Von Peter Hossli
Professor Reich, Sie haben für John Kerry Wahlkampf betrieben. Wie geht es Ihnen?
Robert Reich: Gut. Natürlich bin ich enttäuscht.
Unter George W. Bush verlor Amerika so viele Jobs wie seit 70 Jahren nicht mehr. Das Defizit ist historisch hoch. Irak ertrinkt im blutigen Chaos. 35 Millionen Amerikaner leben in extremer Armut. Entschieden wurde die Wahl jedoch aufgrund des Widerstands gegen homosexuelle Ehen. Wie war das möglich?
Reich: Bush und die Republikaner haben hervorragend taktiert. Sie drückten soziale und kulturelle Themen in den Vordergrund, um von den enormen ökonomischen Problemen abzulenken. Seit Jahren reden die Konservativen gezielt über homosexuelle Ehe, Abtreibung und Stammzellenforschung. Damit brachten sie viele christliche Rechte an die Urne, die vor vier Jahren zu Hause blieben.
Die Taktik war bekannt. Warum reagierten die Demokraten nicht darauf?
Reich: Sie fanden keine Sprache, um mit der Arbeiterklasse über deren Probleme zu reden.
Wählten deshalb so viele arme Amerikaner Bush, obwohl das nicht ihren ökonomischen Interessen entspricht?
Reich: Bush offerierte ihnen ein moralisches Leitbild, Kerry einen Plan. Bush erlaubte es den Leuten, leidenschaftlich zu wählen. Kerry bot Regierungsprogramme, was weder auf- noch anregend ist. Präsidentschaftswahlen sind stets emotional.
Der Leistungsausweis von Bush ist gelinde gesagt penibel. Dennoch gelang es den Demokraten nicht, ihn abzuwählen. Warum?
Reich: Sie hätten dasselbe tun sollen wie Bush. Sie hätten ihre Ziele und Angriffe in einen moralischen Kontext verpacken sollen. Schwierig wäre das nicht gewesen. Es ist ein moralisches Versagen, wenn Dutzende von Millionen Arme voll arbeiten und dennoch Hunger haben und sich keine Krankenkasse leisten können. Es ist ein schreckliches moralisches Versäumnis, dass wir jährlich 500 Milliarden Dollar für das Militär ausgebeben und gleichzeitig die Steuern der Reichen kürzen und die Sozialprogramme streichen. Die Demokraten haben mit Fakten darüber gesprochen, nicht aber mit moralischen Begriffen.
Dann hat Kerry verloren, weil er die Sprache des Intellektuellen spricht und Bush diejenige des Moralisten?
Reich: Die Demokraten haben die emotionale Sprache durch eine bürokratische Sprache ersetzt. Dabei hatten sie das moralische Argumentieren einst meisterhaft beherrscht, etwa während der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren. Ihre Botschaft hiess damals «soziale Gerechtigkeit». Franklin D. Roosevelt verkaufte den «New Deal», indem er sagte, wir seien als Gesellschaft «moralisch verpflichtet», einander zu helfen. So konnte er das umfassendste Sozialprogramm unserer Geschichte lancieren.
Bush mobilisierte Wähler, in dem er ein landesweites Verbot für homosexuelle Ehe proklamierte. Haben demokratische Kandidaten künftig nur eine Chance, wenn sie darüber reden, was zwischen den Laken passiert?
Reich: Die Demokraten müssen nicht die Themen ändern, sondern die Begriffe. Für die evangelistischen Rechte bedeutet Moral, sich dem religiösen Dogma zu unterwerfen. Demokraten und Liberale sollen die moralische Sprache benutzen, damit die Wähler verstehen, dass eine gerechtere Gesellschaft verknüpft ist mit moralischen Werten. Sie müssen die Debatte vom Schlafzimmer in die Verwaltungsratsräume verlegen. Viele CEOs haben das Vertrauen der Öffentlichkeit verletzt. Ihr Handeln ist unmoralisch. Die Chefs von Enron haben nicht nur Regeln und Gesetze gebrochen, sie haben ihre moralische Verpflichtung gegenüber den Aktionären ignoriert.
