersessel. Er trägt schwarz und bequem, eine verwaschene Trainingshose und ein kurzärmliges Leibchen. «Natürlich sind wir wieder Freunde», sagt Wepner, und korrigiert sich. «Wir sind immer Freunde geblieben.» Wir – das sind er und Stallone. Der waghalsige Boxer, dessen Mut im Ring die Karriere des Akteurs beflügelt hatte. Gekriegt hatte der «Real Rocky» dafür nie etwas. Vergebens wartete er auf eine bescheidene Geste, auf eine Rolle in einem Film, auf eine Entschädigung.

Vergangenen August schlossen Stallone und Wepner einen Vergleich. Der Star zahlt dem Boxer eine geheim gehaltene Summe und anerkennt Wepner als rechtmässigen Rocky.
Was für Wepner eine späte Genugtuung war, ist perfektes Timing für Stallone. Mit «Rocky Balboa» gelangt nun die sechste und vermutlich letzte Folge der Filmserie in die Kinos, die weltweit über drei Milliarden Dollar eingespielt hat. Ein noch laufendes Verfahren hätte die Premierenfeier getrübt. Dazu nicht eingeladen ist Wepner. Er schaut sich den Film in einem lokalen Kino an, «am Nachmittag, wenn es nicht voll ist».
Ohnehin erwartet er nicht allzu viel. «Es ist doch lachhaft, wenn Stallone mit 61 Jahren erneut in den Ring steigt und um den Titel boxt.» Er selbst hörte mit 40 auf, um «auch im Alter noch gerade reden und zuhören zu können». Die meisten seiner gleichaltrigen Boxkumpel hätten heute «matschige Köpfe», sagt er. Er blieb fit, mental wie körperlich, weil er hart trainierte, kräftig schlug und furchtlos kämpfte. Mehr hatte er nicht. Wepner war – wie Rocky im Film – ein weisser Boxer mit grossem Herz und wenig Talent. Ein Rüpel ohne Grazie. Mit «Bandenkrieg» umschreibt er seinen Stil, «die Glocke läutet, ich renne drauflos», so Wepner. Bessere Boxer schüchterte er ein, um sie zu besiegen.
Auf der Strasse lernte er zu kämpfen, raufte mit Halbstarken, nie unterlag er in einer Bar oder einer dunklen Gasse, sagt er. Zu boxen begann er als Marinesoldat. Später lud ihn der halbblinde Coach des Boxvereins von Bayonne zu einem Probetraining. Er hatte Wepner beobachtet, wie er als Türsteher unliebsame Gäste aus schummrigen Nachtclubs warf. Alsbald erwarb er sich den Kosenamen «Bayonne Bleeder», der Bluter von Bayonne, ein Fighter, der meist blutüberströmt den Ring verliess. 327 Mal musste er genäht werden. Er holte etliche nationale Titel und verkaufte nebenher Bier und Wein. Schliesslich boxte und verlor er gegen die Grossen der Zeit, gegen Sonny Liston, gegen George Foreman.

Als bestplatzierter weisser Schwergewichtsboxer erhielt Wepner der Zuschlag – und weil ihn keiner ernst nahm. «Ich war der klare Underdog», sagt er. «Ali hatte eben in einen harten Kampf Foreman geschlagen, er suchte jemanden, den er mühelos verhauen konnte.» Bei 30 – 1 lag die Wettquote. Wepner galt als Witzfigur. «So einer steht für das weisse Amerika?», spottete Ali. Wepner gefiel das. «Ali würde mich unterschätzen und ich war in der Form meines Lebens.» Erstmals trainierte er vollzeitlich. Sieben Wochen lang lud ihn Don King in ein Luxushotel in die Catskills, ein Hügelzug nördlich von New York. Er rannte, er ass, er boxte, er schlief.

