Allen recht getan ist eine Kunst

Die mächtige US-Arzneimittelbehörde steht nach diversen Missgriffen von allen Seiten unter Druck. Nun hat sie endlich einen neuen Chef. Der ehemalige Tierarzt Lester Crawford muss die US-Arzneimittelbehörde aus dem Kreuzfeuer der Kritik manövrieren. Der Pharmaindustrie drohen striktere Kontrollen.

Von Peter Hossli

Lester Crawford konnte sich dann doch nicht so richtig freuen, als er letzte Woche zum Kommissär der einflussreichsten Behörde Amerikas gewählt wurde, denn ein monatelanges Gezänk war vorangegangen. Über ein Jahr blieb der Chefposten der Food and Drug Administration (FDA) verwaist. Das Amt gebietet über ein Viertel aller Produkte, die in den USA Umsatz erzielen.

Ein ideologisch-religiöser Streit um die Zulassung von Verhütungsmitteln hatte Crawfords Bestätigung im Senat begleitet. Ausgerechnet ein republikanischer Senator kritisierte überdies den von Präsident Bush nominierten Crawford schroff. «Die systematischen Probleme bei der FDA verlangen nach einer visionären Führung», sagte Chuck Grassley aus Iowa. «Doktor Crawford hat mir nicht zeigen können, dass er die FDA erneuern kann.»

Das ist bitter nötig. Keine Behörde greift direkter ins tägliche Leben der Amerikaner ein und vereint mehr Einfluss auf sich. Je nach FDA-Weisung schnellt der Aktienkurs eines Pharmamultis in die Höhe oder bricht ein. Manche Biotechfirma, die bloss ein Produkt anbietet, hat nach einem negativen FDA-Entscheid schon aufgegeben.

Fast so viele Lobbyisten wie Parlamentarier

Es gebe Hinweise, sagt Grassley, dass die FDA mit den Herstellern von Arzneimitteln zu sanft verfahren sei. Der im Juni geschaffene Sicherheitsrat für Medikamente genüge ihm keineswegs. Grassley verlangt, was Konservative selten fordern: mehr Staat. Eine unabhängige Behörde müsse her, die jene Behörde überwache, deren Aufgabe das Überwachen sei. Die Forderung ist eine Schmach für die FDA, ein vermeintlich unbestechliches Amt von Weltruf. Ihr ist es etwa zuzuschreiben, dass in den USA keine Contergan-Kinder zur Welt kamen. Die Sicherheitsvorschriften der FDA für die Zulassung von Pillen und Pulver gelten global als Massstab.

Seit einigen Monaten häufen sich jedoch Pannen und Pleiten. So fehlten letzten Winter 40 Millionen Dosen Grippeimpfungen. Das Rheuma- und Schmerzmittel Vioxx von Merck soll 27 000 Todesfälle und 100 000 Herzinfarkte verursacht haben. Der FDA bekannte Warnungen blieben lange unter Verschluss. Die US-Öffentlichkeit reagierte genervt auf die Meldung, Antidepressiva erhöhten womöglich die Selbstmordgefahr. Kinder und Teenager seien besonders gefährdet, gestand die FDA. Ebenso problematische wie beliebte Medikamente wie Zoloft oder Prozac sind aber schon lange auf dem Markt.

Jahrelang auch konnte Johnson & Johnson ein gefährliches Mittel gegen Sodbrennen verkaufen. Angeblich starben 300 Personen, 16 000 erlitten Verletzungen. Selbst Ärzte hatten keinen Zugang zu einer von der FDA ausgesprochenen, aber unter Verschluss gehaltenen Warnung. Die FDA hatte sich zu wenig resolut gegen den Lobbyapparat der Pharmaindustrie wehren können. Und der ist beachtlich. 526 Lobbyisten bearbeiten in Washington im Auftrag der Pharmaindustrie US-Parlamentarier, errechnete eine Konsumentenorganisation. Das entspricht fast der Zahl der Parlamentarier.

Kritik hagelte es gar aus den eigenen Reihen. Das Sicherheitssystem sei regelrecht zusammengebrochen, sagte FDA-Mitarbeiterin Janet Woodcock vor einem Ausschuss des Institute of Medicine. Zumal in den USA jährlich 100 000 Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten sterben.