Kerry hatte kaum über Enron geredet. Mit der Wirtschaft war die Wahl nicht zu gewinnen, auch nicht mit dem Chaos in Irak. Warum?
Reich: Seit jeher kümmern sich Amerikaner nicht sonderlich um Aussenpolitik. Nach wie vor glauben viele Amerikaner, Saddam Hussein sei mitverantwortlich für die Attacken vom 11. September, obwohl das widerlegt ist. Wir haben es hier mit einer klassischen George-Orwell-Lüge zu tun. Bush und seine Berater haben so oft die Unwahrheit wiederholt, bis eine Mehrheit der Leute sie glaubte.
Der Krieg gegen den Terror und der Irakkrieg gelten aber auch als strategische Flops. Geschadet hats Bush nicht.
Reich: Er hat den Krieg in einen moralischen Rahmen gezwängt und musste daher nie Details oder Pläne liefern, wie er ihn gewinnen würde. Es ging ihm nicht primär darum, einen weiteren Angriff zu verhindern. Bush nannte den Krieg eine moralische Pflicht Amerikas, die Terroristen zu bekämpfen und dadurch Demokratie und Freiheit zu fördern.
Er verzichtete auf Vernunft. Ihr neustes Buch heisst «Vernunft: Warum die Liberalen den Kampf um Amerika gewinnen werden». Das Wahlergebnis zeigt: Nicht auf Vernunft hört Amerika, sondern auf den Glauben. Es gibt amerikanische Intellektuelle, die bereits vom Ende der Aufklärung in Amerika reden. Sie lagen mit Ihrem Buch also falsch.
Reich: Sie müssen mein Buch genau lesen. Vernunft allein genügt nicht. Liberale brauchen auch Leidenschaft und Überzeugungskraft, zudem eine klare Vision, wohin sie die Nation tragen möchten. Diese Vision muss in echten Werten verankert sein. Bush bringt reichlich Leidenschaft mit und er kann die Leute überzeugen. Das hat er in den Debatten bewiesen. Kerry präsentierte Fakten und gute Sachargumente. Bush obsiegte aber in den Rededuellen, weil man seine Ansichten spürte. Dass sie oft falsch sind, spielt keine Rolle.
War Kerry der falsche Kandidat?
Reich: Er hat verloren. Bush zeigte der Nation eine zwar falsche, aber doch eindeutige Richtung auf. Amerika wusste hingegen nie genau, wohin Kerry das Land lenken möchte. Zu bedenken ist auch: Die Hälfte der Amerikaner hat die Politik von Bush zurückgewiesen, obwohl wir uns in einer Krisenzeit befinden. Es wäre aussergewöhnlich gewesen, den Präsidenten während eines Kriegs zu wechseln. Das gab es noch nie.
Sie zählen zu den Insidern der demokratischen Partei. Wer tritt in vier Jahren auf Ihrer Seite an?
Reich: Am ehesten wohl Hillary Clinton und John Edwards.
Wie können sie gewinnen?
Reich: Sie müssen über die Verteilung des Reichtums und über die Armut reden. Sie müssen die Arbeiterklasse wieder ins Spiel bringen. Ausserdem sollte die Aussenpolitik ein wichtiges Thema sein. Bushs Alleingang hat Amerika seiner globalen moralischen Autorität beraubt.
In wiefern trug Clintons Sexskandal zum Siegeszug der Moralisten bei?
Reich: Der Monica-Lewinsky-Skandal hat den lange nur schwelenden Kulturkrieg neu entfacht. Viele Leute im Landesinnern sagten mir, Demokraten seien unmoralische Menschen. Auf die Frage, warum, antworteten sie stets: Schwule Ehe, Abtreibung und Monica Lewinsky. Die Republikaner haben die Leute in einer verdeckten Kampagne unbemerkt an Lewinsky erinnert.