Ali behielt den Titel. Als Held stieg aber Wepner aus dem Ring. Tugendhaft führte er das amerikanische Ideal – und auch Klischee – vor, hatte als Underdog der schier unbesiegbaren Übermacht die Stirn geboten. «Jetzt lacht niemand mehr über Wepner», schrieb der Sportkolumnist der «New York Times». Don King fiel Wepner um den Hals. «Du bist mein Held, du hast mir das Leben gerettet.»
Landesweit zeigten etliche Kinos den Ali-Wepner-Fight live. Der Legende nach mit seinen letzten vierzig Dollar kaufte sich Sylvester Stallone eine Karte für die Live-Übertragung in seiner Heimatstadt Philadelphia. Der ehemalige Pornodarsteller war begeistert, endlich hatte er die Story gefunden, die ihn aus der Zweitklassigkeit rausreissen würde. In derselben Nacht begann er zu schreiben. Eine Woche später hatte er sein Drehbuch bereits verkauft und den Zuschlag für die Titelrolle erhalten.
Wepner erhielt von einem Produzenten einen Anruf, ein neuer Film basiere auf seinem Leben. Er sah «Rocky» an der Premiere in New York und war fassungslos. «Der Film versetzt mich in Trance, genau wie der Ali-Fight Stallone in Trance versetzte», sagt Wepner. «‹Rocky› war besser als ich erwartet hatte, er erzählte mein Leben.» In Philadelphia, statt in Bayonne. Rocky ist wie Wepner ein lokaler Held, der in rauchigen Spelunken boxt, nie wirklich gross wird und für kleine Mafiosi Geld eintreibt; der wie Wepner als weisser Underdog eine Chance gegen den schwarzen und vorlauten Champion erhält; der ihn auf die Bretter haut, fünfzehn Runden durchhält, am Schluss verliert, aber die Herzen der Fans erobert; der einen halbblinden Coach hat und in einem düsteren Boxclub trainiert; der wie Wepner durch eine verschlissene Industriestadt und entlang des Hafens joggt.

«Rocky» erhielt den Oscar für den besten Film. Wepner kriegt nichts. Jahrelang erzählte er die Legende, Stallone hätte ihm 70’000 Dollar für die Rechte an seinem Leben bezahlt. Er schämte sich für die Wahrheit. Alles, was Stallone ihm versprach, fiel durch. Kurz vor Drehbeginn zu «Rocky II» etwa strich er sämtliche Szenen, in denen Wepner einen Sparringpartner namens Ching Webber mimen sollte. «Stallone vertröstete mich immer wieder, die richtige Rolle würde bestimmt kommen», sagt Wepner. Sie kam nie.
Mitte der achtziger Jahre trafen sie sich doch noch auf einem Filmset, in einem Gefängnis in Nord New Jersey. Wepner war mit Kokain erwischt worden und sass achtzehn Monate Haft ab. Stallone drehte im selben Knast das Zuchthausdrama «Lock Up» und besuchte Wepner. Der Boxer liess ihn eine halbe Stunde warten.
Heute ist Wepner nicht mehr nachtragend. «Stallone verdient, was er hat», sagt er. «Er hat es durch harte Arbeit selbst erreicht, er ist smart und ein grossartiger Autor.»
Das Telefon klingelt. Ein Kunde bestellt eine Kiste Wodka. Noch immer verkauft Wepner Schnaps. Drei Mal die Woche stemmt er Gewichte, am Fernsehen kommentiert er klassische Boxkämpfe, zur Ruhe setzen will er sich nicht. «Ich bin so fit wie ein Teenager», sagt er und ruft seine Frau Linda herein, eine voluptuöse Italienerin mit wasserstoffblondem Haar. «Sie ist eine Prinzessin», sagt Wepner. «Wäre kein Fotograf hier, läge sie noch im Bett.» Er ist zufrieden, sagt er. «Ich habe gut gelebt, wenn ich morgen tot umfalle, ist das okay, verpasst habe ich nichts.» Dreimal war er verheiratet, hatte «eine Million Frauen». Zwei Freundinnen und seine Frau sassen während des Ali-Fights am Ring. Er fährt einen massgefertigten und 60’000 Dollar teuren Cadillac. «Champ» steht auf dem Nummernschild, das ihm einst der Gouverneur von New Jersey gab. Ein Hollywoodstudio will nächsten Frühling einen Spielfilm über sein Leben drehen.
Ein Film, der etwas klarstellen soll. «Rocky ist bei Stallone ein dümmlicher Kerl», sagt Chuck Wepner. «Ich bin nicht dumm.» Es stimmt.
hab ich vorhin entdeckt…viel Spaß beim Lesen
Eine schöne Geschichte, bin durch eine andere Seite daruf gekommen. Danke.