Die letzte Salve

Das «Maschinengewehr Gottes» rief noch einmal zum Kampf für die Werte Jesu. Die Anhänger kamen in Scharen. Sogar Bill und Hillary Clinton liessen sich ins Gebet nehmen.

Von Peter Hossli (Text) und Nina Berman (Fotos)

bill_grahamRegungslos starrt Billy Graham in die Weite. Ein Meer schwitzender Körper strömt auf ihn zu. Kurz vor der Bühne stoppen die Menschen, schliessen die Augen, recken die Arme, legen das Kinn auf die Brust. So viele Schwarze wie Weisse und Latinos «akzeptieren Jesus als ihren Retter». Zu dieser «wichtigsten Entscheidung Eures Lebens» hat sie Graham vom Podest aus eben erst ermuntert. Ein Heer von Helfern notiert Namen und Adressen der Bekehrten. Sichtlich geniesst der Evangelist den andächtigen Moment.

Er gehört ganz allein ihm. Er rief, sie kamen. Zum letzten Auftritt bevor er abtritt, perfekt orchestriert und zugeschnitten auf die säkularen Massenmedien. Zwar kündet ihn an diesem heissen Samstagabend der Star der lautesten christlichen Rockband an. Doch dann tritt der Rockstar der Politik an. Überraschend spricht Bill Clinton bevor er spricht, Billy Graham, der grosse alte kranke Pastor Amerikas. Als «einzigen Menschen, der seinen Glauben nie betrogen hat», preist ihn Clinton.

billy_graham_crowdEin letztes Mal beschwatzte der 86-jährige Evangelist vergangenes Wochenende die Sinnsuchenden. Ausgerechnet in New York, dem vermeintlichen Sündenpfuhl der USA. Rund 200000 Menschen kamen in den Corona-Park in Queens, dorthin, wo im Spätsommer die Tennisasse das US Open austragen und ein stählerner Globus von der Weltausstellung von 1964 zeugt. Molly Jennerich, eine blonde Fromme aus Connecticut kam, «um einem wahrlich historischen Ereignis» beizuwohnen. «Graham ist für uns eine lebende Legende.»

Hauptsächlich der Zementierung dieser Legende dient der wahrscheinlich letzte Kreuzzug Grahams, wie der Sohn eines Milchbauern seine Missionsreisen ihn Anlehnung an die Kreuzritter nennt. Dem Zufall ist nichts überlassen. Auf die Minute genau tritt der christliche HipHopper auf und ein christlicher Beyoncé-Verschnitt ab, singt ein Chor, predigen lokale Kirchenleute, sagt Bürgermeister Michael Bloomberg das Grusswort. Grossbildschirme zeigen Konzerte und Sermone auf drei Nebenbühnen. Ziel gerichtet schallt der Ton. Auf Schwenkkranen montierte Kameras fangen das Spektakel ein. Den in Scharen angereisten Gläubigen bleiben die Nebenrollen in der nostalgischen Abschiedsvorstellung. Spontanität fällt weg, da alle, die kommen, Jesus bereits gefunden haben. Auf den Rängen des Hauptplatzes sitzen nur Auserlesene. Spirituelle Ekstase fehlt.

Denn Graham, bekannt als «Maschinengewehr Gottes», entfacht mehr ein Strohfeuer als eine letzte Salve abzufeuern. Zu kurz, zu matt sind seine drei Reden. Länger als 25 Minuten kann er nicht mehr. Graham, der in jungen Jahren täglich 125 Gramm Butter ass um an Statur zu gewinnen und früher stundenlang predigte, leidet an Parkinson. Krebs nagt an der Prostata. Im Hirn hats zu viel Wasser. Letztes Jahr brach er die Hüften und das Becken.

Die Kraft reicht gerade noch, die wegen enormer Hitze von der Feuerwehr begossenen Gläubigen vor der Apokalypse zu warnen. Oder mit Referenzen aus der Pop-Kultur für Jesus zu werben. Böse enden werde, wer sich wie der Held im neusten «Star Wars»-Film fürs Böse statt fürs Gute entscheide. Wenn die Rolling Stones im «laut MTV» beliebtesten Song «Can’t Get No Satisfaction» keine Befriedigung fänden, wisse er warum. «Sie suchen sie mit Sex, Alkohol und Drogen.» Graham hat eine einfachere Lösung parat – Jesus. Rettung widerfahre dem, der Gottes Sohn zu sich lasse, sich als Sünder bekenne, um Vergebung bitte und das Leben künftig Gott widme.

larry_rossEs ist dieselbe traditionelle Botschaft, die der Hüne Gottes seit nunmehr 60 Jahren verbreitet, allerdings dem veränderten Medienumfeld angepasst. Das Drehbuch dazu hat ein anderer Hüne verfasst, der gross gewachsene Medienprofi Larry Ross. Seit 24 Jahren ist er das Sprachrohr von Billy Graham. Er formt das Image des Unfehlbaren, des einzigen amerikanischen Evangelisten, der bisher ohne Sex- und Finanzskandal über die Runden gekommen ist. Nun will Ross sicher sein, dass zum Schluss nichts mehr anbrennt und sein Mann im besten Licht abtritt. Deshalb kümmert sich der 2-Meter-Riese mit den kurzen grauen Haaren um jedes Detail. Beugt sich nieder, wenn jemand kleiner als er etwas wissen will. Ist selbst am Samstag früh zugegen, wenn die Christen-Kinder gebannt den Action-Figuren namens Bibleman und Biblegirl folgen, die mit Laserschwertern das Böse bodigen.

