Andere wollen Freunde, er will Geld

James Cramer zerstört Stühle, beschimpft das Publikum und steckt Voodoo-Nadeln in Plastikbären. Was wie koffeinhaltiger Wahnsinn aussieht, hat Kultstatus erlangt. Cramer ist der Star unter Amerikas televisionären Börsentippern.

Von Peter Hossli

Er wuchtet das runde fleischige Gesicht in die Kamera und schreit. «Kauft, kauft, kauft – Caliper. Ich will, dass Ihr Caliper kauft.» Später verwirft er die Hände. «Weg damit, verdammt noch mal, aber so rasch wie möglich.» Nach der harmlosen Frage eines Anrufers, was mit Pfizer-Aktien passieren werde, drückt er auf einen roten Knopf, der den betörenden Toneffekt eines kolossalen Zugunfalls auslöst. Will heissen: Pfizer kracht.

Davor warnt James Cramer seine Zuschauer. «Wir machen hier Geld, das ist unser einziges Ziel», schreit der einundfünfzigjährige Moderator von «Mad Money With Jim Cramer», der einstündigen Börsentipp-Schau des Finanzsenders CNBC. «Andere Leute wollen Freunde, ich will Geld machen.»

Ein Jackett trägt der TV-Mann nicht. Die Ärmel hat er bereits vor Sendebeginn hochgekrempelt. Bald sind Kragen und Achseln verschwitzt. Bis Sendeschluss ist das Hemd durchnässt.

Ein weiterer Auswuchs des durch geknallten amerikanischen Nonstop-Fernsehens? Womöglich. Ein Hit? Absolut.

«Mad Money», seit bald einem Jahr auf Sendung, ist der Quotenrenner von CNBC, die erfolgreichste Show in der Geschichte des seit dem Platzen der Internet-Blase dümpelnden Finanzsenders. Cramer selbst hat Kultstatus erlangt – trotz Eingeständnis, manisch-depressiv zu sein und an Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu leiden.

Dem also nicht nur zur Schau gestellten Wahnsinn zum Trotz debattieren Ökonomen, ob Cramer die Börse beeinflussen könne. «Business Week» widmet ihm eine Titelgeschichte, die «New York Times» beurteilt kritisch, wie wertvoll seine Tipps seien. Die jahrelang darbende US-Wirtschaftspresse erhofft sich von Cramer gar eine Renaissance. Mehrere Blogger analysieren ihn täglich.

Der keineswegs bescheidene Moderator glaubt sich auf einer Mission. «Ich will normalen Leuten den Markt erklären», sagt er stets, «sie sollen dank mir richtiges Geld machen.»

Cramer unterzieht sich der Läuterung. Ende der neunziger Jahre gründete er TheStreet.com – und gehörte damit zu jenen Aktien-Schreiern, die die Internet-Blase antrieben und manchen kleinen Investor ruinierte. Als Hedge-Fund-Manager hatte er gleichzeitig 14 Jahre lang eine durchschnittliche Rendite von 24 Prozent erwirtschaftet. «Ich war ein Sklave der Reichen», sagt Cramer. «Für den Mann der Strasse habe ich gar nichts gemacht.»

Das glaubt er nun zu tun. Auf allen Kanälen. In drei Bücher beschreibt er seine Investmentstrategie. Täglich verbreitet er am Radio Börsentipps. Er verfasst Online-Kolumnen, in denen er Fehlgriffe eingesteht, vor allem aber Treffer und somit sich selbst feiert.

Denn das ist alles, was er hat. Die Adrenalin gepeitschte One-Man-Show namens Cramer. Alles dreht sich um ihn. Nie lässt er in «Mad Money» Analysten zu Wort kommen, «weil die sich hinter Ratings verstecken und ohnehin keine Ahnung haben», sagt er. Nie interviewt er einen CEO, «weil die nichts sagen dürfen». Er sei unabhängig, besitze abgesehen vom Gründeranteil an TheStreet.com keine Wertpapiere. Die Investmentbanken hingegen seien am Aktien-Hype interessiert, «weil sie direkt davon profitieren».