Angesichts der Flut von Kritik handelte die FDA. Anfang Juni setzte sie einen Sicherheitsrat ein, der die Medikamente vor deren Einführung einer zusätzlichen Prüfung aussetzt. Die Pharmaindustrie befürchtet, das Instrument könne zu einem übertriebenen Aktivismus führen. So verlangt die FDA von Novartis, ihr Hautmittel Elidel mit einer Warnung vor Hautkrebs zu versehen. «Damit sind wir nicht einverstanden», sagt ein Novartis-Sprecher. Novartis werde mit wissenschaftlichen Belegen den Entscheid anfechten. Der Novartis-Sprecher wollte nicht kommentieren , ob die FDA generell strikter vorgehe. Wie sein Kollege bei Roche verwies er auf den Branchenverband der Pharmaindustrie, die Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA).

Es sei noch zu früh, um zu sagen, ob die FDA aktivistisch verfahre, sagt PhRMA-Sprecher Jeff Trewhitt – und droht zugleich. «Gerät der Sicherheitsrat ausser Kontrolle, erheben wir die Fäuste.» Die Industrie fürchtet wohl zu Recht, der neue Rat oder die von Senator Grassley geforderte unabhängige Behörde werde die Zulassung neuer Medikamente verlangsamen, was natürlich die Gewinnmargen trübe.

Die Konsumentenorganisationen sehen es anders. Sie schieben die Schuld am Niedergang der FDA der Pharmaindustrie zu. Die habe zu Beginn der Neunzigerjahre darauf gedrängt, das so genannte Fast-Track-System einzuführen. Statt eine Pille jahrelang klinisch zu testen, beobachtete die FDA seit 1992 bei gewissen Medikamenten die möglichen Nebenwirkungen erst nach der schnelleren Zulassung – im Feldversuch. Diese Praxis spart bei der Forschung Geld und bringt Umsatz.

1997 bewilligte die FDA überdies Werbung für einzelne Medikamente, erneut auf Druck der Pharmafirmen. Seither werden Fernsehzuschauer und Radiohörer regelrecht mit Spots für Arzneimittel bombardiert. Statt dem Rat des Arztes zu folgen, verlangen nun immer mehr Patienten jene Pille, die sie am Vorabend im TV gesehen haben.

Gerade mal drei Tage im Amt, liess der neue FDA-Kommissär Crawford bereits die Muskeln spielen. Nach drei Todesfällen ordnete er letzte Woche den Rückzug von 206 000 Pumpen an, mit denen Spitäler intravenös Medikamente verabreichen. Gleichzeitig kündete er an, Probleme künftig nicht bloss mit der Pharmaindustrie zu besprechen, sondern der Öffentlichkeit zu erklären. Die Branche begrüsst das forsche Auftreten – vorerst. «Eine starke Stimme bei der FDA ist angesichts der Kontroversen nötig», sagt PhRMA-Sprecher Trewhitt.

Der Vioxx-Prozess

Vor vier Jahren starb Robert Ernst an Herzversagen. Schuld sei das Schmerzmittel Vioxx von Merck. So heisst es in einer Klage, die vorletzte Woche in Angelton, Texas, vorgetragen worden ist. Es ist die erste von rund 3000 Klagen, die bisher gegen Merck eingereicht worden sind. Tausende dürften in Sammelklagen zusammengefasst werden. Je nach Ausgang des Verfahrens rechnen Analysten mit einem Schaden für Merck von bis zu zehn Milliarden Dollar. Merck lehnt jede Verantwortung ab.

Stichwort

Die Food and Drug Administration wurde 1906 als unabhängige Behörde der US-Regierung ins Leben gerufen. Sie kann Weisungen ohne Segen des Parlaments erlassen. Ihr ursprünglicher Zweck war es, die Amerikaner vor Scharlatanen zu bewahren. Mittlerweile überwachen FDA-Angestellte nicht nur Medikamente und Lebensmittel, sondern auch Tierfutter, Blutprodukte, Kosmetika, Medizinalinstrumente und Saatgut. Überdies nimmt die FDA Stellung zu gesundheitspolitischen Themen. �