Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Aren lernt den Kapitalismus. Stolz streckt er dem Mann am Bankschalter einen Scheck hin. «Die Hälfte in großen Noten, den Rest aufs Konto», wünscht der Kunde. Er versucht, ein ernstes Gesicht zu machen. Der Kassierer händigt Aren eine goldene Bankkarte aus, ein Geldbündel, das Sparbuch sowie einen Zettel mit vier Zahlen. «Mit diesem PIN-Code können Sie an Geldautomaten jederzeit Cash holen. Bewahren Sie ihn sorgfältig auf!» Der Kunde bedankt sich und geht. Der Kunde ist fünf Jahre alt.
Der Junge mit dunklen Augen und dunklem Haar ist einen Tag lang geschäftstüchtig. Er ist Bürger von Wannado City, einer Stadt für Kinder. Ein drei Fußballfelder großer Vergnügungspark in Fort Lauderdale, Florida. Eine Stadt, in der alles imitiert und auf Zwergengröße geschrumpft ist – und in der Kindern eingetrichtert wird, was die Welt zusammenhält: Geld.
Die kleinen Menschen sollen sich hier wie die großen verhalten. Sie sollen arbeiten, einkaufen – und ein zinstragendes Konto bei der Bank anlegen. Nicht in Dollars, sondern in Wongas, der offiziellen Wannado-City-Währung.
Arens Vermögen ist beachtlich. «Ich habe 220 Wongas auf dem Konto», sagt er und strahlt zur Mutter hinüber, die vor dem Fenster steht und anerkennend nickt. Für das Geld hat der Junge schließlich tüchtig gejobbt, wenn auch nur jeweils eine halbe Stunde lang. Zuerst als Pfleger im Krankenhaus, dann als Bäcker und Polizist. Als nächstes will er in der Mine schuften. Dort ist es dunkel und feucht. Dafür wird die Plackerei gut entlöhnt – mit 40 Wongas pro Schicht. Aren wählt seine Jobs nach den Verdienstmöglichkeiten aus. Bei zwei offenen Stellen nimmt er jene, die mehr einbringt. Zur Freude der Mutter. «Die Kleinen haben hier die Möglichkeit, das Leben zu testen», sagt Rebecca Pattoukia.
Eine Einsicht, die dem Erfinder von Wannado City besonders wichtig ist. «Möglichst realitätsnah» sollte die Stadt der Kinder werden, sagt Luis Laresgoiti, 41, ein groß gewachsener, schlanker Mexikaner, der mit leiser und sanfter Stimme seine Vision darlegt. Das Kapital stehe im Zentrum. «Geld ist der wichtigste Treibstoff in jeder Stadt und jedem Land – auch in Wannado City.» 40 Millionen Dollar investierte der mexikanische Entertainment-Konglomerats CIE in Laresgoitis‘ Wannado City. Der Vergnügungspark ist der erste seiner Art, zehn weitere Kinderstädte sollen demnächst in den USA gebaut werden. Geplant sind auch Expansionen nach Asien und Saudi Arabien.
Vor der Bank der Spielzeugwelt stehen die Kinder Schlange. Auch wer bei der Polizei Dienst tun will, wartet eine halbe Stunde, die Feuerwehr hat sogar Einstellungsstopp. Mit 900000 Besuchern rechnet Laresgoiti im ersten Jahr, rund 2500 täglich. Kinder zahlen 29,95, Erwachsene 15,95 Dollar Eintritt.
Das Gerichtsgebäude zieren massige Säulen, der Zahnarzt hat seine Praxis in einem hübschen Holzhäuschen, das amerikanische Kleinstadtidylle zaubert. An den Bäumen hängen bunte Herbstblätter, die Straßen sind kopfstein-gepflastert, das Licht ist überall in der Stadt gedimmt.
Zwischen 120 verschiedenen Berufen können die Drei- bis 13-Jährigen wählen. Selbst als Pathologe kann sich ein Kind anstellen lassen. Und die Eltern dürfen zuschauen, durch eine der vielen Fensterscheiben, wie ihre Kinder sich im Berufsleben bewähren. Wenn sie zufrieden sind mit ihrem Nachwuchs, ruhen sie sich auf Bänken an den Straßenrändern aus. Eingreifen dürfen sie ohnehin nicht. «Um ihre Kreativität richtig zu entfalten, müssen die Kids vor allem frei sein», sagt Laresgoiti, selbst Vater von drei Kindern. Und frei seien sie, wenn die Eltern nicht ständig reinreden würden. «Wir stehen unseren Kindern allzu oft im Weg.»
