Die Leiden der alten Dame

Ein Pflegefall in New Yorks High Society bewegt Amerika: Der Enkel der Multimillionärin Brooke Astor klagt deren Sohn an, die 104-jährige Dame zu vernachlässigen. Es geht ums Erbe.

Von Peter Hossli

War es der Urin ihrer Hunde, oder gar ihr eigener? Diese Frage erhitzt derzeit New York. Täglich enthüllen Boulevard- wie Qualitätsblätter neue Details in einem grotesken Streit zwischen Philip Marshall, 53, und Vater Anthony Marshall, 82. Ende Juli reichte Philip eine Klage gegen seinen Vater ein. Dieser soll seine 104-jährige Mutter Brooke Astor dahin siechen lassen und ihr das Mil-lionenvermögen abluchsen.

Die Vorwürfe sind horrend. So habe Anthony das Pflegepersonal für die geistig wie körperlich schwache Mutter reduziert und ihr teure Medikamente sowie Kosmetika von Estée Lauder ge-strichen. Der Sohn, der seit 1979 für die Pflege der Mutter und deren Finanzverwaltung jährlich 2,3 Millionen Dollar kriegt, soll ihr den Kauf von neuen Kleidern ebenso verboten haben wie Injek-tionen für Blutarmut. Ihre Lieblinge, die Vierbeiner Boysie und Girlsie, entfernte er. Schlafen müs-se die zierliche Dame auf einem nach Urin stinkenden Sofa, geht aus der zuerst von der «Daily News» publizierten Klageschrift hervor.

Ausgerechnet Brooke Astor, die First Lady von New Yorks besseren Gesellschaft. Jahrelang galt: Nur wer zu ihrem erlauchten Dunstkreis zählt, ist in New York wer. Ihre Partys sind so legendär wie sie glamourös waren, ihr Beziehungsnetz ist hochkarätig. Zur Astor – dem blaublütigen Klan aus Amerikas Gründerjahren – wurde sie durch ihre dritte Ehe mit Vincent Astor. Als dieser 1959 starb, überliess er ihr 120 Millionen Dollar mit dem Auftrag, mindestens die Hälfte davon wohltä-tig zu verschenken. Brooke tat weit mehr. Sie vermehrte das Geld und gab bis 2002 fast 200 Millionen Dollar an Museen, Bibliotheken und etliche Wohltätigkeitsorganisationen weiter.

Wie prominent die für exquisite Hüte und Gewänder bekannte Brooke ist, unterstreichen die eidesstattlichen Erklärungen, die Philip Marshalls Klage stützen: David Rockefeller, einst CEO der Chase Manhattan Bank und selbst blaublütig, stützt Philip Marshall, ebenso der einstige US-Aussenminister Henry Kissinger oder Annette de la Renta, 66.

Die Gattin von Modezar Oscar de la Renta gilt als engste Freundin von Brooke Astor. Die beiden kennen einander seit 45 Jahren und sollen eine Art Mutter-Tochter-Beziehung haben. Ein New Yorker Richter hat dem Rechnung getragen und de la Renta vorübergehend das Sorgerecht für die Betagte übertragen und es Marshall entzogen. Derweil übernahm J. P. Morgan die Verwaltung ihres auf 200 Millionen Dollar geschätzten Vermögens.

Ein Heer von Reportern recherchiert. Über 50 Artikel hat die «New York Times» seit Ende Juli zum Fall veröffentlich. Die Boulevard-Blätter jagen sich mit ständig lauteren Schlagzeilen. Nach-barn von Astor kommen zu Wort. Finanzexperten geben Tipps zu Pflegekosten ab. Kolumnisten leitartikeln über allerlei Gefahren anstehender Erbschaften.

