Von Peter Hossli
Herr Hoessli, Sie haben während eines Jahres an der Wall Street einen Dokumentarfilm gedreht. Wem raten Sie noch, Geld an der Börse anzulegen?
Andreas Hoessli: Den Dekonstruktivisten, Leuten also, die Bilanzen und Quartalsergebnisse nicht hermeneutisch lesen, sondern deren Widersprüche erkennen. Ein ökonomisch gebildeter Dekonstruktivist hätte beispielsweise frühzeitig erkannt, dass WorldCom Milliarden von Ausgaben als Investitionen verbucht hatte.
Welche Strategie bringt Erfolg?
Hoessli: Erfolgreiche Investoren entscheiden schnell und aus dem Bauch heraus. Den Begriff «gut feeling» hört man an der Wall Street sehr oft. Im Übrigen gelten Investoren gelten als erfolgreich, die in 51 Prozent der Fälle richtig und in 49 Prozent falsch entscheiden.
Haben Kleinanleger eine Chance?
Hoessli: Sie sitzen Beratern gegenüber, die Tipps ihrer Analystenteams weitergeben. Etliche CEOs von New Yorker Brokerfirmen halten Analysten für nutzlos.
Gleichwohl beschäftigen sie sie.
Hoessli: Weil ihre Kunden das wünschen.
Was macht denn ein Analyst?
Hoessli: Ein Staranalyst bei Bear Stearns sagte mir, er arbeite wie ein Journalist, recherchiere viel und ordne Fakten. Allerdings verdiene er sehr viel mehr Geld als ein Journalist.
Ist die Wall Street ein Orakel?
Hoessli: Es ist eine Industrie, in der sich die Menschen jede Sekunde mit der Zukunft beschäftigen. Alles hängt davon ab, was in der nächsten Sekunde, Minute, Stunde oder den kommenden Monaten und Jahren geschieht. Die Finanzwelt ist ziemlich konkret. Sie greift zwar auf Handzeichen und Beschwörungsgesten zurück, verbirgt aber kein grösseres einzelnes Geheimnis, sondern viele kleine.
Warum ist die Börse so wichtig für die Wirtschaft?
Hoessli: Es ist ein Lebenssaft. An den Börsen werden jährlich Milliarden von Dollar an Risikokapital aufgenommen, die in neue Firmen und Technologien fliessen. Ob die Wirtschaft wächst, lässt sich an der Zahl der Börsengänge messen.
Was liebt die Wall Street?
Hoessli: Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei Chinas.
Wie kommen Sie darauf?
Hoessli: China ist der grösste Käufer und Besitzer amerikanischer Staatsanleihen, finanziert also das US-Budgetdefizit.
Was fürchtet die Börse?
Hoessli: Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei Chinas.
Schon wieder?
Hoessli: Wall Street – wie die Zürcher Bankenwelt – befürchtet, dass China keine Anleihen mehr kauft, und die Einnahmen aus den Handelsüberschüssen etwa in Gold anlegt. Das würde zu einem weiteren Kurszerfall des Dollars führen. Die US-Notenbank müsste die Zinsen erhöhen, was die Börsen krachen liesse.
Inwiefern unterscheidet sich die Wall Street von anderen Börsen?
Hoessli: Paradoxerweise gilt auf dem Parkett des New York Stock Exchange nach wie vor das System des «Open Outcry». Es sind Menschen, die den Handel auf dem Parkett tätigen. Auf den meisten anderen Börsenplätzen, etwa in Zürich, haben elektronische Systeme den Open Outcry abgelöst. Gleichwohl werden in New York weltweit die grössten Umsätze erzielt.
Was treibt die Menschen an, die an der Wall Street arbeiten?
Hoessli: Das Gefühl, am Puls des Geschehens zu sein. Nicht die Welt zu machen, sondern dabei zu sein, wenn irgendwo etwas geschieht. Natürlich verdient man viel, aber man kann schnell viel verlieren.