Er selbst macht die Recherche, präsentiert sie und gibt den Tipp ab. Der kommt nicht aus dem hohlen Bauch, sondern ist mit rationalen Argumenten unterlegt, selbst wenn er diese theatralisch vorträgt. Den Dow-Jones-Index beispielsweise mag er nicht – «was hat der Dow uns in den letzten Jahren gebracht?» –, sondern rät den Amerikanern zur Investition in neuen aufstrebenden Märkten, in Lateinamerika und sogar Afrika. Nicht amerikanische Ölfirmen soll man kaufen, sondern brasilianische, sagt Cramer. Er bezeichnet sich als «Pepsi-, nicht Coke-Mann, weil Pepsi viel mehr Cash erwirtschaftet».

Besonders beliebt ist die «Mad Money»-Sektion mit dem viel sagenden Titel «Blitzableiter». Per Telefon rufen Kleinaktionäre in die Sendung, begrüssen ihr Idol mit einem kräftigen «booyah» und bedanken sich bei Cramer erstmals für «Deine Tipps, die mich reich gemacht haben». Dann werfen sie ihm ein Aktienkürzel an den Kopf. Als sei es das Codewort eines Kults, erwidert Cramer ebenfalls mit «booyah» – und analysiert dann das Wertpapier.

Meist unterstreicht er die Analyse mit Anekdoten. Er sei glaubwürdig, weil er sein Vermögen – «irgendwo zwischen 50 und 100 Millionen Dollar» – eigenhändig verdient habe, sagt er. Den Mann von der Strasse verstehe er, weil er selbst einer war. Knapp ein Jahr lebte er nach dem College obdachlos in einem verbeulten Ford, die geladene Pistole lag im Handschuhfach.

Der heutige Glatzenträger rühmt sich, als Jura-Student an der Harvard University einen Afro ge-tragen und gegen Nixon und die Apartheid demonstriert zu haben. Er verdiente sein Geld als Assistent des liberalen Rechtsprofessors Alan Dershowitz – und investierte es an der Börse.

Sein rasch wachsendes Portfolio verleitete einen Harvard-Professor, ihm 500’000 Dollar anzuvertrauen. Binnen zwei Jahren hatte er es um 150’000 Dollar gesteigert. Die Empfehlung des Professors verhalf Cramer zum Job bei Goldman Sachs. Nach drei Jahren gründete er den eigenen Hedge Fund.

Dessen fabelhafter Erfolg hatte seinen Preis. Cramer sah seine beiden Töchter kaum. Schliesslich stellte ihm seine Frau ein Ultimatum. Entweder er arbeitet weniger oder sie gehe. Just liess er sich auszahlen, leerte sein Portfolio, züchtete Tomaten und trainierte das Fussball-Team der jüngeren Tochter.

Die Börse liess ihn nicht los. Auf CNBC moderierte er in Anzug und Krawatte eine klassische Börsensendung. Als der Sender von ihm verlangte, den roten Spitzbart zu rasieren, stellte er ein Ultimatum. «Entweder ihr lässt mich machen, oder ich gehe.» Prompt durfte Cramer «Mad Money» starten – und langt dort zuweilen tief in die Kuriositätenkiste. So steckt er bei Börsenschwäche schon mal eine Voodoo-Nadel in einen Spielzeugbären. Als letzte Woche der Dow an einem Tag um 136 Punkte stieg, frittierte er während der ganzen Sendungen Plastikbären – seine Geringschätzung gegenüber den Miesepetern.

Das gefällt nicht allen. Regelmässig wirft ihm die «New York Times» vor, den Day-Trader-Hype neu entfacht zu haben, zumal er innert Kürze seine Empfehlungen wechselt. So blind wie ein Evangelikaler die Wahrheit der Bibel verbreitet, so sektiererisch verlangt Cramer der Glaube an seine Aktientipps. «Ihr müsst das kaufen», lautet ein Standardsatz. Immerhin leistet er für schlechte Tipps vor laufender Kamera regelmässig Sühne.

Zumindest für eine Branche zeigt die Cramer-Manie Folgen: Die gescholtene Wirtschaftspresse hat endlich wieder ein Modell gefunden, das Anklang findet. Dank Cramers absurdem Theater folgen selbst Einzelinvestoren wieder der Börse. Ende Jahr startet die News Corporation von Rupert Murdoch einen Finanzsender, inspiriert von Cramer. TimeWarner hat die Finanzseiten von CNN und «Money» zusammengelegt und Cramer angepasst. Nobler gibt sich der Verleger von «Vanity Fair». Condé Nast lanciert ein Hochglanz-Wirtschaftsmagazin.