Einigen wären etwas höhere Preise lieber

Wal-Mart gehört zu den besten Firmen weltweit. Doch mit seinem ungezügelten Streben nach immer tieferen Preisen gerät der Supermarktgigant nicht nur von linken Aktivisten unter Beschuss.

Von Peter Hossli

Wal-Mart ist in Deutschland kläglich gescheitert. Die Supermarktkette musste vergangene Woche den Rückzug aus dem Land vermelden, das eigentlich als Brückenkopf für die Eroberung des gesamten europäischen Marktes gedacht war. Doch in den USA führt der grösste Detaillist der Welt seinen Kreuzzug gegen hohe Preise mit unverminderter Härte fort.

Amerikaner hassen und lieben Wal-Mart zugleich. Jährlich spart ein Haushalt rund 2300 Dollar wegen der Tiefpreispolitik des Handelsriesen. Das drosselt die Inflation und trägt zum Wirtschaftswachstum bei. Andererseits ist Wal-Mart berüchtigt für seine tiefe Löhne, eine gewerkschaftsfeindliche Politik und sehr harschen Umgang mit Lieferanten.

Welch niederschmetternde Wirkung Wal-Mart auf Zulieferer haben kann, zeigt das Beispiel Vlasic, aufgearbeitet von Charles Fishman im Buch «The Wal-Mart Effect»: Ende der Neunzigerjahre war bei Wal-Mart die Gallone Essiggurken für nur 2,97 Dollar zu haben, geliefert von Vlasic, der führenden Marke unter den Essiggurken-Lieferanten. Wal-Mart wollte damit ein Zeichen setzen: Der Detaillist war in der Lage, enorm viele Gurken für unter 3 Dollar zu verkaufen – und das von der bekanntesten und beliebtesten Marke. Wie kam es dazu? Vlasic brachte die Gurken-Gallone auf den Markt und verkaufte sie erfolgreich für knapp 4 Dollar. Bis Wal-Mart die Firma drängte, den Preis auf unter 3 Dollar zu senken. Vlasic lenkte ein, schliesslich war Wal-Mart der mit Abstand wichtigste Kunde. Die beiden einigten sich auf 2,97 Dollar, wobei Wal-Mart wie Vlasic nur einen Cent an der Gallone verdienten. Das Mega-Gurkenglas geriet zum Hit. Für Vlasic war es ein katastrophaler Erfolg. Zwar stieg die Anzahl ausgelieferter Gurken um 30 Prozent, doch der Gewinn sank um 25 Prozent. Und das Vlasic-Image trübte sich von der Qualitäts- zur Billigmarke. 2001 erklärte Vlasic Bankrott.

Wer die nach Umsatz zweitgrösste Firma der Welt beliefern kann, geht einen gefährlichen Pakt ein. Einerseits kann er enorme Stückzahlen absetzen, andererseits setzt er sich einem Preisdruck aus, mit oft verheerenden Folgen. Wal-Mart ist so gross und so mächtig, dass der Konzern alles fordern kann: eine Herabsetzung des Preises, der Qualität oder des Images einer Marke.

Ein enormer Spardruck treibt Wachstum und Gewinn

Zweimal im Jahr müssen die Anbieter zum Firmensitz in Bentonville, Arkansas, reisen und ihre Waren anpreisen. Wal-Mart lädt am gleichen Tag stets Lieferanten derselben Kategorie ein. So können die Anbieter zeitsparend um den Auftrag fürs kommende Jahr buhlen. Zum Zug kommt, wer am billigsten liefert.

Das ist eine Strategie, die auf die Vision von Firmengründer Sam Walton zurückgeht. Er eröffnete 1950 in Bentonville einen Tante-Emma-Laden, mit dem Ziel, die Konkurrenz bei jedem Produkt preislich zu unterbieten. Stiess er im Zwischenhandel auf ein Schnäppchen, sackte er den Preisnachlass nicht ein, sondern gab ihn an seine Kunden weiter. Gewinn würde er mit dem Volumen machen. Er sollte Recht bekommen. Wal-Mart beschäftigt heute 1,8 Millionen Menschen und erzielte 2005 einen Umsatz von 315,7 Milliarden Dollar. Jede Woche eröffnet das Unternehmen fünf neue Superstores mit insgesamt 160 000 verschiedenen Artikeln.

Wachstum und Gewinn sind von einem enormen Spardruck getrieben, ebenfalls inspiriert von Firmengründer Sam Walton. Er war der Inbegriff des kostenbewussten Unternehmers. Andere nannten ihn geizig. Als er längst der reichste Mann Amerikas war, fuhr er noch mit einem klapprigen Pick-up-Truck zur Arbeit. Er flog stets Economy Class und teilte auf Geschäftsreisen das Hotelzimmer mit den Angestellten. Noch heute ist es Wal-Mart-Angestellten untersagt, irgendwelche Geschenke von Lieferanten zu akzeptieren, nicht einmal eine durstlöschende Flasche Wasser. Präsente würden den Gewinn der Lieferanten mindern, was unweigerlich zu höheren Preisen für Wal-Marts Kunden führe, sagte Walton stets.

Die Sucht nach tiefen Preisen zerstört die Mittelklasse

Auf keinen Fall darf der Preis steigen. Zu spüren bekam das unlängst der Garten-Sprinkler-Riese L. R. Nelson. Jahrelang verkaufte er einen Sprinkler erfolgreich für 5,97 Dollar. Ein Drittel der Produktion, hergestellt in Peoria, Illinois, ging an Wal-Mart. Plötzlich verlangte Wal-Mart Sprinkler für unter 2 Dollar das Stück. Nelson müsse die Produktion nach China verlagern, sonst werde man den Anbieter wechseln, verlangte Wal-Mart. Bald schloss L. R. Nelson die Fabrik in Peoria und produzierte in Südchina.

Tausende von gut bezahlten Arbeitsplätzen sind verloren gegangen, weil Wal-Mart die Produzenten in Niedriglohnländer treibt. Wurden 1995 noch 94 Prozent der Produkte auf den Wal-Mart-Regalen in den USA produziert, waren es 2003 weniger als 40 Prozent. Die Folge: Die Mittelklasse schrumpft. «Die Sucht der Amerikaner nach tiefen Preisen zerstört die Mittelklasse», sagte Robert Reich, Arbeitsminister unter Bill Clinton. War es früher möglich, mit einem Fabrikjob eine Familie zu ernähren, reicht das Einkommen in der Dienstleistungsbranche nicht mehr.

Um möglichst billige Produkte anzubieten, drückt Wal-Mart nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne. Es ist unmöglich, mit einem Wal-Mart-Gehalt ein Leben ohne Schulden zu bestreiten. Eine Person, die ein Kind unterstützen muss, braucht in den USA jährlich mindestens 27 948 Dollar. Der durchschnittliche Wal-Mart-Lohn liegt bei 9,68 Dollar die Stunde, was einem Jahresgehalt von knapp 17 000 Dollar entspricht. Nicht einmal die Hälfte des Personals erhält eine Krankenkasse, im Gegensatz zu 94 Prozent beim Konkurrenten Costco. Wal-Mart bekämpft Gewerkschaften erbittert und schliesst regelmässig Läden, in denen sich das Personal gewerkschaftlich organisiert.