Wie wichtig ist dabei die Gier?
Hoessli: Was denken denn Sie darüber?
Seit Oliver Stones Film «Wall Sreet» weiss jeder: Gier ist gut für die Börse.
Hoessli: Wall Street ist eine Projektionsfläche, um die niedrigsten Gefühle des Bösen – Gier, Blutrache, Verschwörungstheorie – zu versorgen.
Was tut ein Broker wenn die Börse geschlossen ist?
Hoessli: Im Kopf geht alles weiter, aber er kann nicht mehr eingreifen. Das Wochenende ist die schlimmste Zeit für unabhängige Broker und Spezialisten, die offene Positionen halten. Es kann jederzeit etwas geschehen – ein Terroranschlag, ein Unglück – und sie können bis am Montag nicht mehr reagieren.
Bill Clinton lobt in ihrem Film, die Börse sei anfänglich im Interesse der Öffentlichkeit gestanden. Heute scheint es nur noch um schnelle Gewinne zu gehen.
Hoessli: Der Ursprung der New Yorker Börse reicht auf die Schulden des Unabhängigkeitskriegs zurück. Für deren Bewältigung musste Geld über Anleihen aufgenommen werden. Während seines einzigen Auftritts an der Wall Street sagte Clinton, am Anfang sei es nicht nur um Profite gegangen. Er war an der Börse nicht sonderlich beliebt.
Wie schwierig war es, an der Wall Street zu filmen?
Hoessli: Während der Recherche hatte ich viele Kontakte in den Brokerfirmen, auch zu wichtigen Persönlichkeiten. UBS und Bear Stearns zeigten sich besonders offen. Einige Firmen schlossen ihre Türen jedoch vollständig, etwa CSFB oder Salmon Smith Barney. Die Presseabteilung von Merrill Lynch in London gab mir grünes Licht. Als ich nach New York kam hiess es, ich dürfe keinen Schritt in die Bank machen, hier kämen nur Kunden rein.
Wie schwierig war es, auf dem Parkett der New Yorker Stock Exchange zu drehen?
Hoessli: Nötig war ein persönliches Telefon von UBS-CEO Joe Grano an den damaligen CEO der New Yorker Börse, Dick Grasso. Danach war es problemlos.
Die Aktien steigen wieder. Neue Jobs werden nicht kreiert. Trennt die Wall Street die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer?
Hoessli: Die Wall Street hat weniger Macht, als ihr unterstellt wird. Jobs gehen derzeit verloren, weil europäische wie amerikanische Firmen sie nach Indien und China verlagern. Die Entscheide fallen in Chefetagen, nicht an der Börse.
In den letzten Jahren jagte ein Betrugsskandal den anderen. Milliarden von Dollar wurden vernichtet. Dennoch wird kräftig weiter investiert. Warum?
Hoessli: Sie liegen falsch. Die institutionellen Investoren halten sich zurück. Die Umsätze an den Aktienbörsen sind weit tiefer als vor vier oder fünf Jahren. Verantwortlich sind einerseits die Betrugsskandale, vor allem aber die enorme Unsicherheit.
Die Tendenz der Umsätze ist steigend.
Hoessli: Der Börsenboom der neunziger Jahre – grösstenteils von den Wachstumserwartungen in den neuen Märkten und dem Technologieschub angetrieben – endete im Jahr 2000. Die Zinsen sind heute aber derart tief und das Anlagekapital derart gross, dass wieder an den Aktienmärkten investiert wird. Gleichzeitig wird reichlich Bargeld gehortet, damit genügend vorhanden ist, um beim nächsten Crash tief kaufen zu können.
Wird aggressiv genug gegen Weisskragenkriminelle vorgegangen?
Hoessli: Zumindest untersuchen amerikanische Staatsanwälte Wirtschaftsvergehen ausgesprochen forsch. Das sehe ich in der Schweiz nicht. Kein Land hat derart strenge Gesetze wie die USA.
