«IT muss billig und für alle zugänglich sein»

«IT ist unwichtig» behauptet Nicholas Carr in einem Artikel. Er ist für viele in der Computerindustrie ein rotes Tuch: der amerikanische IT-Experte und Buchautor Nicholas Carr. Er behauptet, Informationstechnologie bringe einer Firma keine strategischen Vorteile mehr, und fordert die Manager auf, IT konsequent auszulagern und mit neuen Investitionen zuzuwarten.

Von Peter Hossli

Mister Carr, vor einem Jahr veröffentlichten Sie einen Artikel unter dem Titel «IT ist unwichtig» – und wurden dafür stark kritisiert. Ihr eben erschienenes Buch fragt auf dem Titel nun abgeschwächt «Ist IT wichtig?». Haben Sie Angst gekriegt vor der eigenen Aussage?
Nicholas Carr: Der Verleger legte den Titel fest. Er sollte Bezug zum Artikel nehmen, ohne sich zu wiederholen. Der Buchtitel stand fest, lange vor der Kontroverse um den Artikel.

Sie wurden als «dumm», «kurzsichtig», «idiotisch» bezeichnet. Ein Kritiker verglich sie mit dem Unabomber. Warum die harschen Reaktionen?
Carr: Weil sehr viel Geld für IT ausgegeben wird. Wenn nun jemand den Firmen rät, weniger auszugeben, werden die IT-Verkäufer wütend.

Sie bedrohen die IT-Industrie?
Carr: Zum ökonomischen Aspekt kommt der ideologische. Die IT-Industrie sieht sich ungern als herkömmliche Industrie, die erwachsen geworden ist und deren Produkte allgemeine Gebrauchsgüter sind. Sie sagen: «Wir sind etwas Besonders, bei uns spielen die ökonomischen Regeln nicht.» Ich sage: Falsch, sie spielen sehr wohl eine Rolle.

Sie sagen, weil mittlerweile alle Zugang zur Informationstechnologie haben, bringt IT einer einzelnen Firma keinen strategischen Vorteil mehr. IT sei ein Gebrauchsgut wie Strom oder Lastwagen. Vorteile zieht man nur aus Technologien, die knapp sind.
Carr: Richtig. Jede Firma, die mit IT etwas Innovatives tut, wird mittlerweile sofort kopiert. Alle Firmen haben zu jeder verbesserten infrastrukturellen Technologie sofort Zugang.

Technologie kann aber patentiert werden, was einen Vorteil bringt.
Carr: Es ist fast unmöglich, technologische Abläufe zu patentieren. Ausserdem spreche ich von technologischer Infrastruktur, nicht von technologischen Konsumprodukten, die tatsächlich patentiert werden können.

IT ermöglicht es beispielsweise kleinen Firmen, rasch konkurrenzfähig zu werden. Für sie ist IT wichtig.
Carr: Schon, aber jede kleine Firma kann das tun. Es sind nicht die Computer, die einer kleinen – oder einer grossen – Firma Vorteile verschaffen. Entscheidend ist, was eine Firma mit den Computern tut.

Dann sprechen Sie nur vom T in IT. Ihre Theorie ist also halbherzig.
Carr: Das habe ich nie bestritten. Ich rede über die Technologie. Lange bevor es Computer gab, haben Firmen einen strategischen Vorteil daraus gezogen, wie sie Informationen verwendet hatten. Das hat sich nicht verändert. Einige Firmen nutzen von Technologie übermittelte Informationen geschickt, andere weniger geschickt. Die Geschickten haben Erfolg.

Amerikanische Firmen geben mittlerweile 50 Prozent ihrer Investitionen für IT aus. Vor dreissig Jahren waren es noch fünf Prozent. IT ist also enorm wichtig.
Carr: Ja, als Kostenfaktor. Sie ist ein Gebrauchsgut, das alle Firmen kaufen müssen, das ihnen aber keine strategischen Vorteile bringt. Gewisse Industrien geben sehr viel für Elektrizität aus, andere für Telefongespräche. Beide Technologien entscheiden aber nicht über die Konkurrenzfähigkeit. IT folgt demselben Muster: Es geht nicht mehr ohne, sie kostet viel, aber sie macht niemanden konkurrenzfähiger.

