Von Peter Hossli
Zwar hatte der Präsident im Sinn, über die Wahlen im Irak zu reden. Das Pressecorps im Weissen Haus spielte nicht mit und löcherte ihn letzte Woche mit Fragen zur angekündigten Umbildung der Altersvorsorge. Bush antwortete missmutig, sprach aber Klartext: «Wer die Social Security anrührt, dem droht bekanntlich der politische Tod», sagte Bush ungeschminkt. Er sei jedoch gewillt, ja sehe sich gezwungen, das Risiko einzugehen. Handle man nicht bald, «geben wir ein bankrottes System an unsere Kinder und Enkel weiter». Just nach der Rede zur Lage der Nation reiste er ins Landesinnere, «um mit Vehemenz mit Amerikanern über Social Security zu reden».
Was bitter nötig ist. Bushs Reformabsicht birgt – neben den ökonomischen – grandiose politische Gefahren. Selbst konservative Kommentatoren reagieren eher reserviert. Gemässigte Republikaner warnen, der Plan könnte der Partei die seit nunmehr über zehn Jahren anhaltende Mehrheit in beiden Kammern des Kongress’ kosten. Denn: Absegnen muss den New New Deal das Parlament.
Die Social Security, 1935 als Reaktion auf die Wirtschaftskrise und Teil des New Deals ins Leben gerufen, gilt als grösste soziale Errungenschaft Amerikas. Wer sie beschneidet oder gar zertrümmert, vergrault die Wähler. Denn zwei Drittel der 36 Millionen pensionierten Amerikaner können es sich schlicht nicht leisten, Kürzungen beim monatlichen Social-Security-Scheck von derzeit 1184 Dollar hinzunehmen. Genau das droht, sollte Bushs Plan realisiert werden, rechnen Ökonomen jeder politischen Couleur vor (siehe Bericht nebenan).
Deshalb dürfte die Social-Security-Debatte zum zentralen Thema für die «Midterm»-Wahlen im November 2006 werden, bei denen sich alle 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses sowie ein Drittel des 100-köpfigen Senats der Wiederwahl stellen müssen. Die Wähler, jetzige wie künftige Social-Security-Empfänger, sind skeptisch. Knapp die Hälfte der befragten Amerikaner gibt in Umfragen an, prinzipiell würden sie private Anlagekonten zwar befürworten. Erklären die Frager den Befragten, ihre Konten seien den wankelmütigen Gesetzes des Marktes ausgesetzt, befürworten weniger als fünfzig Prozent den Systemwechsel. Bloss ein Drittel folgt Bush, wenn dessen Reform Kürzungen bei den Versicherungsleistungen bringe. Eine Notwendigkeit, die etwa Bushs Social-Security-Berater Peter Wehner unlängst in einem internen Memorandum eingestand.
Neben den Kürzungen bergen die Kosten für den Systemwechsel – geschätzt: 2000 Milliarden Dollar – die grössten politischen Fallstricke. Die enorme Summe muss entweder mit Staatsanleihen finanziert werden, was das bereits riesige Loch im Staatshaushalt weiter vergrössern würde. Oder mit neuen Steuern – ein Tabu für republikanische Gesetzgeber.
Deren Situation ist also verzwickt. Erhöhen sie die Steuern, erzürnen sie die Wähler. Ebenso, wenn sie deren sozialen Pfründe kürzen. Deshalb zögern viele, wie bis anhin bedingungslos dem Präsidenten zu folgen. So weigert sich etwa der Repräsentant Jim Kolbe aus Arizona stoisch, wie Bush von «einer Krise» zu sprechen. Die auf Budgetdisziplin versessene Senatorin Olympia Snow distanziert sich vom Umbau – sie muss sich nächstes Jahr im ärmlichen Bundesstaat Maine der Wiederwahl stellen. Lindsey Graham, ein republikanischer Senator aus South Carolina, will die Reform nur durchziehen, wenn die Demokraten mitmachen.