Drei Tage vor Kreuzzug-Beginn lockte Ross rund 30 Fernsehteams in den 64. Stock des Rockefeller Centers in Manhattan, dazu hunderte Reporter und Fotografen. Fünfzehn Minuten lauschte die Weltpresse Graham. Dessen Botschaft war fokussiert und stand am selben Morgen bereits in der «New York Times», nämlich dass New York sich religiös wandele und Jesus im Leben der Grossstädter nun eine zentralere Rolle spiele. Ausdrücklich verlangte Ross, nur Glaubensfragen zu stellen. Auf politische Themen gehe Graham nicht mehr ein, «weil sie vom Gospel ablenken und die Gemeinschaft spalten». Rosses Wort war den Journalisten Befehl. Niemand warf eine kritische Frage ein. Ans Mikrofon wagten sich bloss Reporter religiöser Blätter. «Wie lautet ihr Lieblingsgebet?», wollte eine Frau wissen.

Ross war hernach zufrieden. Nichts darf das Vermächtnis einer einzigartigen religiösen Karriere trüben, die sogar jene von Johannes Paul II in den Schatten stellt. Graham ist der Papst Amerikas. Ein Glaubensmann, der eine wortwörtliche Auslegung der Bibel verlangt. Niemand hat zu mehr Menschen direkt gesprochen als er. Zuerst in Zelten, dann in Hallen, schliesslich in Sportstadien. 210 Millionen Gläubige hörten ihm bis am Sonntagabend live zu, in 185 Ländern. In der Schweiz war er zweimal, 1955 und 1960. Sagenhafte 100 Millionen Menschen haben in seinem Beisein angeblich Jesus gefunden.

Fünfzig Jahre lang strahlte er eine wöchentliche Radiosendung aus, zuletzt in 100 Ländern. Sein Magazin «Decision» erreicht eine Auflage von über eine Million Exemplar. Er hat 125 evangelische Filme produziert und 24 Bücher verfasst. Wochenlang stand 1997 seine Autobiografie «Just as I am» an der Spitze der säkularen Bestsellerlisten.

Als «Meister-Vermarkter des Glaubens» bezeichnet ihn das US-Magazin «Time», dessen Titelblatt er 1954 erstmals zierte. Zu jener Zeit erfand der theologisch nicht sonderlich gewandte Graham, was derzeit als monumentale Welle durch die USA schwappt – den modernen Evangelismus. Der ist mittlerweile geprägt von Mega-Kirchen, prall gefüllten Kassen und enormem politischen Einfluss.

Grahams Erben treiben soziale Themen wie Abtreibung oder die Homo-Ehe voran und bescherten damit Präsident George W. Bush die Wiederwahl. Beschämt gestanden die Chefredaktoren grosser Zeitungen, die christliche Bewegung unterschätzt zu haben. Umgehend würden sie das Versäumnis nachholen.

Larry Ross ist das recht. Der Auftritt in New York katapultiert seinen fast vergessenen Klienten wieder zum Medienstar. Redete der gebrechliche Pastor jahrelang nicht mit der Presse, gewährte er jenen Zeitungen, Magazinen und Sendern Interviews, «zu denen Gott ihn schickte», sagt sein Sprecher. Eine Stunde war er bei CNN-Talker Larry King. In etlichen Morgensendungen redete er. Graham lud Reporter der «New York Times» auf seinen Berg in North Carolina, wo er seit Jahren mit seiner ebenfalls kranken Frau lebt.

Der durchwegs wohlwollenden Berichterstattung eilte eine aufwändige Werbekampagne voraus, die einen beachtlichen Teil des 7-Millionen-Dollar-Budgets des Kreuzzuges beanspruchte. Wochenlang liefen am Radio und am Fernsehen Spots. Die lokalen Zeitungen druckten ganzseitige Inserate. Kirchen kleisterten ihre Fenster mit Plakaten zu. Billboards säumten die Strassen. Sie warben mit dem stoischen, von weissem Haar umwehten Antlitz Grahams. Dazu eine simple Botschaft. «Hör Dir Billy Graham an. Kostenlos.»

Ganz gratis wars dann doch nicht. Jeder Besucher erhielt einen Umschlag – für die milde Gabe. «Niemand gibt mehr als Gott», riefen lokale Pastoren vor Grahams Sermon jeweils aus. «Jetzt ist er an der Zeit, dass wir geben, in Bar, per Scheck, mittels Kreditkarte.» Das würde den Aufwand für das «teuerste Billy-Graham-Ereignis aller Zeiten» decken. Wie viel noch fehlt, änderte sich täglich. Zuerst war es «die Hälfte», dann «45 Prozent», am Schluss «50 Prozent».

