Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Das Schicksal Amerikas entscheidet sich an einem aufklappbaren Metalltisch. Der ist rot-blau-weiss drapiert, mit Sternenbannern aus dünnem Plastik. Andächtig wie Primarschüler sitzen Craig Foltin und Betty Sutton auf klapprigen Stühlen. Fensterlos ist der Saal, in dem sie debattieren. Artig und faktenbezogen beantworten die zwei Bewerber für einen Sitz im US-Kongress die Fragen der Moderatoren.
Bis das Gespräch auf George W. Bush schwenkt. «Sicher», holt Craig Foltin gereizt aus, der republikanische Kandidat im steifen blauen Anzug und der dünnen gelben Krawatte. «Es gibt viele Gründe, Bush zu kritisieren.» Foltin ringt nach Worten, er ist aufgebracht, die kahle Kopfhaut zieht tiefe Runzeln. «Nicht der Präsident steht zur Wahl, es geht allein darum, was ich leiste.»
Das lässt sich durchaus sehen. Als Republikaner schaffte Foltin zweimal die Wahl zum Bürgermeister von Lorain, einer gewerkschaftlich verankerten Industrie-Stadt am Lake Erie, im Rostgürtel Amerikas. Binnen sechs Jahren halbierte er die Arbeitslosenzahl, von über zwölf auf unter sechs Prozent. Motorjachten legen vor neuen Häusern am Black River an. Mit Anzeigen im «Wall Street Journal» lockt Foltin die wohlhabende Mittelklasse nach Lorain – und hofft, die Trailer-Parks der Armen zu verdrängen. Detailriesen wie Wal-Mart oder Home Depot errichten am Stadtrand gerade neue Läden. Für das brache Gelände des unlängst geschlossenen Autowerks von Ford will er bereits Interessenten gefunden haben.
All das nützt ihm wenig. Die Demokratin Betty Sutton, 43, liegt beim Duell um den 13. Distrikt im Bundesstaat Ohio weit vorne, so die Umfragen. Ein Alarmzeichen für die Republikaner, wählt Amerika doch traditionell wie der Pulsnehmer-Staat Ohio. Und Ohio wählt gegen Bush.
Deshalb hat es die spröde Anwältin Sutton einfach. Es reicht ihr, nicht derselben Partei anzugehören wie der unbeliebte Präsident. «Wir haben genug von der korrupten Führung in Ohio und Washington», antwortet sie lächelnd, wenn sie auf ihren noch dünnen Leistungsausweis angesprochen wird.
Es ist das Motto vieler Demokraten bei den Zwischenwahlen von nächster Woche. Sechs Sitze im Senat und 15 im Repräsentantenhaus müssen sie den Republikanern abnehmen, um erstmals seit 1994 wieder das Parlament zu kontrollieren. Das scheint knapp möglich. Die republikanische Partei ist skandalumwittert, das Ende des Kriegs in Irak nicht in Sicht, historisch tief das Ansehen des Präsidenten. Das Zünglein an der Waage spielt – wie so oft – auch dieses Jahr Ohio. Foltin und Sutton duellieren sich um einen der wenigen frei gewordenen Sitze im Repräsentantenhaus. Die Partei, die ihn gewinnt, dürfte hernach Washington kontrollieren.
Umso zielstrebiger eifert Foltin zurück zu konservativen Werten, also weniger Steuern, weniger Staat, mehr persönliche Freiheit. Nicht der Defizite anhäufende Bush nennt er als Vorbild, sondern Teddy Roosevelt, der Inbegriff eines fiskalisch konservativen Republikaners. Nichts mehr will er wissen von Moral-Themen, die den evangelikalen Christen Bush zweimal ins Weisse Haus getragen haben. «Wähler haben andere Probleme als Schwulen-Ehen, sie bangen um Jobs», sagt er – und tönt wie ein Demokrat. Auch den Irakkrieg beurteilt er anders als der Präsident. «Wir sollten die Soldaten rasch heimholen.»
Er weiss: Die Wirtschaft, Irak oder das wackelige Gesundheitssystem beschäftigt die Menschen in Lorain. Nicht, was andere im Schlafzimmer tun. Mobilisierten die Republikaner Ohios ihre Basis vor zwei Jahren noch erfolgreich mit einer Abstimmung über die gleichgeschlechtliche Ehe, wird nun wie in vielen Bundesstaaten am Wahltag über die Erhöhung des minimalen Stundenlohns abgestimmt, in Ohio von 5.15 auf 6.85 Dollar.
