Von Peter Hossli
Auf staubigem Grund kauern irakische Kriegsgefangene. Einzig Wolldecken bedecken ihre nackten Körper. Bei einem hat psychischer Stress eine Erektion zur Folge – ganz zum Amüsement der amerikanischen Wächter. Hämisch verspotten die US-Soldaten den ängstlichen Iraker und berühren in an den intimsten Stellen.
Die schreckliche sexuelle Demütigung ist eine Schlüsselszene in «Fahrenheit 9/11», Michael Moores in Cannes ausgezeichneter Dokumentarfilm über George W. Bush, der bald in der Schweiz anläuft.
Eine Szene, die Moore an diesem feuchtheissen Julinachmittag im New Yorker Essex House in Bedrängnis bringt. Warum er das bereits letztes Jahr besessene brisante Filmmaterial erst jetzt veröffentliche, will eine Gruppe ausländischer Reporter wissen.
«Wem hätte ich die Bilder denn zeigen sollen?», retourniert Moore, unrasiert und selbst im Luxushotel mit alter Baseballkappe und Schlabberkleidung bestückt. «Es gibt keinen Sender, der sie ausgestrahlt hätte. US-Medien zeigten erst dann Folterbilder, als ein Regierungsbericht vorlag.» Warum, ist für Moore klar: «Die US-Presse steckt mit der Bush-Regierung unter einer Decke.»
Hat der korpulente Populist die Abwahl des Präsidenten zum Hauptziel seines filmisches Anti-Bush-Pamphlets erklärt, verfolgt er noch eine zweite Absicht – er will die seiner Meinung nach willfährigen Journalisten der grossen Medienhäuser blossstellen. Mit kritischen Fragen, die seit dem 11. September 2001 die wenigsten zu stellen gewagt haben. Und mit Bildern, die am amerikanischen Fernsehen bisher nicht zu sehen waren.
Sieben lange Minuten nach dem Einschlag des zweiten Jets ins World Trade Center starrt der bereits informierte Bush scheinbar unbeeindruckt in ein Kinderbuch. Eingefangen hat die entlarvende Inaktivität in Nahaufnahme ein Lehrer mit einer simplen Videokamera. Moore zeigt sie. «Wie ist es möglich, dass ein nicht studierter Amateurjournalist wie ich solche Bilder findet, nicht aber die Medienprofis?» Zumal Amerika in seinem Film ebenfalls erstmals kriegsmüde US-Soldaten hört sowie Kriegsversehrte im Irak und tote irakische Zivilisten sieht.
Frei schaffende Kameraleute haben all das für Moore gefilmt. Mit den Truppen reisende angesehene Medienleute schauten hingegen weg. Auf Geheiss des Pentagons, das seit dem Vietnam-Debakel Kriegsbilder zu schönen versucht. «Weil die Medien die Kriegsgründe nicht hinterfragten, sind sie mitschuldig am Tod von über 900 US-Soldaten», sagt Moore. «Am amerikanischen Journalismus klebt das Blut unserer Kinder.»
Die angekreideten Journalisten reagierten gereizt auf die happigen Anwürfe. Star-Talker Bill O’Reilly von Fox News verglich Moore mit Nazi-Propagandachef Joseph Goebbels und sagte, «ich will ihn töten». Andere unterstellen dem Film undichte Fakten. «Weil ich den US-Journalisten vor Augen führe, dass sie ihre Arbeit nicht gemacht haben, greifen sie mich an», sagt Moore, der beteuert, «jedes Faktum in ‹Fahrenheit 9/11› stimmt». Um es zu belegen, hat er seine gesamten Recherchen online publiziert.
Über 100 Millionen Dollar hat «Fahrenheit 9/11» in den USA eingespielt, ein phänomenaler Rekord für einen Dokumentarfilm. Da «Amerikaner verzweifelt nach Antworten suchen, wie und warum die Bush-Regierung den Irakkrieg angezettelt hat», begründet Steven Rendall vom Medienanalyseinstitut «Fairness and Accuracy in Reporting» den Erfolg.
Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen hätten die Mainstream-Medien die Antworten nicht zu suchen gewagt, sagt Moore. Da multinationale Firmen die einst unabhängigen Nachrichtenvermittler kontrollierten, scheuten sie Kritik und sendeten längst nicht mehr das Wesentliche, sondern bloss noch, was Quoten bringt, sagt er etwas konspirativ. Zumindest steht fest, dass US-Sender genau analysieren, welche News ihr Publikum will. Da etwa Antikriegsproteste letztes Jahr bei Umfragen auf wenig Gegenliebe stiessen, waren sie selten ein Thema.
Kurz nach Amtsantritt signalisierte im Übrigen die Bush-Regierung, lästige Reporter zu schikanieren. Wer unliebsam berichtete, verlor den Zugang ins Weisse Haus. Die Folge: Keine einzige kritische Frage fiel, als Bush die eingeschüchterten Journalisten am 6. März 2003 ins Weisse Haus lud, zur letzten Pressekonferenz vor Kriegsbeginn. Sogar die einst als Bastion des Qualitätsjournalismus geltende «New York Times» fragte nur devot.
Mehrmals schon hat sich das Weltblatt seither bei seinen Lesern für das Strammstehen entschuldigt. In Artikeln über das angebliche Waffenarsenal hätte man sich viele zu lange bloss auf liederlich geprüfte Aussagen irakischer Exilpolitiker berufen, und eben auf die US-Regierung.
Womit sich Moore bestätigt sieht. «Jede Regierung lügt, nicht nur die amerikanische», gemahnt er schulmeisterlich. «Diese Prämisse muss jeden Journalisten leiten. Es ist an der Regierung, das Gegenteil zu beweisen.»