Von Peter Hossli
Es gibt wenig Industriestandards, die echte Standards sind, also weltweit gelten. Das Rad ist ein solcher, der Verbrennungsmotor oder die Zeitmessung. Hinzu kommt der 1891 vom Amerikaner Thomas Edison patentierte perforierte 35-Millimeterfilm. Seit über hundert Jahren halten Regisseure darauf bewegte Bilder fest. Auf den unverkennbaren Streifen Zelluloid bannen sie, was zuweilen als siebte Kunst beschrieben wird: Kinofilme.
Im Laufe der Zeit hat sich die Qualität des Zelluloids verbessert, sind Farbe und der Ton hinzugekommen. Geblieben ist der überragende Vorteil des Standards. Ein 35-Millimeterfilm, ob belichtet mit europäischen, asiatischen oder amerikanischen Kameras, lässt sich überall vorführen. Sei es in einem schicken Szenenkino im Zürcher Kreis 5, einer monotonen Multiplex-Anlage in Houston, Texas, oder dem improvisierten Wanderkino, das durch Burkina Faso in Afrika reist. Möglich machen das ratternde 35-Millimeterprojektoren. Sie alle basieren auf derselben einfachen aber standhaften Technik. Nicht zuletzt dieser einzigartigen Universalität hat das Kino seine weltweite Beliebtheit zu verdanken.
Das wird sich in den nächsten Jahren schlagartig ändern – weil sich die Technik ändert. Der Film wird digital. Die Folge: Alle Aspekte des Kinos werden umgekrempelt, das Geschäft, die Technik, die Ästhetik.
Was vife Underground-Cineasten seit Mitte der neunziger Jahre versuchen und bisher mit – zwar wackeligen Bildern – ganz ordentlich schaffen, übernimmt nun auch Hollywood. Nicht mehr Zelluloid hält grosses Kino fest, Kameraleute drehen zunehmend mit digitalen Kameras. Nicht mehr in metallenen Filmspulen versorgen sie die Aufnahmen des Tages; sie laden sie auf Festplatten.
Damit wandelt sich die siebte Kunst zunehmend von einer fotografischen zu einer malerischen Ausdrucksform. Der Kanevas ist der Bildschirm, der Pinsel die Computermaus, die Ölfarbe die Software. Konnte bei Filmen lange Zeit bestenfalls das Licht verändert werden, haben digitale Aufnahmen meist erst rohen Charakter. Alles lässt sich mischen, später hinzufügen oder wegnehmen. Selbst Schauspieler. So entwickeln Firmen Software, die animierte Figuren am Computer entstehen lassen, deren Äusseres sich nicht mehr von realen Menschen unterscheiden lässt. «Das digitale Kino bringt für uns so tiefgründige Änderungen wie die Einführung von Farbe und Ton», prophezeite «Titanic»-Regisseur James Cameron vergangenen März an einer Konferenz für Kinobetreiber.
Als Pionier amtet «Star Wars»-Erfinder George Lucas, der die beiden letzten Folgen seines Weltallepos’ in Nullen und Einsen aufgezeichnet hat. Der Schnitt erfolgte digital. Computer kreierten sämtliche Spezialeffekte und somit einen Grossteil der Filme.
Allerdings: Nach Abschluss der Postproduktion musste Lucas seine digitalen Werke dann doch auf 35-Millimeter-Streifen übertragen. Von den weltweit rund 100000 Kinos sind nämlich nicht einmal 400 mit digitalen Vorführapparaten ausgerüstet. In der Kinometropole Zürich steht seit letztem Jahr gerade mal eine betriebsbereite Anlage, im Cinemax beim Escher-Wyss-Platz. «Die hiesige Kinobranche spricht noch nicht über die Digitalisierung», sagt der Geschäftsführer der Zürcher Cinemax AG, Daniel Schmid. «Alle haben Angst vor zu hohen Kosten, man verdrängt die Entwicklung.»
Diese Vogel-Strauss-Taktik nimmt bald ein Ende. Die Filmstudios in Hollywood, die bestimmende Kraft der Industrie, drängt die Kinobesitzer, ihre Säle umzurüsten, weg vom 35-Millimeter-, hin zum digitalen Format. Die Produzenten erhoffen sich davon enorme Einsparungen beim Vertrieb ihrer Ware. Rund 1200 Dollar kostet es nämlich, eine herkömmliche Filmkopie zu ziehen. Oft startet ein Film weltweit mit 6000 Kopien. Kopien, die ein paar Wochen durch herkömmliche Projektoren rattern, dann bereits verkratzt sind, deren Tonspur Mängel aufweist, und die nach wenigen Wochen im Einsatz eingeschmolzen werde.
Ungemach, das einer digitalen Kopie nie widerfährt. Sie kann fast kostenlos auf eine Festplatte oder eine DVD kopiert oder sogar per Satellit in die Kinos gesandt werden. Jährlich bis zu drei Milliarden Dollar können die Hollywoodstudios so an Kopienkosten einsparen. Hinzu kommen Einsparungen beim Transport von mindestens 700 Millionen Dollar.