Anthony Marshall, Sohn aus Astors erster Ehe, sieht sich einer Hetzkampagne ausgesetzt. «Ge-schockt» sei er über die «komplett falschen Anschuldigungen». Niemand würde sich intensiver um Brooke kümmern als er. Jährlich 2,5 Dollar gebe er für deren Pflege aus. «Ich liebe meine Mutter», sagt Marshall, selbst eine illustre Figur. Als Marine-Soldat kämpfte er in der famosen Schlacht von Iwo Jima. Später spionierte er für die CIA, war US-Botschafter in Kenia und produ-zierte am Broadway preisgekrönter Theaterstücke.

Was ihm fehlt: Die Liebe der Mutter. In zwei Autobiografien beschreibt Brooke Astor das Ver-hältnis zu ihrem Sohn und einzigen Kind als zerrüttet und kalt.

Nicht aussergewöhnlich für die Astors. Zwei Jahre lang hatten Philip und Vater Anthony Marshall vor der Klage nicht miteinander gesprochen. Geredet hatte der Enkel jedoch mit einem gefeuer-ten Butler von Brooke Astor. Er legte die vermeintlichen hygienischen Missstände in deren zwei-stöckigen Luxuswohnung an der Park Avenue offen. Ebenso den Verkauf von Brookes Lieblings-gemälde «Flags, Fifth Avenue» für 10 Millionen Dollar durch Anthony. Der strich eine happige Kommission von zwei Millionen Dollar ein. Bekannt wurde, dass Brooke – bewusst oder un-bewusst – ihrem Sohn ein Haus mit Umschwung in Maine überschrieben hatte. Kurz darauf schenkte Marshall die 5,5 Millionen Dollar teure Villa seiner Frau Charlene, ausgerechnet an Broo-kes ungeliebte Schwiegertochter. Nicht nur das. In einem Brief ans Gericht unterstellt J. P. Mor-gan dem älteren Marshall, Immobilien, Bargeld und Aktien im Wert von 14 Millionen Dollar seiner an Alzheimer erkrankten Mutter entwendet zu haben, vermutlich mit gefälschten Unterschriften.

Der Beschuldigte schoss mit einer eigenen eidesstattlichen Erklärung zurück und bezeichnete all das als «bösartige Fabrikationen». Weder habe er seine Mutter vernachlässigt noch deren Geld veruntreut. Im Gegenteil. Die von ihm verwalteten 20 Millionen Dollar seien auf 80 Millionen angeschwollen. Besagtes Schlafsofa sei «teuer bezogen» gewesen und stinke nicht, «weder nach Urin oder sonst wie». Die Hunde hätte er ihr nur entzogen, weil diese Madame Astor öfters im Gesicht gekratzt hatten.

Box: Alterspflege in Amerika

Der Fall um die Millionärin Brooke Astor hat in den USA eine heftige Debatte über die Pflege von Betagten ausgelöst. Schätzungen reichen zwischen 500’000 gemeldeten und 14 Millionen vermuteten alten Amerikaner, die Misshandlungen erdulden müssen. Politiker wollen nun ein na-tionales Gesetz verabschieden. Derzeit kümmern sich die 50 Bundesstaaten separat um misshandelte Alte. «Die meisten wollen unbedingt zu Hause bleiben und nicht in ein Altersheim eingewiesen werden», sagt Joanne Marlatt Otto, die Direktorin der National Association of Adult Protective Services. Dort werden sie so lange wie möglich von Diensten wie «Meals on Wheels» oder ambulant arbeitenden Ärztinnen und Pflegern umsorgt. Bezahlt werden diese Programme von den Staaten. Muss ein mittelloser Betagter ohne Versicherung ins Altersheim, übernimmt das bundesstaatliche Programm Medicare die Kosten. Die explodieren unter einer ständig wachsenden Alten-Bevölkerung, von derzeit jährlich rund 400 auf über 500 Milliarden Dollar im Jahr 2011. Ein Grossteil des Geldes wird jedoch nicht für die Pflege sondern für rezeptpflichtige Medikamente ausgegeben. Generell wird erwartet, dass Alte selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen.