Von Peter Hossli
Oft schärfen erst Tragödien die Einsicht. Bei AOL-Gründer Steve Case war es der Krebs seines älteren Bruders Dan. Obwohl dieser Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung hatte, erwies sich der Gang zum Arzt, die Beschaffung von Informationen oder die Pillenwahl als regelrechte bürokratische Qual.
Nach Dans Tod im Juni 2002 hatte Steve Case eine Offenbarung, gefolgt von einer Berufung: Das amerikanische Gesundheitswesen müsse dringend umgebaut werden – und zwar von ihm. Gefunden hatte er damit den dritten Akt in einer von Aufstieg und jähem Fall bestimmten Karriere.
Vor zwanzig Jahren gründete der damals 26-jährige Marketingspezialist bei Pizza Hut einen Online-Dienst namens Quantum-Link. 1991 nannte er die vereinfachte Auffahrt ins Internet in America Online (AOL) um. Nur acht Jahre später wies der mittlerweile weltweit grösste Internet-Anbieter einen höheren Börsenwert auf als McDonald’s, Philip Morris und PepsiCo zusammen. Case, gerade mal 40 Jahre alt, hatte ein Vermögen von 1,5 Milliarden Dollar, zumindest auf Papier.
Dann kam Akt 2, bestimmt von der Hybris des Erfolgsversessenen. «Synergie» lautete das Zauberwort im Jahr 2000, auf dem Höhepunkt der Internet-Blase. Technologie-Firmen und Produzenten von Musik, Literatur oder Filmen sollten zusammen spannen. Da die Börse die Technik höher bewertete als die Inhalte, bestimmte AOL-Chef Steve Case die Bedingungen für die Fusion mit dem Medienkonzern Time Warner im Januar 2001.
Der Merger geriet zum grössten Flops der amerikanischen Fusions-Geschichte. 200 Milliarden Dollar haben die Aktionäre der neuen Firma verloren. Um 75 Prozent sackte der Börsenwert ab. Die Schuld wurde hauptsächlich dem Chairman des gefallenen Giganten zugeschoben: Steve Case. Im Januar 2003 musste er gehen. Nicht als armer Mann, sondern mit einem Vermögen von schätzungsweise 850 Millionen Dollar.
Geld, das den mittlerweile 47-jährigen Unternehmer den Weg «zurück in die Garage» ermöglicht, wie er der «New York Times» erklärte. Case erkauft sich nämlich einen ambitiösen Neuanfang. Rund 500 Millionen Dollar seines eigenen Vermögens will er in den nächsten paar Jahren in die Holding mit dem bezeichnenden Namen Revolution LLC investieren. «Die Welt verändern», würde Revolution, «wie einst AOL», sagt Case in Interviews.
Hatte er mit AOL das zuvor vornehmlich von Universitäten und dem Militär genutzte Internet zum Massenprodukt gemacht, will er nun das komplexe Gesundheitssystem vereinfachen, zuerst in den USA «und später weltweit», wie sein CEO John Pleasants sagt. Im Zentrum stehen soll der Patient, der «mehr Auswahl, mehr Kontrolle und mehr Annehmlichkeiten» bei der Wahl der Ärzte und der Medikamente erhält, so Pleasants. All das soll obendrein der Gesellschaft reichlich Geld sparen.
Eine Geschäftsidee, die zumindest theoretisch enormes Potenzial hat. Gänzlich im Argen liegt das amerikanische Gesundheitswesen. 45 Millionen Amerikaner können sich die im Vergleich zu Europa grandios überteuerte Krankenkasse nicht leisten. Einst robusten Firmen wie General Motors droht wegen den Gesundheitskosten der Bankrott. Ein Siebtel des Bruttosozialproduktes verschlingen Arzt-, Spital- und Medikamentenkosten.
Aus dem Nichts bewerkstelligt Case die Revolution nicht. Seine Holding beschäftigt 30 Personen, die bestehende Firmen aufkaufen oder sich Mehrheitsbeteiligungen erwerben. Bis anhin gehören gut ein Dutzend Unternehmen mit rund 900 Angestellten zum revolutionären Portfolio. Sie teilen sich in drei Divisionen auf: Wellness, Luxus-Urlaub und, der wichtigste Arm, Gesundheitswesen.
Vier bisher eingekaufte Firmen bilden das Fundament. Über MyDNA Media und Wondir Inc. gedenkt Case Informationen rund um die Gesundheit zu verbreiten. Über 1-800-Schedule sollen Patienten möglich einfach und rasch Ärzte finden und Termine vereinbaren. Die Programme von Simo helfen Patienten, die Ausgaben zu überwachen und zu optimieren.
Viel versprechend sind zwei Beteiligungen. Über Extend Benefits will Case Krankenkassenpolicen weiter verkaufen. Mit einem neuartigen Modell. Statt monatlich eine fixe Prämie an die Versicherung abzuliefern, sollen Arbeitgeber künftig einen tieferen Betrag in ein Gesundheitskonto ihrer Angestellten einzahlen. Bleibt jemand gesund, wächst der Kontostand. Angerührt wird er erst im Krankheitsfall. Davon profitieren junge und gesunde Menschen. Das Problem: Wird jemand wirklich krank und braucht lange intensive Pflege, schmilzt das Vermögen dahin.
Besonders innovativ agiert die Case-Beteiligung InterFit Health, eine Firma, die in Supermarktketten Instant-Kliniken betreibt. Statt tagelang auf den Termin beim Hausarzt zu warten, können Patienten mit einem kleinen Leiden unangemeldet vorbei schauen. Eine Mutter etwa erhält so rasch und günstig Klarheit, ob die Ohren ihres Babys entzündet sind.
Bisher hat Case rund 250 Millionen Dollar investiert. Insgesamt soll es eine halbe Milliarde werden. Hinzu kommen rund 100 Millionen, die private Investoren einbringen. Wer die sind, lässt der Verwaltungsrat der privat gehaltene Firma erahnen. Dort sitzen etwa die Ex-Chefin von Hewlett-Packard, Carly Fiorina, der ehemalige CEO von Netscape, Jim Barksdale oder der frühere amerikanische Aussenminister Colin Powell.
Case lässt offen, ob er Revolution LCC an die Börse führt. Investment-Guru Warren Buffett hat ihm davon abgeraten. Da er genügend eigenes Geld habe, soll er die Firma privat halten, riet er.
Das widerspricht an einem anderen Ansinnen von Case nicht. Er hat seinen fünf Kindern klar gemacht, er werde sein selbst verdientes Geld nicht vererben sondern ausgeben. Für wohltätige Zwecke – oder eben für die Revolution.
Warum plötzlich alle AOL wollen.
Jahrelang versuchte Time Warner vergeblich, AOL abzustossen. Nun reissen sich Google, Yahoo und Microsoft um das Sorgenkind. Was der «Economist» als «battle royal» beschreibt, ist nicht etwa ein Streit um die beste Firma. Es geht einzig darum, der Konkurrenz zuvor zu kommen. Zwischen den drei Giganten tobt ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft im Internet. AOL wäre zwar nicht der Schlüssel dazu, aber der Internet-Dienst würde die Position jedes Käufers stärken. Time-Warner-Chef Richard Parsons mags Recht sein. Er baut das Portal von AOL aus – um den Preis in die Höhe zu treiben.