Vornehmlich alte Autos stehen auf dem Parkplatz des deutschen Billighändlers Aldi. Heidi Flemming packt etliche Säcke Lebensmittel in ihren Kofferraum. «Jeden Monat fliessen sechs Milliarden Dollar in den Irak», sagt die Mutter dreier Kinder. Ohio hätte dieses Geld bitter nötig. «Während in Bagdad Feuerwehrdepots eröffnet werden, schliessen sie hier in Lorain.»
Frost liegt auf Autoscheiben. Orange Busse fahren Kinder zur Schule. Arbeiter in festen Schuhen schreiten auf das eiserne Tor des Stahlwerks von U.S. Steel zu, die letzte Fabrik Lorains, deren Schlote noch dampfen. Davor ragt auf zwei Säulen angebracht ein Billboard für Craig Foltin. Herbstliche Bäume säumen die Strassen. Ausgehöhlte Halloween-Kürbisse schmücken Haustüren. Wälder aus Wahlplakaten schmücken Gärten. «Reclaim Lorain» steht auf vielen Schildern, holt euch Lorain zurück. Will heissen: Die Stadt, die meist wählt wie die Nation, soll wie das ganze Land wieder demokratisch werden.
Von der reichen Einwanderer-Tradition der Arbeiterstadt zeugen der Czech Grill, der Polish-American und der Hungarian Club. «Heute werden die Jobs exportiert», sagt Stephen Jackson, ein 29-jähriger Schwarzer, der in Lorain aufwuchs und seit Monaten arbeitslos ist. Im Gyro-Dinner wartet er auf ein Sandwich. «Ich sehe den Aufschwung nicht», sagt Jackson, der jetzt ausserhalb Ohios nach einem Job sucht. Bei der letzten Wahl blieb er zu Hause, «was ich bereue». Nun hofft er auf einen Sieg der Demokraten, «damit das Outsourcing aufhört». Wie viele im industriellen Norden will Jackson mehr Protektionismus und weniger Immigration. Wohl vergebens glaubt er, das werde die stillgelegten Fabriken wieder aktivieren.
Jeden Abend zieht sich Roger Childs in den Veteranen-Club von Lorain zurück. Das Licht ist düster, die Musik leise. Er sitzt am Tresen, schlürft an einem Glas Bier. Fahnen und Medaillen gemahnen an geschlagene Schlachten. Am Fernseher vermeldet eine Sprecherin fünf tote US-Soldaten in Bagdad. «Wir hätten Irak nie angreifen sollen», sagt Veteran Childs, 59, der in Vietnam diente und danach im Stahlwerk von Lorain Schichten schob. «Irak ist das neue Vietnam, an beiden Orten hatten wir nichts zu suchen, beide Länder verstehen wir nicht.» Er hätte Bush lange unterstützt – bis er auf dem Flugzeugträger landete und verkündete, der Krieg sei jetzt vorbei. «Da habe ich realisiert, dass seine Truppe ahnungslos ist.» Diesmal werde er die Demokraten wählen, «weil wir frische Ideen brauchen, um aus dem Irak-Schlammassel raus zu finden.»
Wählen – wie alle Umfragen andeuten – viele Amerikaner wie Childs, stehen Bush und den Republikanern zwei unangenehme Amtsjahre bevor. Passé ist der Freipass, der mit der Mehrheit im Parlament wie die Macht im Weissen Haus kam. Die Demokraten wollen die Steuerkürzungen rückgängig machen. Die vermeintlichen Lügen über Iraks Waffen sollen ebenso entziffert werden wie Vizepräsident Dick Cheneys dubiose Deals mit der Energieindustrie oder die heimlichen Lauschangriffe auf US-Bürger. Gar ein Amtsenthebungsverfahren drohe Bush bei einem demokratischen Wahlsieg, sagen Analysten – quasi als Racheakt für Bill Clinton.
Sichtlich nervös macht diese Aussicht Amy Sabath, die Managerin der Kampagne von Craig Foltin, dem republikanischen Bürgermeister von Lorain. Kräftig zieht sie an einer schlanken Zigarette. Kaum hat sie eine fertig geraucht, steckt sie die nächste an. Sie sitzt in der Wahlkampfzentrale, wirkt müde, das blonde Haar stumpf. Sie weisst Freiwillige an, Plakate zu einem Lieferwagen zu tragen. «Wir geben nicht auf, obwohl wir zurück liegen.» Sie weiss: Nur wenn ihr Kandidat gewinnt, bleibt die Mehrheit im US-Kongress republikanisch. «Foltin lag schon bei anderen Wahlen hinten – und gewann dank starkem Finish.» Doch der Optimismus ist verhalten. Ihr Kandidat müsse «fünfmal härter» um Stimmen feilschen als die Gegnerin. «Es ist eine sehr schwierige Kampagne», gibt Sabath zu. «Zwar haben die Demokraten nichts Neues zu bieten, aber wir müssen Bush schlagen.»