Nicht als Spielplatz, als Imitation der wirklichen Welt versteht er Wannado City. Details versuchen die Illusion perfekt zu machen. Die kleineren, aber lebensechten Werkzeuge. Die Arbeitskleidung, die Uniformen, das Papiergeld. Nur, dass keine Präsidenten, sondern Kinderköpfe die Scheine zieren. Zwölf Sponsoren fördern die Kinderarbeit. Die Zeitung, für die die Mini-Reporter recherchieren, heißt «Miami Herald», wie das größte Blatt Floridas. Den Einkauf erledigen die Kids bei «Publix», einer Supermarktkette mit mehr als 850 Läden in Amerikas Süden. Das Vermögen verwaltet die «State Farm», ein amerikanischer Finanzkonzern. «Sieh zu, wie sich deine Wongas anhäufen», lautet der eigens kreierte Bank-Slogan.
Eine Welt wie ein Surrogat. Sanitäter hieven Unfallopfer ins Plantation General Hospital. Nebenan, an einem Dutzend Flugsimulatoren, die im Rumpf einer ausrangierten DC 9 stehen, üben sich die Kinder als Piloten. Demnächst eröffnet Coca-Cola in der Nachbarschaft eine lokale Abfüllanlage. Einen «Kommunikationskanal zu den Kindern» erhielten die Sponsoren, erklärt Park-Erfinder Laresgoiti. Er sagt dies ganz frei von Ironie. «Je echter ein Rollenspiel, desto größer fällt der Lerneffekt aus.»
Waagerecht streckt die achtjährige Sydney den linken Arm aus. Dann rudert sie ein bisschen auf- und abwärts. Eine Studiokamera fängt ihre ungelenken Bewegungen ein. «Es ist sonnig. Wir haben 21 Grad im Norden von Wannado City», sagt die pummelige Zweitklässlerin. Sie trägt ein Jackett mit dicken roten Lettern auf der Brust: CNN. Sydney liest die Wetterprognosen beim amerikanischen Nachrichtensender, einem der Kinderpark-Sponsoren. Ihre Klassenkameradin Sarah spricht die Nachrichten, zusammen mit ihrer vierjährigen Schwester Andy, einem zierlichen Mädchen mit Pausbacken. Eine Stylistin, ebenfalls ein Kind, hat die drei Mädchen zuvor kameragerecht frisiert und gepudert.
Die Show beginnt. «This is CNN, America‘s News Leader», donnert eine sonore Stimme im Off. «Guten Abend in Wannado City! Das sind die News des Tages», sagt Sarah. «Wir schalten live in die Polizeistation», liest sie von einer Tafel ab. Nun wäre Andy dran. «Sie kann nicht lesen», sagt die Schwester. Einer der 250 erwachsenen Animateure von Wannado flüstert ihr den Text ein. Zaghaft spricht ihn die Minimoderatorin nach. Ihr Bericht ist für zehn Dollar als DVD zu erstehen. Ein lukratives Konzept: Kinder fabrizieren das Merchandising selbst. So wiederholt es sich in der Pizzeria, wo die Kleinen die Kochmütze überstülpen, eine Pizza backen – und den Lunch dann erstehen müssen. Im Souvenirladen am Ausgang können sich die Kinder zusätzlich mit Berufsutensilien eindecken. Eine Polizeiuniform mit Handschellen. Ein Feuerwehrhelm. Eine Kochschürze. Bezahlen müssen die Eltern die Waren in harten Dollars, nicht in Wongas.
Das stört Judy Odsess nicht. Die Mutter der beiden CNN-Moderatorinnen preist den «hohen erzieherischen Wert» der Erlebniswelt. Das Vergnügen komme dabei nicht zu kurz. Denn wer genug gearbeitet hat, kann danach die Freizeit im Freizeitpark genießen. Etwa in der Disco oder in einer Vorstellung des parkeigenen Theaters, das paradoxerweise «Peter Pan» zeigt, jenes Stück, das Kinder vom Erwachsenwerden abrät. «Verborgene Interessen» würden in Wannado City geweckt, sagt Judy Odsess. Wegen des angeblichen Bildungswertes schicken Schulen ganze Klassen hierher. Mit dem Segen der Lehrer und der Eltern.
Big Brother für die Kleinen – ein von der Casino-Stadt Las Vegas inspiriertes Sicherheitssystem sorgt für den totalen Kinderschutz. 60 unter der hohen Decke versteckte Kameras fangen alle Bewegungen ein. Unaufhörlich starrt hinter den Kulissen ein Wächter auf Monitore. Sicherheits-beamte schlendern in zivil durch die künstliche Stadt. Beim Eingang erhalten alle Besucher ein Armband mit Minisendern, so lässt sich ein verlorenes Kind sofort orten.