Das tönt so, als ob Sie IT als Problem betrachten.
Carr: Sie ist teurer und birgt grosse Risiken. Systeme können kollabieren und fehlerhaft sein, was sehr viel kostet. Am erfolgreichsten setzen jene Firmen IT ein, die die romantische Ansicht über Bord werfen, IT ändere ihr Geschäft grundsätzlich. Stattdessen akzeptieren sie, dass IT so wichtig ist wie jedes Gebrauchsgut und es dementsprechend einsetzen, es also so zuverlässig, effizient und billig wie möglich machen.

Kein Gut ist so weit verbreitet wie Kapital. Gibt man eine Million einer Firma und eine Million an eine andere, produzieren beide unterschiedliche Resultate. Eine Firma ist konkurrenzfähiger. Dasselbe trifft für IT zu.
Carr: Oder für Mehl. Sie können zwei Bäckern je eine Tonne Mehl geben. Der eine produziert besseres Brot als der andere. Hat das Mehl einen strategischen Vorteil beschert? Sollte der Bäcker mehr Geld für Mehl ausgeben? Sollte er das Mehl neu erfinden? Dreimal Nein. Verschieden Firmen nutzen gewissen Ressourcen einfach besser als andere. Das sagt nichts über die Ressource aus.

Die USA war enorm konkurrenzfähig dank IT. Woher soll diese Konkurrenzfähigkeit nun kommen?
Carr: Eine gute Frage. Ich weiss es nicht. Derzeit weiss das niemand.

Dann sind sie Pessimist?
Carr: Nein, überhaupt nicht. Dort, wo Technologie Konsumgütern und von Konsumenten genutzte Dienstleistungen zugute kommt, besteht ein enormes Potenzial für Wachstum und Innovation. Derzeit verschmelzen etwa die Unterhaltungselektronik und die Medien. Damit diese neuen Produkte und neuen Dienstleistungen zu den Konsumenten gelangen, muss die Infrastruktur der Informationstechnologie einen Grad erreicht haben, in dem alle Systeme miteinander kompatibel sind. IT muss so billig wie möglich sein, sie muss standardisierst sein und sie muss für alle zugänglich sein.

Sind wir da schon angelangt?
Carr: Ja, zumindest in den USA. Es ist mir bewusst, dass in anderen Teilen der Welt ein grosser Nachholbedarf besteht. Verglichen mit der Elektrizität sind wir hier zu Lande mit IT an dem Punkt angelangt, an dem jeder eine Steckdose im Haus hat.

Warum sind Sie so sicher? Das Internet ist noch immer langsam, es steigt oft aus. E-Mails kommen nicht an. Wir werden mit Junkmail und Viren bombardiert.
Carr: Selbst als alle Schienen gelegt waren, gab es etliche Zugsunglücke. Bis die Netze zuverlässig sind, wird es ebenfalls noch eine Weile dauern. Es braucht noch viele Innovationen und Verbesserungen. Allerdings kommt jede Verbesserung sofort allen Firmen zu. Niemand zieht einen Vorteil für sich selbst heraus.

Es gibt auch Innovation innerhalb des bestehenden Netzwerks. Etwa, als vor ein paar Jahren ein 19-Jähriger das Pear-to-Pear-Netzwerk Napster lancierte und damit die ganze Musikindustrie umkrempelte.
Carr: Das ist ein Beispiel für Innovation auf der Konsumentenseite.

Das Magazin «Fortune» prophezeit, in 50 Jahren werde ein Konglomerat aus Amazon und Ebay die weltweit grösste Firma sein – weil beide Firmen IT innovativ nutzen und sich dadurch enorme Vorteil holen.
Carr: Sobald das Internet da war, entstanden Internet-Firmen, die das Netzwerk nutzten. Ebay nutzt die Technologie sehr gut, keine Frage. Aber der strategische Vorteil kommt nicht von der Technologie. Er kommt davon, dass alle Käufer und Verkäufer zu Ebay gehen, weil sich nirgends mehr Käufer und Verkäufer treffen.

