Ob Bush oder Kerry: Gewinnen werden die Anwälte

Das letzte Wort bei den US-Wahlen haben womöglich die Richter. Denn beide Lager sprechen von Wahlbetrug. Ein erneutes Wahldebakel in den USA erscheint immer wahrscheinlicher. Wie im November 2000 könnte nächste Woche am Tag nach der Wahl noch völlig offen sein, wer im Weissen Haus regiert.

Von Peter Hossli

Der Rekord von Ohio ist so erfreulich wie suspekt. 700 000 Neuwähler haben sich im wohl wahlentscheidenden US-Bundesstaat registrieren lassen. Zu viele, behaupten die Republikaner und drohen, wegen Wahlbetrugs zu klagen. Demokraten, so ihr Argument, hätten die Abstimmungsanträge gefälscht. «Einschüchterung», antworten die Angeschuldigten. Zumal die Republikaner am Wahltag den Wählern reichlich Angst einzujagen planen. Tatsächlich beabsichtigt die Partei von Amtsinhaber George W. Bush, möglichst viele Wähler von Ohio auf ihr Wahlrecht überprüfen zu lassen. «Wahlbetrug», erwidern die Demokraten und klagen präventiv.

In Florida, dem Epizentrum des Fiaskos vor vier Jahren, begann die Wahl letzte Woche chaotisch. Die neuen Zählmaschinen setzten aus, lange Warteschlangen bildeten sich. Alte, die nicht in der gleissenden Sonne ausharren mochten, zogen unverrichteter Dinge wieder ab. «Wahlbetrug», reklamieren die Demokraten erneut. «Dieses Mal sind wir bereit, jeglichen Betrug juristisch aufzufangen, und zwar im ganzen Land», sagt Laraine Rothenberg, eine New Yorker Anwältin, die in ihrer Freizeit das «New Yorker Anwaltskomitee für Kerry/Edwards» präsidiert.

Zehntausend demokratisch gesinnte Anwälte haben sich freiwillig gemeldet, um den Wählern juristischen Beistand zu leisten. Fünf Tage lang drückten sie die Schulbank, büffelten lokale Gesetze und liessen sich zu vifen Wahlbeobachtern ausbilden. Die juristische Armada der Republikaner ist nicht minder umfassend. Deren Anwälte, geschult in zweitägigen Seminaren, wollen am Wahltag 30 000 umkämpfte Bezirke vor Wahlbetrügern schützen.

Wahlbetrug ist so amerikanisch wie der Apfelkuchen. Wobei keine Partei besonders integer dasteht. Republikanische Beamte liessen im Jahr 2000 etwa in Florida systematisch tausende von legalen Wählern von den Wahllisten streichen, wie der Reporter Greg Palast nachwies. Die meisten, so Palast, hätten die Demokraten gewählt. Bush gewann den Zitronenstaat mit 537 Stimmen Vorsprung auf Gore – und wurde deshalb Präsident. 1960 haben höchstwahrscheinlich die Demokraten die Wahl gestohlen, sind sich US-Historiker mittlerweile einig. Der Bürgermeister von Chicago soll John F. Kennedy das Weisse Haus beschert haben.

Ein Heer von Juristen wird Nachzählungen fordern

Nun, so prophezeit die «New York Times», stehe die klagelastigste Wahl in der Geschichte an. Anwältin Rothenberg gibt sich kampfeslustig. «Wir sind bereit», sagt sie, die über zwei Millionen Dollar für John Kerry gesammelt hat. Sie weiss, warum: «Hätten wir vor vier Jahren in Florida ein ähnlich potentes Juristenheer gehabt wie jetzt, wäre Al Gore Präsident geworden.»

Damals sorgten unklare Wahlzettel für Verwirrung. Viele Wähler wussten nicht, welches Loch sie stanzen mussten oder ob sie überhaupt wahlberechtigt waren. Der Wirrwarr kostete Gore die Wahl. «Dieses Jahr haben wir sämtliche Wahlzettel in allen fünfzig Staaten genau kontrolliert», sagt Rothenberg. Allein in Florida seien 2000 Anwälte stationiert, um den Wählern die Wahlzettel und die neuen computerisierten Zählmaschinen zu erklären. Besonders in Bezirken mit ethnischen Minderheiten sind sie überdies bemüht, Einschüchterungsversuche abzuwehren.

All das geschieht auf Geheiss von Kerry. Kaum stand der Senator von Massachusetts als Kandidat der Demokraten fest, traf er sich mit dem Chefjuristen seiner Partei, um über die Lehren von Florida zu reden. Unter Federführung seines Bruders Cameron, eines einflussreichen Anwalts in Boston, entwickelten die Demokraten eine juristische Strategie. In jedem Staat erkor die Partei eine wohlgesinnte Anwaltsfirma zur leitenden Kanzlei, die wiederum freiwillige Juristen rekrutierte. Ohne Entlöhnung pilgern sie nächste Woche in die Wackelstaaten im Mittleren Westen.

Hinzu kommen rund zwanzig Topanwälte im Hintergrund, allesamt spezialisiert auf amerikanische Wahlgesetze. Bei allfälligen Ungereimtheiten werden sie sofort eingreifen und klagen. Geld steht ihnen genug zur Verfügung. Bush wie Kerry haben eigens Fonds geäufnet für die zu erwartenden Prozesse just nach der Wahl. Die Demokraten können gleichzeitig in fünf Bundesstaaten einen juristischen Streit führen, um Nachzählungen einzufordern, recherchierte die «Washington Post». Die Republikaner sammeln kräftig Geld, um mitzuhalten. «Spendet, damit wir genügend Ressourcen haben, um das Resultat dieser Wahl zu verteidigen», steht in einem Bettelbrief.

«Jeder US-Bürger hat das Recht zu wählen, dafür kämpfen wir», fasst Anwältin Rothenberg das demokratische Ansinnen zusammen. Republikaner versuchen hingegen traditionell, unberechtigte Wähler von den Urnen fernzuhalten. Sie werfen den Demokraten vor, selbst Katzen und Hunde registrieren zu wollen. «Wähler einzuschüchtern ist eine verwerfliche Praxis», schrieb der «New York Times»-Kolumnist Bob Herbert unlängst zur republikanischen Taktik. «Sie zielt direkt ins Herz der Demokratie.» Und sie beschert Juristen reichlich Arbeit.