Blicken wir nach vorne. Welches sind die dringlichsten Aufgaben während Bushs zweiter Amtszeit?
Reich: George Bush hat in den nächsten vier Jahren viel zu tun. Er muss aus dem Irak raus. Iran und Nordkorea stellen echte Bedrohungen dar. Er muss verhindern, dass den Terroristen Massenvernichtungswaffen in die Hände fallen. Amerika hat nur noch wenige Freunde. Hinzu kommen enorme ökonomische Probleme. Wir können es uns nicht mehr lange leisten, jährlich eine halbe Billion Dollar für das Militär auszugeben.
Bush nennt seinen Wahlerfolg «ein Mandat». Der konservative Flügel der Republikaner will jetzt die konservative Revolution starten. Soziale Programme sollen gestrichen, Steuern gekürzt, der Umfang der Regierung halbiert werden. Zerlegt Bush nun den Staat?
Reich: Er wird es zweifellos versuchen. Permanent will er die Steuern tief halten und die Altersvorsorge privatisieren, was Amerika radikal verändern würde. Ich glaube aber nicht, dass ihm all das gelingt. Das Budgetdefizit ist dafür viel zu gross. Kürzt er die Steuern weiter, versinken wir im Schuldenmeer. Es gibt gar nicht genügend Regierungsprogramme, die er streichen kann, um das Defizit abzutragen.
Konservative nennen diese Strategie «die Bestie aushungern». Die Bestie ist für sie der Staat, der stirbt, wenn man ihn nicht mehr mit Geld füttert.
Reich: Was ist denn von der Bestie noch übrig? Die grössten Brocken sind das Militär, die Altersvorsorge sowie die Krankenversicherung. Das Militär will er nicht vermindern. Die Krankenkasse hat er sogar ausgebaut, er muss noch mehr Geld hinein pumpen. Bleibt die Altersvorsorge, die Bush privatisieren will. Das wird aber nicht gehen. Man darf kein Geld rausnehmen, es gehört den Empfängern der Altersvorsorge. Es gibt also gar kein Biest mehr, das Bush aushungern könnte.
Welche Folgen hat Bushs Wiederwahl für die weltweite Wirtschaft?
Reich: Die Bush-Regierung wird den freien Handel weiter bremsen. Investoren sagen mir, ausländische Investitionen reduzieren sich wegen der unilateralen Richtung der USA. Zudem fürchte ich eine baldige Rezession. Die US-Wirtschaft wächst zu wenig stark, weil sie zu wenige neue Jobs kreiert und die Löhne tief bleiben. Die wichtigste Triebkraft der US-Wirtschaft ist die Nachfrage der Konsumenten. Doch die sind hoch verschuldet. Und sie haben Angst um ihre Jobs. Sobald Konsumenten weniger Geld ausgeben – und das werden sie tun, weil die Zinsen steigen – fallen wir in eine Rezession. Gefährlich ist zudem die Dreifaltigkeit der Schuldenlast: Private Schulden, staatliche Schulden sowie das Handelsbilanzdefizit. Das alles könnte den Dollar in die Tiefe drücken.
Zum Euro hat der Dollar bereits einen historischen Tiefstand erreicht.
Reich: Er dürfte noch weiter fallen. Seit Jahren kaufen die Zentralbanken von Japan und China US-Staatsanleihen. Sie finanzieren damit unser Defizit. Es gibt Anzeichen, dass sie das nicht mehr tun wollen. Das würde die Talfahrt des Dollars weiter beschleunigen.
Darunter leidet vor allem die europäische Exportindustrie. Ist Amerika nicht mehr die wirtschaftliche Lokomotive Europas?
Reich: Die Europäer können nicht ausschliesslich auf die USA als Antrieb setzen. Wir haben schlicht kein Geld mehr für diese Rolle. Wir können es uns nicht mehr leisten, über unseren Verhältnissen zu leben. Der Tag der Abrechnung wird kommen, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr.
