Von Peter Hossli
Für die amerikanischen Prozessanwälte fiel die Bescherung für einmal dürftig aus. Zum Jahresende servierten US-Richter Urteile, die vornehmlich die Investoren freute, die Kläger und deren Juristen aber vergraulte. So erklärte der oberste Gerichtshof von Illinois ein 10-Milliarden-Dollar-Verdikt gegen Philip Morris für nichtig. Der Zigarettenhersteller kann in der Werbung weiterhin die Begriffe «light» und «teerarm» verwenden. Als «die wichtigste Entscheidung in der Geschichte der Tabak-Klagen» bezeichnete ein Morgan-Stanley-Analyst das Urteil. «Die Zigaretten-Klagen sind jetzt vorbei», sagt Daniel Becnel, einer der führenden Klägeranwälte Amerikas.
Nicht einmal eine Woche später jubelten die Aktionäre der Pharmafirma Pfizer. Ein Richter in Delaware entschied, der indische Generika-Hersteller der Cholesterin-Pille Lipitor verletze das Urheberrecht von Pfizer. Der Kurs der Pfizer-Aktie stieg am selben Tag um 10 Prozent.
Für die Gilde der amerikanischen Klägeranwälte fiel das vergangen Jahr bescheiden aus. Das Umsatzwachstum flachte ab. Die Anwaltskanzleien stellten weniger Leute neu an als 2004. Als Grund nennt der Anwalts-Analyst der Citigroup, Danilo DiPietro, eine Verminderung der Sammelklagen.
Die Atempause dürfte kurz sein. Rund 500 Millionen Dollar gaben US-Anwälte 2005 aus, um in Werbespots und Anzeigen auf ihre Dienste aufmerksam zu machen. Sie wollen sicher gehen, dass auch 2006 zum lukrativen Jahrgang wird. Zumindest einen «starken Start» ins neue Jahr erwartet der Citigroup-Analyst DiPietro.
Enron
Der Aufsehen erregendste Prozess des Jahres beginnt am 30. Januar in Houston, Texas. Vor den Strafrichter treten zwei ehemalige Manager von Enron, dem texanischen Energiehändler, dem selbstredenden Symbol für Korruption und persönlichen Bereichung. Verwaltungsratspräsident Kenneth Lay und CEO Jeffrey Skilling werden beschuldigt, Investoren und Angestellte belogen, Milliarden unterschlagen und jahrelang Buchhaltungen gefälscht zu haben. Sie müssen mit Gefängnisstrafen von bis zu 25 Jahren rechnen. Pikant: Ende 2005 bekannte sich Enron-Buchhalter Richard Causey überraschend schuldig. Als Kronzeuge dürfte er Lay und Skilling schwer belasten.
Merck / Vioxx
Drei Prozesse hat die amerikanische Pharma-Firma Merck wegen dem Schmerzmittel Vioxx 2005 hinter sich gebracht. Einen haben sie gewonnen, einen verloren, einer wird wiederholt. Koordiniert werden die Vioxx-Klagen von Daniel Becnel, einem Anwalt in New Orleans. Er rechnet mit insgesamt 100’000 eingereichten Klagen und einer Schadensumme von über 20 Milliarden Dollar. Im laufenden Jahr wird sich zeigen, wie viele Klagen Merck aussergerichtlich begleichen, und wie viele Prozesse die Firma führen wird. Neben den Vioxx-Patienten haben nun auch Merck-Aktionäre erste Klagen eingereichet. Sie haben einen Papier-Verlust von zeitweise 40 Milliarden Dollar erlitten, wofür sie das Merck-Management beschuldigen.