Fest steht: Das arrangierte Adieu ist teuer. Neun Monate im Voraus richteten sich Angestellte Grahams in New York ein. Sie kontaktierten 10000 lokale Kirchen, 1400 liessen sich einspannen – «und beteten monatelang für den Erfolg der Mission», so ein Pressesprecher. An Vorbereitungskursen paukten sie Grahams Botschaft und das Missionieren. So gelangt jede Adresse eines Bekehrten oder erneut Bekehrten in den zentralen Computer. Bereits Tage nach dem Event erhalten die so registrierten Gläubigen einen Anruf, «der hilft, sie auf dem spirituellen Weg zu begleiten», erklärt ein Helfer.

Geradezu meisterhaft gelang der überraschende wie verschlüsselt angekündigte Auftritt von Bill und Hillary Clinton. In jedem Fernsehinterview sagte Graham, er hätte den Ex-Präsidenten und die Senatorin eingeladen. Noch wisse er aber nicht, ob sie wirklich kämen.

Sie kamen. Beide Seiten profitierten. Clinton soll Evangelist werden, seine Frau könne das Land dann regieren, witzelte Graham. Schweigend sass sie hinter ihm, perfekt geschminkt, im lachsfarbenen Hosenanzug – und genoss die Worte. Kandidiert Hillary 2008 wie vermutet fürs Präsidentenamt, hat sie nun Bildmaterial für die Wahlwerbespots im entscheidenden Bibelgürtel.

Die Präsenz Clintons wiederum rief in Erinnerung, wie nahe der einstige Wald- und Wiesenprediger der Macht ist. Jedem Präsidenten seit Harry Truman stand er spirituell bei, mit Ausnahme des Katholiken John F. Kennedy. Dessen Vorgänger Dwight Eisenhower schwor Graham ins Amt ein, dessen Nachfolger Lyndon B. Johnson beerdigt er. Richard Nixon und Ronald Reagan nannten ihn «einen Freund». Die Nacht vor dem ersten Golfkrieg verbrachte Graham im Weissen Haus und leistete George Bush Beistand. Bush bezeichnete ihn als «Amerikas Pastor». George W. Bush, einst ein notorischer Trinker, soll nach einem Treffen mit Graham die Flasche weg gestellt haben. Der Fromme lenkte Clinton durch die Turbulenzen mit Monica Lewinsky.

Politisch in die Klemme kam der Evangelist nur einmal, vor drei Jahren, als ein aufgezeichnetes Gespräch mit Nixon aus dem Jahr 1972 öffentlich wurde. Auf Tonband bezichtigte Graham die amerikanischen Juden als Opportunisten.

Seinen Kopf aus der Schlinge zog Medienprofi Larry Ross. Er liess Graham sagen, keinerlei Erinnerungen an das Gespräch zu haben. Gleichzeitig übernahm er die volle Verantwortung und entschuldigte sich bei jüdischen Organisationen. Noch immer würde er sich dafür schämen, zitierte ihn die «New York Times» vorletzte Woche.

Wenn nicht vergessen so vergeben ist der Vorfall in Queens. Nur wärmste Worte hat Julie Beyel, 28, für ihn übrig. Die Sozialarbeiterin im weiten Rock mag dessen traditionelle Gesinnung. Sie ist hier, «weil ich endlich etwas Positives in New York sehen will». Es sei schwierig, in New York eine Christin zu sein, trotz Einwanderern aus Afrika und Südamerika, die Bibel-Kirchen füllen. «Wir sind umgeben von Sünde.»

Eine Ansicht, die Clint Cleckler, 19, teilt. Er lebt in einem 2000-Seelen-Kaff in Alabama. Erstmals weilt er in New York. Tagsüber schlendert er mit drei Gleichgesinnten durch die Strassen Manhattans und lockt verlorene Seelen zu Graham. «Es ist verdammt hart», sagt Cleckler, ein athletischer Kerl mit blauen Augen und kurzem Haar. «Alle sind hier so beschäftigt. Für Gott hat niemand Zeit.» Anders als im Süden, wo für den Gospel «fast jeder die Türe öffnet».

Im Corona-Park kommt Graham nicht nur an. «Gott hasst Billy Graham», steht auf farbigen Plakaten, die ein kleines Grüppchen namens «God Hates Fags» zum Himmel streckt, etwa: Gott hasst Schwuchteln. Sie verurteilen den Evangelisten, weil er Schwule und Lesben nicht generell verurteilt. «Eben hat doch die Schweiz in einer Abstimmung Homo-Beziehungen legitimiert», sagt einer der gut informierten Demonstranten. «Jetzt hasst Gott die Schweiz. Die Schweiz ist ein bösartiges Land.» Zum Reporter: «Sie sind Schweizer? Gott hasst Sie.»