So rasch?
Reich: Der Dollar könnte schon morgen kollabieren. Die Amerikaner haben darüber längst keine Kontrolle mehr. Sie sind schlechte Schuldner geworden. Die Massenpsychologie der Investoren sowie die Zentralbanken Chinas und Japans entscheiden. Wer klar im Kopf ist, lehnt uns ohnehin kein Geld mehr aus. Wer US-Staatsanleihen kauft, muss drei bis zehn Jahre auf die Rückzahlung warten und kriegt nur einen niedrigen Zinssatz.
Was bedeutet der Bush-Sieg für die Geschäftswelt?
Reich: Historisch waren demokratische Regierungen stets besser fürs Geschäft als republikanische. Den Börsen ging es unter demokratischen Präsidenten ebenfalls besser. Unter Bush hat sich der Dow-Jones-Index seitwärts bewegt, unter Clinton verdreifachte sich der Wert der Aktien. Warum? Weil Demokraten fiskalisch konservativer sind und der Gesamtwirtschaft mehr Sorge tragen.
Warum unterstützen dennoch die meisten Unternehmer und Firmenchefs die Republikaner?
Reich: Es ist oft deren ganz persönliche Gier. Gut verdienende Geschäftsleute profitieren von den Steuergeschenken der Republikaner. Businessleader wählen oft ideologisch statt die wirtschaftlichen Daten zu studieren.
Amerika und amerikanische Marken sind nach wie vor beliebt in der Welt. Anders steht es mit Bush. Schadet seine Wiederwahl amerikanischen Firmen?
Reich: Amerikanische Marken leiden seit einiger Zeit. Manager von globalen Firmen spielen ihre US-Identität runter wenn sie ihre Produkte global anbieten. Bis letzte Woche wurde im Ausland noch unterschieden zwischen Amerika und Bush. Nun hat Bush eine klare Mehrheit des Stimmvolks hinter sich. Die Unterscheidung wird nicht mehr so einfach sein. Der Antiamerikanismus könnte wachsen, was schlecht ist fürs Geschäft.
Besonders weit verbreitet ist der Antiamerikanismus in Europa. Wie beurteilen Sie die Beziehung zwischen der neuen und der alten Welt?
Reich: Sie ist nach wie vor gut. Die meisten Amerikaner haben europäische Vorfahren. Die meisten Amerikaner fühlen sich wohl in Europa. Auf diplomatischer Ebene ist die Beziehung allerdings zerstört.
Evangelistische Christen bestimmen zunehmend den Diskurs in Amerika. Was bedeutet dies für die Wirtschaft?
Reich: Es könnte schwerwiegende Folgen haben für wichtige amerikanische Exportindustrien. So richten die Christen momentan ihren Fanatismus gegen Hollywood, gegen die Pharmaindustrie, weil sie Anti-Babypillen herstellen sowie gegen Stammzellenforscher. Es ist nur der Anfang. Angegriffen wir bald die Werbeindustrie, ebenso die Hersteller von Kosmetika oder Kleidern. Wer Produkte mit Sex oder Freude anpreist, muss künftig mit Widerstand rechnen.
Robert Reich, 58, ist Professor für soziale und ökonomische Politik an der renommierten Brandeis University in Waltham bei Boston. Zwischen 1993 und 1997 diente er unter Bill Clinton als Arbeitsminister. Er setzte sich rigoros für den Schutz der Arbeiter ein und kämpfte erfolgreich für die Erhöhung des Minimallohns. Reich ist Autor von zehn Büchern, hat das Magazin «The American Prospect» gegründet und amtet als dessen Chefredaktor. Sein jüngstes Buch, «Reason. Why Liberals Win the Battle for America» ist ein scharfe Abrechnung mit der ersten Amtszeit von George W. Bush. Im Jahr 2002 kandidierte er – erfolglos – für das Amt des Gouverneurs von Massachusetts. Reich lebt in Cambridge, ist verheiratet und hat zwei Söhne.