Solche Dissidenz sorgt das Weisse Haus. Verweigern nur drei Senatoren Bush die Stimme, misslingt seine Reform. Was durchaus möglich ist. Die republikanische Fraktion ist in Splittergruppen gespalten. Längst nicht alle folgen den konservativen Revolutionären um den ehemaligen Speaker Newt Gingrich. Der sagt, private Vorsorgekonten würden die Wirtschaft stimulieren, dass weder Steuererhöhungen noch Kürzungen bei den Pensionen von Nöten wären. Viele Republikaner fürchten stattdessen, was gemäss «Business Week» auch Notenbankchef Alan Greenspan denkt: Noch höhere Schulden könnte den Dollar weiter schwächen und die Inflation anheizen.
Auf Hilfe von demokratischer Seite kann der Präsident im Gegensatz zur Krankenkassenreform nicht zählen. Die Demokraten sehen – unter Führung des liberalen Urgesteins Edward Kennedy – die Social-Security-Debatte als Chance, die Wahlniederlagen der letzten Jahre auszumerzen. Sie werfen Bush vor, er greife zur selben Taktik wie vor dem Irakkrieg. So sagt Repräsentantin Rosa DeLaura aus Connecticut, der Präsident schüre Angst und beschwöre eine Krise, wo es keine gebe. Die Lösung, die er anbiete, sei «radikal, derzeit nicht nötig und sie mündet in einer Katastrophe», sagt DeLaura. Mindestens 40 Jahre lang bestünde «keinerlei Handlungsbedarf».
Seit Wochen leitartikeln und titeln die Medien über die harten Fronten. Gegner wie Befürworter reiten eine aufgedonnerte PR-Kampagne, die an den jüngsten Wahlkampf gemahnt. Am Radio preisen konservative Talker Bushs Plan nonstop. Konservative Denkfabriken produzieren und verbreiten mit Grafiken gespickte Studien, die die staatliche Altersvorsorge als ruinös abstempeln. Dasselbe sagen Lobbyisten, die landesweit vornehmlich junge und angeblich risikobereitere Leute zu Vorträgen laden. Mitfinanziert wird die Lobby-Tätigkeit von Wall-Street-Banken, die hoffen, die privaten Konten gegen satte Gebühren zu verwalten.
Auf der anderen Seite aufgestellt haben sich die Gewerkschaften, liberale Think Tanks und Gruppierungen wie das Online-Netzwerk MoveOn.org. «Die Social Security ist nicht in der Krise», schreibt MoveOn in einem Massen-E-Mail. «Das ist eine klare Lüge, die kreiert worden ist, um die Dringlichkeit für radikale Veränderungen vorzutäuschen.»
Den heftigsten Widerstand leistet der 35 Millionen Mitglieder zählende Seniorenverband AARP, eine der einflussreichsten und kapitalkräftigsten Lobbygruppen der USA. «Allerhöchste Priorität» habe der Kampf gegen Bushs Reform, erklärte AARP-Chef William Novelli. Mit ganzseitigen Inseraten in den wichtigen Zeitungen nennt AARP die «Winners and Losers»: Die Pensionsempfänger, deren Einkünfte beschnitten, und die Banker an der Wall Street, deren Kommissionen explodieren würden.
Die Wall Street profitiert
«Wir verhalten uns in der Social-Security-Debatte neutral», sagt eine UBS-Sprecherin in New York auf Anfrage. Das war nicht immer so. Bis vor kurzem unterstützte die Schweizer Bank in den USA Lobbytätigkeiten für die Reformvorschläge von George W. Bush. Verwunderlich ist das nicht. Das Interesse der Finanzindustrie an den privaten Anlagekonten ist enorm. Jährlich 54 Milliarden Dollar dürften an amerikanische Börsen fliessen, sollte George W. Bush Social-Security Reform umgesetzt werden. Das entspricht rund einem Viertel der Summe, die derzeit jährlich investiert wird. Das, argumentieren die feurigsten Verehrer von privaten Anlagekonten, würde die Börse jahrelang boomen lassen und die Wirtschaft beflügeln. Was für die Finanzindustrie sicher zuträfe. Zusätzlich 940 Milliarden Dollar an Kommissionen könnte sie in den nächsten 75 Jahren dank der Reform einnehmen, rund ein Drittel mehr als ohne Systemwechsel. Am ehesten profitieren dürften Firmen, die es sich gewohnt sind, viele Konten mit verhältnismässig geringen Einlagen zu verwalten, etwa Vanguard Group, Fidelity Investments oder T. Rowe Price.