Das New Yorker Massengrab

Auch der amerikanische Norden war in die Sklaverei verstrickt. Eine Ausstellung enthüllt das düstere Kapitel.

Von Peter Hossli

Wie verzweifelt ist eine Mutter, wenn sie tut, was Diana einst tat? Diese Frage rüttelt derzeit New York auf. Diana nahm ihr Baby von der Brust, legte es in den Schnee und verschwand. Der bedachtsam geplante Kältetod erschien ihr würdevoller als ein Leben in Unfreiheit. Diana war Sklavin in Manhattan, ihr Kind kam um 1740 als Besitzgut eines weissen Masters zur Welt.

Was vielen New Yorker weitgehend unbekannt ist und Schulbücher noch immer grösstenteils verschweigen, rückt die Historical Society of New York mit der bahnbrechenden Ausstellung «Slavery in New York» ins Rampenlicht. Was Literatur und Film folkloristisch in den Süden Amerikas verlegen – sei es in «Onkel Toms Hüte» oder «Vom Winde verweht» –, gehörte ebenso zum Alltag im kolonialen New York. Während 200 Jahren war die Stadt wichtiger Handelshafen für menschliche Fracht. New Yorker selbst hielten viele Sklaven. Zeitweise besassen 42 Prozent der Haushalte Leibeigene. Ein Fünftel der Bewohner war Mitte des 18. Jahrhunderts versklavt. Nur in Charleston, South Carolina, war der Anteil grösser.

Unentgeltlich legten unfreie Schwarze ab 1620 das Fundament der Wirtschaftsmetropole. Zuerst unter holländischer, später englischer Herrschaft bauten sie den Broadway und die City Hall, zogen die Wand an der Wall Street hoch, entluden Schiffe, kochten, putzten, hegten die Kinder ihrer Gebieter.

Die bis März dauernde Ausstellung «verändert, wie New York weltweit wahrgenommen wird», sagt die Präsidentin der Historical Society, Louise Mirrer. «Viele New Yorker sind regelrecht verblüfft, dass ausgerechnet ihre fortschrittliche Stadt das kommerzielle Zentrum des Sklavenhandels war.» Zumal damals jegliche Empörung ausblieb.

Fünf Millionen Dollar gibt die Historical Society aus, um das Unrecht darzustellen. Sie tut das mit einer multimedialen Darbietung mit 400 Dokumenten aus drei Jahrhunderten. Gerichtsprotokolle beleuchten hoffnungslosen Widerstand, etwa die Sterbehilfe an Dianas Baby. Statistiken zeigen, wie lukrativ der Handel mit Afrikanern war. Mit einem Preisaufschlag von sagenhaften 969 Prozent wurden Sklaven etwa 1675 in New York verkauft. Tausende von Zeitungsanzeigen, die die dunkle Ware anpriesen oder entlaufene Sklaven ausschrieben, bescherten Verleger die nötigen Profite, um ihre Medienimperien aufzubauen.

Die Ausstellungsmacher nennen Namen und zeigen Bilder der Händler und, wenn vorhanden, der Gehandelten. Sie beschreiben misslungene Aufstände und zerschlagene Revolten. Betont wird schliesslich die beschämende Tatsache, dass New York erst 1827 und damit als zweitletzter der Nordstaaten die Sklaverei abschaffte.

Wirkungsvoll vermittelt die Schau unmittelbare Reaktionen darauf. Nach neun reichlich bestückten Ausstellungsräumen setzen sich Besucher vor eine Videokamera und rapportieren ihre Eindrücke. «An der Schule habe ich eine andere Geschichte gehört», sagt eine Schwarze, «jene von glücklichen Sklaven und netten Herren.» Eine New Yorkerin mit ergrautem Haar: «Es wird mir nun bewusst, wer unsere Infrastruktur errichtet hat.» Ein schlanker Kerl fragt, «warum all das nicht schon früher erzählt wurde.»

Ein Frage, die New Yorks Radio-Talker aufwerfen und Leitartikelschreiber eifrig zu beantworten suchen. Dabei wäre die Historie der Sklaverei beinahe im akademischen Elfenbeinturm verloren gegangen. Zufällig stiessen Bauarbeiter 1991 bei einem Aushub in Downtown Manhattan auf Gebeine von rund 400 Menschen. Sie fanden einen «Negro Burial Ground», einen Massenfriedhof anonym begrabener Sklaven. Gerichtsmediziner zogen daraus jahrelang Schlüsse über die Lebensumstände der Schwarzen in New York. Die waren nicht angenehmer als im Süden. Hinweise auf Arthritis zeugen von schwerster körperlicher Arbeit, eingeschlagene Schädel von äusserster Brutalität, Grabbeigaben allerdings auch von einer eigenständigen Kultur.

Das Happy End verschweigen die Kuratoren nicht. Es ist ein zwiespältiges. Nach der Freisetzung der Sklaven bevölkerten europäische Einwanderer das prosperierende New York. Flugs schnappten Deutsche und Iren den Schwarzen die Jobs weg.