Margaret Marquez hat 30 Mädchen mitgebracht. Ihre Tochter Bianca hat sich gewünscht, ihren Geburtstag arbeitend zu verbringen. Der Vergnügungspark ist darauf eingerichtet. So kann, wer das «Ultimate Package» für 850 Dollar bucht, 15 Gäste mitbringen und darf unter anderem 90 Minuten lang eine Party feiern, einen Kuchen und drei riesige Käse-Pizzen essen. Am Ende gibt es dann noch ein Gruppenfoto von den Neu-Kapitalisten.
Bianca und vier ihrer Freundinnen binden sich hellblaue Arztkittel um und stülpen sich Latexhandschuhe über. Sie folgen «Doktor» Phillip Josaphat in den Operationssaal, wo unter einer grünen Decke eine lebensechte Puppe bereit liegt. Ein monotones Klopfen durchbricht das Gelächter der Mädchen. «Der Ton macht mir Angst», sagt Bianca, aus deren Mund eine Zahnspange blitzt. «Es ist der Herzschlag unseres Patienten Billy Bob. Er leidet übrigens an Nierensteinen», sagt «Oberarzt» Josaphat. In Wirklichkeit ist Josaphat ein 20-jähriger Biologiestudent aus Haiti, der im Park jobbt. «Nun müssen wir Billy Bob aufschneiden und den Stein entfernen.» «Cool», kreischt ein Mädchen. Bianca, das Geburtstagskind, sterilisiert die Bauchdecke, ihre Freundin seziert. Gedärme lugen hervor. «Geht es euch gut?», fragt der vermeintliche Arzt.
Ein Mädchen wird blass, dreht ab und zieht dann weiter in die Abteilung, wo sie Neugeborene umsorgen kann. Als Pflegerin wickelt und füttert sie Säuglinge aus Plastik. Bevor sie die Klinik endgültig verlässt, besucht sie noch die Adoptionsstelle. Hier bekommt jeder Interessent sofort sein Wunschkind, lebensechte und mit mitleidserregenden Gesichtsausdrücken modellierte Babypuppen.
Währenddessen arbeitet der falsche Doktor daran, die Illusion frisch zu halten. Mit Fensterputzmittel reinigt er Skalpell, Nierenschale und Pinzette. Dann legt er das aufgeschlitzte Stück Bauchdecke drei Minuten lang in den Mikrowellenherd, wo die rosarote Silikonmasse schmilzt. Zuletzt gießt Josaphat sie in eine Gipsform. Im Tiefkühlfach erstarrt sie wieder zu Haut. Gleich kommen neue Arbeitnehmer. Der Student wäscht sich noch schnell und zieht ein frisches Hemd über. Wannado verbietet den Angestellten das Schwitzen.
Es lebe das Klischee! Jeder soll hier seine Chance bekommen. Einige proben sogar freiwillig den klassischen Aufstieg von ganz unten nach oben. So wie der neunjährige Malcolm, der den Job des Auffüllers im Supermarkt angenommen hat. Er schnürt sich eine grüne Schürze um und füllt die Regale mit Ketchup, Senf und Erdnussöl. Fußballspieler wolle er werden, sagt Malcolm, der unter der Schürze das Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft trägt. «Doch wenn es dazu nicht reicht, muss ich wohl wirklich im Supermarkt arbeiten», sagt er. Geld ist auch ihm wichtig. «Es ist schön, viel davon zu haben. Ich fühle mich reich. Auf die Bank lege ich nichts, ich will das Geld in meiner Tasche spüren.»
In der Nähe des Supermarkts liegt der Schönheits-salon. Zwanzig Wongas legt die sechsjährige Rebecca Armstrong auf den Tisch. Cody, sieben Jahre alt, pinselt ihr dafür die Nägel rot an. «Ich entdecke, was es heißt, eine Frau zu sein», sagt Rebecca, ein zierliches Mädchen mit blonden Haaren.
Durch die Fensterscheibe schaut ihre Mutter zu. «Hier hat meine Tochter das Gefühl, wichtig zu sein». Sie lerne, so glaubt die Mutter, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Und dann sagt sie den Satz, den die meisten anderen Eltern früher oder später sagen, wenn sie ihre Kinder durch Wannado begleiten: «Mein Kind erfährt hier, Geld zuerst zu verdienen, bevor man es ausgeben kann.»