Zwei Banker ziehen in ihrem Film Parallelen zwischen dem Geschehen auf einem Schlachtfeld und auf dem Börsenparkett. Inwiefern trifft das zu?
Hoessli: Im Krieg wie an der Börse muss man in Situationen Entscheidungen treffen, in denen ein hoher Grad an Unsicherheit herrscht. Dabei ist es meist nicht möglich, eine Situation zu analysieren.
Ihr Film beginnt vor und endet nach dem Irakkrieg. Der Dow-Jones-Index stieg im Kriegsjahr um 25, der Nasdaq fast um 50 Prozent. Haben demnach die Anleger vom Krieg profitiert?
Hoessli: Kommt darauf an, wann sie gekauft und ob sie verkauft haben. Nasdaq und Down-Jones-Index bewegen sich noch immer unter dem Niveau von 1999/2000.
Sind Kriege gut oder schlecht für die Wall Street?
Hoessli: Sie können so gut oder so schlecht für Wall Street sein, wie eine Katastrophe gut oder schlecht für das Sozialprodukt eines Landes ist. In jeder Katastrophe wird Kapital vernichtet, das erneuert werden muss, also steigt das Sozialprodukt. Ich bezweifle, dass die Kriege des vergangenen Jahrzehnts Wall Street genutzt haben. Am New York Stock Exchange herrschte vor wie nach dem deklarierten Ende des Irakkrieges grosse Skepsis.
An der Börse ist erfolgreich, wer Risiken eingeht. Risiken sind eher assoziiert mit den USA als mit Europa. Inwiefern sind Börsen etwas Amerikanisches?
Hoessli: Tatsächlich gibt es beim Risikoverhalten kulturelle Unterschiede. Die US-Kultur ist durch die Immigration bestimmt. Weit mehr als die Hälfte der Einwohner New Yorks sind nicht in den USA geboren. Die grosse Mehrheit der Broker und Spezialisten sind Kinder von Einwanderer, deren Eltern oder Grosseltern oft nicht Schreiben und Lesen konnten. Viele erfolgreiche Personen an der Wall Street haben sich hochgearbeitet. Wohingegen die meisten CEOs von Schweizer Grosskonzerne das nicht mussten. «Du musst hungrig sein», sagt eine Figur in meinem Film treffend.
Warum gibt es in Europa weit weniger Aktionäre als in den USA?
Hoessli: Wahrscheinlich sind es in den USA doppelt so viele. Einerseits ist die Sozialvorsorge in Europa entwickelter als in den USA. Hinzu kommt die weit höhere Risikobereitschaft in den USA.
Setzt die Börse auf Bush oder Kerry?
Hoessli: Die Stimmung ist geteilt. Es gibt aber sehr viele sehr kritische Äusserungen über Bush.
Verstehen Sie die Wall Street?
Hoessli: Die Börse wird mystifiziert, weil sie schwer zu durchschauen ist. Hinzu kommt die Unvorhersehbarkeit. Ich verstehe heute den konkreten Ablauf besser, aber die Zukunft kann ich auch nicht vorhersehen. Dieses Gefühl hat sich eher verstärkt.
Andreas Hoessli hat Soziologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich, Paris und Warschau studiert und mit einer Dissertation über die realsozialistische Planwirtschaft abgeschlossen («Planlose Planwirtschaft» Junius-Verlag, 1987). Er war Osteuropa-Korrespondent verschiedener Zeitungen, Auslandredaktor und Reporter am Schweizer Fernsehen. Seit 1987 realisiert er Dokumentarfilme für Fernsehen und Kino, unter anderem «Die letzte Jagd» (1990), «Devils Don’t Dream – Nachforschungen über Jacob Arbenz Guzman» (1995), «Nachrichten aus dem Untergrund» (1998) und «Epoca» (2002). Sein neuster Film «Wall Street – A Wondering Trip» wird vom SFDRS am 2. Juni ausgestrahlt.