Amazon soll dank dem Einsatz von Technologie bald der weltweit grösste Verkäufer werden.
Carr: Amazon ist ein Modellfall für meine These. Die Technologie, die Amazon kauft, sind Gebruchsgüter ab Stange. Es sind Server, die mit Software von Linux arbeiten. Für Amazon ist das die billigste Lösung, viel kostengünstiger, als eigene Software zu entwickeln. Amazons Erfolg unterstreicht, dass die Technologienutzung längst standardisiert ist. Das zeigt sich etwa darin, dass viel Firmen ihre IT-Prozesse auslagern. Sie wollen diese Prozesse nicht mehr besser, sondern so billig wie möglich erledigen. Sobald ein Prozess aber ausgelagert wird, neutralisiert man ihn. Die meisten Firmen haben ja auch kein eigenes Kraftwerk mehr im Keller. Sie beziehen den Strom wie alle anderen von den Stromunternehmen.

Damit propagieren Sie Outsourcing. Ihr Artikel wird bereits verantwortlich gemacht für Hunderttausende amerikanischer IT-Jobs, die nun abwandern.
Carr: Nicht mein Artikel, wirtschaftliche Logik ist verantwortlich für Outsourcing. Es ist oft wirtschaftlicher, IT nicht mehr innerhalb der Firma zu betreiben.

Warum?
Carr: Es gibt zwei Gründe: IT wurde, erstens, zur Routine. Sobald etwas Routine ist, wird es billiger, wenn man es auslagert. Hinzu kam das Internet, das es uns erlaubt, Dienste dort erledigen zu lassen, wo immer wir wollen, wobei wir die Kontrolle und Koordination der Arbeit nicht verlieren. Natürlich müssen die Länder auf politischer Ebene entscheiden, ob und wie man die Abwanderung von Arbeitsplätzen regulieren will. Firmen aber handeln wirtschaftlich.

Die «Harvard Business Review» gilt als Management-Bibel. Sie haben manchem Manager die Augen geöffnet, die IT-Abeiltung nach Indien zu verlegen. Sie gelten als Job-Killer.
Carr: Diese Verantwortung kann ich nicht akzeptieren. Lange bevor mein Artikel erschien, haben Firmen ihre IT-Abteilungen nach Indien verlegt.

Sie argumentieren, die Moore’s Law genannte Gesetzgebung, wonach sich die Rechnerleistung alle 18 Monate verdoppelt, treibe die Kosten von IT weiter runter. Es gibt nun etliche Computerwissenschaftler, die sagen, Moore’s Law sei ausgereizt. Die Kosten werden sich demnach nicht mehr gross reduzieren.
Carr: Das ist egal. Wir haben genug Rechnerleistung. Insgesamt werden gerade mal 10 Prozent der Kapazität genutzt. Es ist gar nicht nötig, dass Firmen jedes Jahr neue Computer kauft.

Auf der Software-Ebene sind aber immer wieder Neuerungen möglich, die einen strategischen Vorteil bringen können.
Carr: Für Software trifft dasselbe zu wie für Hardware. Nehmen Sie Word von Microsoft. Welche Version hat Ihnen das gegeben, was sie wirklich brauchen?

Wahrscheinlich Version 1.0
Carr: Die erste Version brachte alle Produktivitätsvorteile. Dann hat Microsoft, wie alle anderen Software-Firmen auch, neue Versionen kreiert und neue Features eingebaut. Sie müssen das tun, weil sich Software ja nicht abnutzt. Echte strategische Vorteile brachte nur die erste Version. Das trifft sowohl für einfache Programme wie Word und Excel wie auch für hochkomplexe Businessprogramme zu, die unabdingbar sind für den Erfolg einer Firma. Viele sind es überdrüssig, ständig für Updates zu bezahlen. Die Software, die sie haben, funktioniert.

Sie raten Firmen deshalb, bei Investitionen nicht mehr Feder führend zu sein, sondern abzuwarten. Damit untergraben Sie eine fundamental amerikanische Stärke: Den Mut zum Risiko. Der hat den USA stets einen enormen strategischen Vorteil beschert.
Carr: Ich sage nicht, Firmen sollten keine Risiken mehr eingehen. Ich sage aber, IT ist nicht mehr das bevorzugte Risikogebiet. Es birgt Risiken, dort Risiken einzugehen. Es ist teuer, der Erste zu sein. Es lohnt sich nicht mehr, für einen kurzlebigen Vorteil einen hohen Preis zu zahlen.