Die Vorteile der digitalen Projektion lassen sich nicht nur in Dollar und Cents messen. Das Bild, das ein digitaler Projektor auf die Leinwand wirft, ist schärfer als das von herkömmlichen Abspielgeräten und selbst nach Tausend Vorführungen noch immer perfekt. Stets scharf sind die Untertitel. Keinen Schaden nimmt der Ton.
Bis zu zwölf Tonspuren finden auf einem digitalen Filmfile Platz. Wie bei einer herkömmlichen DVD wählt ein Vorführer per Knopfdruck zwischen der Original- und der Synchronsprache. Künftig kann ein Kinobetreiber in Zürich also ohne finanziellen Mehraufwand spezielle Vorführungen für verschiedene Sprachgruppen durchführen. Bis anhin musste er für jede Sprache eine separate Kopie anfordern.
Ändern wird sich dadurch das Berufsbild der Operateure. Lernten sie bisher, aus sechs bis acht einzelnen Rollen einen Film exakt zusammen zukleben, in den Projektor einzuspannen und bei Filmrissen kreativ einzuschreiten, genügt nun ein Mausklick, um den Film zu starten. Da auch die Trailer und Werbefilme als digitale Files von einem Computer aus gesteuert werden, kann die Reihenfolge oder deren Einsatz auf das jeweilige Publikum zugeschnitten werden. Der Bier-Spot hat am Nachmittag, wenn Kinder im Kino sitzen, nichts verloren.
Oft Stunden verbringt der Vorführer derzeit, um den Zustand einer Filmkopie zu prüfen – ein kostspieliger Zeitaufwand, der bald wegfällt. Es ist allerdings die einzige Ersparnis, die den Kinobesitzern zufällt. Sie fürchten eine grosse finanzielle Belastung. So kostet ein herkömmliches Vorführgerät zwischen 30000 und 50000 Dollar. Die technologisch zwar altertümliche aber solide Maschine spult dann mindestens dreissig Jahre lang. Digitale Projektoren hingegen sind ab rund 150000 Dollar zu haben. Deren zu erwartende Lebensdauer dürfte weitaus kürzer ausfallen. Zumal neue Digitaltechnik jeweils in Windeseile alt wird.
Gerade weil die Branche jahrelang darüber stritt, wer die Umrüstung zu bezahlen hat, verzögert sich der bereits vor fünf Jahren angekündigte «rasche Wechsel» vom analogen zum digitalen Kino.
Nun zeichnet sich eine Lösung ab. Die Studios in Hollywood, angeführt von Sony Pictures, Disney und Warner Bros., äufnen gemeinsam einen Fonds. Dessen einziger Zweck besteht darin, das Leasing der Projektoren zu finanzieren. Geht es nach Plan der Studios, sollen bis Ende 2008 alle US-Kinos, rund 36000 Säle, Filme ab Festplatte oder Satellit zeigen können.
Vorsicht gemahnen die Analysten. Gemäss Dodona Research, einer englischen Analyse-Firma der Filmindustrie, dürften Ende 2006 weltweit erst 2700 und ein Jahr später 5700 digitale Projektoren im Einsatz sein. Der Zürcher Kinounternehmer Daniel Schmid erwartet in den nächsten zwei Jahren rund zwanzig digitalisierte Säle in der Schweiz. «Es hängt alles davon ab, ob genügend digitale Filme verfügbar sind.» Am weitesten voran geschritten ist die Digitalisierung in Irland. Auf der grünen Insel begannen im März 2005 Techniker sämtliche 500 Säle des Landes mit digitalen Projektoren auszurüsten. Das Projekt soll zum Musterfall werden und im nächsten Sommer abgeschlossen sein.
Nicht auf Hollywood warten mochte Cinemax-Chef Schmid. Seine Firma finanzierte den Projektor aus der eigenen Kasse. «Für uns ist er ein Werbeinstrument», sagt Schmid, der in Kinoinseraten jeweils darauf hinweist, wenn er einen digitalen Film zeigt – und so ein «weit höheres Publikumsaufkommen» verzeichnet. Eine Erfahrung, die US-Zahlen bestätigen. Das Publikum ist neugierig auf die neue Technik. Bis zu vierzig Prozent mehr Umsatz erzielen amerikanische Kinos mit digitalen Filmen.
Umsatz, die eine angeschlagene Branche bitter nötig hat. Das Kino steckt in der Krise, weltweit. Jährlich um drei Prozent reduzierte sich das Publikumsaufkommen in den letzten drei Jahren in den USA. Von einem «Katastrophensommer» ist in Hollywood die Rede. In Deutschland werden 2005 zwanzig Millionen Besucher weniger ins Kino strömen als im Vorjahr. «Wir haben ein schlechtes Jahr», sagt auch Schmid. Die Schuld weist er den mangelhaften Filmen und dem veränderten politischen Klima zu. «Die Europäer akzeptieren ganz einfach nicht mehr jeden amerikanischen Film.»