Leichter hat es da die Opposition. Die Demokraten haben ihr Wahlquartier in einem Holzhäuschen am Stadtrand eingerichtet – und den Urnengang just zur Protestwahl erklärt. Auf roten Schildern, die John Hunter sortiert, steht in weissen Lettern die einzige demokratische Botschaft: «Enough is enough», wir haben genug. «Geldspenden fliessen reichlicher als je zuvor», sagt Pensionär Hunter, der 40 Jahre lang bei Ford tätig war und nun für die Demokraten Wähler mobilisiert. Jeden Abend dirigiert er ein Heer von Freiwilligen, die telefonisch demokratische Kandidaten anpreisen. «Wir gewinnen, weil die Wähler Bush ein Zeugnis ausstellen», sagt Hunter. «Deren Fazit: ‹ungenügend›.»
Bereits als Sieger steht in Lorain einer fest. «Ein Spitzenjahr» verzeichnet der Drucker Ben Zlentarski. Er stellt die Wahlplakate beider Lager her. «Da alle Sitze umkämpft sind, ist die Nachfrage höher als sonst, von beiden Parteien», freut sich der massige Kerl mit dem buschigen Schnurrbart. Wen wählt er? Das wisse nur seine Frau. «Hey, ich will doch keine Kunden verärgern.»
Box: Sieger und Verlierer
Es war eine Schlagzeile, die republikanische Strategen ungern gelesen haben: «Demokraten erhalten späte Wahlkampfhilfe von der Wirtschaft», titelte die «New York Times» am letzten Samstag. Da manche Konzernchefs das Gefühl hätten, die Demokraten würden bei den Zwischenwahlen die Mehrheit im US-Parlament erringen, würden sie nun vermehrt Spenden an demokratische Kandidaten auszahlen. Einen derart dramatischen Wechsel vor einer Wahl gab es letztmals 1994, als die Republikaner den Senat wie das Repräsentantenhaus übernahmen.
Auch die Wallstreet hat sich auf einen Wechsel eingestellt. Nicht alle erwarten allerdings dramatische Veränderungen bei einem demokratischen Wahlsieg. Das geht aus einem Bericht hervor, den die UBS im Oktober publiziert hat. Da der Vorsprung in Senat und Repräsentantenhaus gering ausfallen werde, bleibe Präsident Bush stets das Veto, um schwerwiegende Gesetzesänderungen zu stoppen. Allerdings könnte die zu erwartende Untersuchung der Bush-Regierung viele negative Schlagzeilen hervorbringen, die ein giftiges Klima an der Börse schaffen.
Dennoch sind klare Gewinner und Verlierer absehbar:
Gewinner:
Alternative Energie (Firmenbeispiele: Energy Conversion Devices, MEMC Electronics Materials, Cypress Semiconductor), weil Erderwärmung und Ölunabhängigkeit zentrale Themen der Demokraten sind.
Lebensversicherer (Lincoln National, Phoenix, National Financial Partners), weil die Demokraten die Erbschaftssteuer nicht kürzen wollen. Das führt zu einer Nachfrage nach Lebensversicherungen.
Biowissenschaft (Invitrogen, Applied Biosystems, Affymetrix), weil die Demokraten das Budget des National Institute of Health vergrössern wollen.
Hypothekarinstitute (Fannie Mae, Freddie Mac), weil die Demokraten weniger strenge Gesetze für die halbstaatlichen Hypothekarbanken wollen.
Verlierer:
Pharma und Biotech (alle Firmen der Branche), weil die Demokraten die Pillenpreise in den USA drücken wollen.
Öl-, Energie- und Kohleindustrien (alle Firmen der Branche, insbesondere Halliburton), weil die Förderung alternativer Energien die demokratische Plattform bestimmt. Die Rolle von Halliburton im Irak soll untersucht werden.
Fastfood-Ketten (alle Firmen der Branche), weil die Demokraten landesweit den Minimallohn erhöhen wollen und offen für Klagen wegen Fettsucht sind.
Telecom (AT & T, Verizion, Quest), weil die Demokraten Netzneutralität wollen und bei Kartellfragen weniger freundlich als die Republikaner sind.