CSFB / Enron
Rund 1,1 Milliarden Dollar hat Credit Suisse als Reserve angelegt, um Schaden aus amerikanischen Klagen zu begleichen. Ein Grossteil ist reserviert für Enron-Klagen gegen die Tochter Credit Suisse First Boston. Eine Klage kommt von Enron selbst. Die neu strukturierte Firma verklagt ihre ehemaligen Berater, die sie mit Bargeld überflutet hatten – und so Milliarden von Dollar verdienten. Von der Citigroup allein möchte Enron 8,2 Milliarden Dollar. Mehrere Hundert Million verlangt Enron von CSFB. Die Credit-Suisse-Tochter gehört neben Merrill Lynch zudem zu den wenigen grossen Banken, die mit den Enron-Aktionären noch keinen Vergleich geschlossen ist. Für 2006 wird ein solcher erwartet. Er dürfte die Reserven übersteigen. Diesen Schluss lassen zumindest die bisher geschlossenen Vergleiche vermuten: CIBC zahlte 2,4 Milliarden Dollar; JP Morgan 2,2 Milliarden Dollar und Citigroup 2 Milliarden Dollar. «Wir kommentieren keine laufenden Verfahren», sagt CSFB-Sprecherin Victoria Harmon auf Anfrage.
Orkan Katrina
Schäden in der Höhe von 300 Milliarden Dollar soll der Orkan Katrina im Süden der USA angerichtet haben, behaupten Klägeranwälte, die derzeit die grösste Klageserie der US-Geschichte vorbereiten. Es geht hauptsächlich darum, wer wie viel bezahlen muss. Die Versicherungsgesellschaften drücken sich mit dem Verweis auf das Kleingedruckte. Dort steht, sie müssten für Wind- und Regen-, nicht aber für Flutschäden gerade stehen. Nun hat der Staatsanwalt von Mississippi, Jim Hood, eine Klage gegen fünf Versicherungen eingereicht. Er behauptet, der Wind des Orkans hätte zur Flut geführt. Der Ausgang der Verfahren dürfte schwerwiegende Folgen haben für die Versicherungsbranche. Wobei nicht nur die direkt beteiligten Versicherungen vor den Richter treten werden, sondern zusätzlich die Rückversicherer. Ein Anwaltsteam von New Orleans hat überdies «zehntausende von Klagen» eingereicht gegen jene acht Firmen, die die Deiche gebaut haben, die nach dem Orkan geborsten sind, sagt Klägeranwalt Becnel.
Viagra
Klägeranwalt Daniel Becnel aus New Orleans vertritt 700 Kläger, die nach der Einnahme des Potenzmittels Viagra teilweise oder ganz erblindet sind. Sämtliche Klagen dürften Anfang Jahr zu einer Multidistrikt-Litigation zusammengefasst werden. Becnel rechnet mit einem Schaden in der Höhe von «mehreren Milliarden Dollar» für Pfizer, dem Hersteller von Viagra.
Guidant
Die Klagen gegen den Medizinaltechnik-Hersteller Guidant wegen fehlerhaften Defibrillatoren wurden Ende 2005 zu einer Multidistrikt-Litigation in Minnesota zusammengefasst. Diese wird im Laufe von 2006 behandelt. Deren Ausgang dürfte entscheiden, ob Guidant von Boston Scientific oder doch noch von Johnson & Johnson übernommen wird. Nach dem Rückzug etlicher Herzschrittmacher verminderte Johnson & Johnson das Kaufsangebot von 76 auf 63 Dollar pro Aktien. Boston Scientific offeriert 73 Dollar pro Aktie.
New York / Streik der Verkehrsbetriebe
In der Woche vor Weihnachten legten die Angestellten der öffentlichen Verkehrsbetriebe von New York die Arbeit drei Tage lang nieder. Sieben Millionen Menschen mussten zu Fuss, im Fahrrad oder per Autostopp zu Arbeit gehen. Viele blieben gänzlich zu Hause. Bürgermeister Michael Bloomberg beziffert den wirtschaftlichen Schaden auf weit über eine Milliarde Dollar. Eine Gruppe von Anwälten hat eine Sammelklage gegen jedes Mitglied der streikenden Gewerkschaften eingereicht, ein Novum in der Klagegeschichte der USA.