In Abrede stellt Schmid, was amerikanische Analysten behaupten: Demnach verliert das Kino Augenpaare an in der eigenen Stube installierte High-Definition-Fernsehapparate und an das Internet. Bereits jetzt erzielen die Studios höhere Gewinne mit DVDs als mit Kinofilmen. Filme gelangen binnen weniger Monate vom Kino in die Videothek oder ins Pay-per-view-Programm. Zur Freude des Publikums. Gemäss einer von AOL und der Nachrichtenagentur AP durchgeführten Umfrage gaben 73 Prozent der Amerikaner an, sie würden Filme lieber zu Hause als im Kino sehen. Zumal in den nächsten Jahren die Fernsehbilder dank der High-Definition-Technik weit brillanter werden als sie heute noch sind.
Für die Kinobranche besteht also dringend Handlungsbedarf. «Wir müssen im Kino weiterhin bessere Bilder anbieten als das zu Hause möglich ist», sagt der Präsident von Sony Pictures Digital, Yair Landau, in einem Interview mit «Business Week». Die möchte Sony mit einem dieses Jahr vorgestellten Projektor liefern.
Sony ist der jüngste von insgesamt vier grossen Anbietern. Drei Firmen – Christie in Kalifornien, Barco in Belgien und die japanische NEC – verwenden Chips von US-Hersteller Texas Instrument (TI). Sony hat eine eigenständige Technologie entwickelt. In den Startlöchern wartet zudem Eastman Kodak. Der Hauptlieferant von 35-Millimeterfilmen hat für nächstes Jahr einen eigenen Projektor angekündigt.
Es wird nicht einfach, Texas Instrument zu verdrängen. Sämtliche Projektoren in den USA – wie auch derjenige in Zürich – basieren auf der Technik des Taschenrechnerspezialisten. Gut fünfzehn Jahre lang entwickelte das in Dallas beheimatete Unternehmen das so genannte Digital-Light-Processing-System (DLP). DLP-Projektoren sind in der Lage, digitale wie analoge Formate zu lesen und sie gestochen scharf sowie farbecht digital auf die Leinwand zu projizieren. Ein DLP-Projektor erzeugt Bilder mittels 2,5 Millionen Minispiegeln. Jeder Spiegel öffnet und schliesst sich häufiger als 50 000 Mal pro Sekunde. Weil über 90 Prozent der Spiegelfläche Bilder erzeugen, so Texas Instrument, entstehe nahezu perfekte Brillanz. Das digitale Bild, das die Spiegel reflektieren, wird dann durch eine Linse geführt. Projizieren kann man es sowohl auf eine flache wie eine 360-Grad-Leinwand. Im Gegensatz zu bisherigen Videoprojektionsanlagen erzeugt das DLP-System 24 Bilder pro Sekunde, genau so viele wie herkömmliche 35-Millimetervorführmaschinen. Das bringt natürlich erscheinende Bewegungen. Als «absolut ruhiges, scharfes und gleich bleibendes Bild» beschreibt Cinemax-Chef Schmid, was sein Projektor erzeugt.
Bleibt die Frage der Piraterie. Auf 3,5 Milliarden Dollar schätzt die amerikanische Kinoindustrie den jährlich Verlust, den illegale Kopierer verursachen. Bis anhin handelt es sich beim Raubmaterial um mit billigen Videokameras von der Leinwand aufgezeichnete Filme, die auf DVD kopiert und auf dem Schwarzmarkt feilgeboten werden. Deren Bild- und Tonqualität ist drittklassig. Das ändert sich dann, wenn die Schwindler in den Server des Kinos eindringen und beliebig viele DVD-Scheiben in perfekter Qualität herstellen.
Die Studios entwarnen. Sie haben vom Fiasko der Musikindustrie gelernt – und setzen auf ausgeklügelte Verschlüsselungstechnologie. Jede digitale Filmkopie wird mit Anti-Piraterie-Software und einem Kopierschutz versehen. Der Produzent kann darauf etwa festlegen, wem eine Vorführung zu welchem Zeitpunkt erlaubt ist. Das hindert Operateure daran, wie bis anhin mitten in der Nacht unbesehen illegale Kopien herzustellen. Hinzu kommt eine Technologie, die das digitale Bild für herkömmliche Videokameras unerkenntlich machen soll.
Die Bildqualität ist hervorragend. Die Piraterie lässt sich beschneiden. Die Finanzierung scheint möglich. Demnach dürfte der Siegeszug des digitalen Kinos über den Industriestandard führen. Den setzen die Studios in Hollywood fest, die den Markt kontrollieren. Nach jahrelangem Streit scheint nun auch hier Einigkeit zu herrschen. Der universelle Standard sei gefunden, verkündeten die Studios Ende Juli an einer Pressekonferenz. Ob der so lange hinhält wie der 35-Millimeterfilm, muss sich erst noch weisen.