Man muss doch neue Programme anschaffen, sonst lassen sich die neusten Anwendungen nicht mehr gebrauchen.
Carr: Ich sage nicht, man soll stagnieren. Firmen müssen auf dem Stand der technologischen Entwicklung zu bleiben. Doch nicht jeder soll in die Pionier-Rolle schlüpfen. Es lohnt sich, zuzuwarten und zu beobachten, welche Fehler die Pioniere machen.

Inwiefern bestätigt das Ende der IT-Blase Ihre Theorie?
Carr: Es zeigt, dass die Hoffnungen die Realität bei weitem überstiegen haben. Das führte zu spekulativen Exzessen. Ungewöhnlich war dies allerdings nicht. Eine neue Technologie scheint stets alles verändern zu können, daraus resultiert eine spekulative Blase, diese platzt, es folgt stets die pragmatische Sichtweise.

Wer profitiert am meisten in diesem neuen Umfeld?
Carr: Es wird weniger, dafür grössere Firmen geben, die IT-Produkte anbieten. Reichlich Innovation ist auf der Seite der Konsumgüter zu erwarten. Wer das Gebrauchsgut IT geschickt in Konsumgütern unterbringt, verdient viel Geld. Lange nachdem Elektrizität ein Gebrauchsgut war, haben jene Firmen viel Geld verdient, die alte Produkte elektrifizierten.

Was schlagen Sie Firmen vor, die grosse IT-Abteilungen haben?
Carr: Sie werden ihre Abteilungen wohl verkleinern müssen.

Das bedeutet Outsourcing. Outsourcing-Advokaten sagen stets, wann eine Technologie entwickelt ist, können wir sie in Billiglohnländer verlagern. In industriellen Ländern werden dann Arbeitskräfte frei, um kreativere Arbeit zu erledigen. Welche kreative Arbeit werden wir denn ausführen, wenn die IT weg ist?
Carr: Das ist die zentrale Frage. Noch weiss niemand, mit welcher kreativen Tätigkeit wir das Land beschäftigen sollen. Kurzfristig wächst der Einkommensunterschied. Die Manager und Investoren erhalten mehr, dank der billigen Arbeitskräfte im Ausland.

Nach dem Crash der Eisenbahn-Industrie folgte eine lange Depression, gekoppelt mit Deflation. Wiederholt sich das ebenfalls?
Carr: Es gibt zumindest Indikatoren, die darauf hinweisen. Wenn grosse Produktivitätssteigerung erzielt wird, muss relativ rasch grosses Wirtschaftswachstum folgen, nur dann schafft man neue Arbeitsplätze. Geht das nicht, folgen Deflation und Unterbeschäftigung.

Sie sagen, strategische Vorteile werden durch die Anwendung von Mangelgütern erzielt. Welches ist das nächste knappe Gut?
Carr: Keine Ahnung. Historisch waren stets wenige Leute in der Lage, das vorauszusehen. Wer das konnte, wurde sehr reich.

Biobox
Nicholas Carr, 44, arbeitete während sechs Jahren als Redaktor und Chefredaktor der «Harvard Business Review». Die Zeitschrift gilt als Management-Bibel. Im Mai 2003 veröffentlichte er einen Artikel unter dem Titel «IT Doesn’t Matter» – und löste damit eine kontrovers geführte Debatte aus. Carr sagt, Informationstechnologie sei mittlerweile zum Gebrauchsgut geworden, ähnlich der Elektrizität, der Eisenbahn oder dem Telefon. Deshalb bringe sie einzelnen Firmen keine strategischen Vorteile mehr. Das gelinge allein knappen Gütern. Bei der Einführung der Eisenbahn hätten jene Firmen profitiert, die anfänglich ihre Güter von einer Fabrik zur anderen Fabrik transportiert hätten. Die gesamte Gesellschaft hätte allerdings weit mehr von der Eisenbahn profitiert, als das gesamte Schienennetz gelegt war. Einzelne Firmen konnte dann gegenüber der Konkurrenz keine Vorteile mehr vorweisen, wenn sie ihre Güte auf der Schiene transportieren. Das taten alle. Dasselbe gelte für die Informationstechnologie. Carr rät deshalb, Investitionen im IT-Bereich zurückhaltend zu tätigen. Carr entwickelte seine These weiter und veröffentlichte unlängst das Buch «Does IT Matter?». Der am Dartmouth College und an der Harvard University ausgebildete Carr arbeitete zuvor als Berater für Mercer Management Consulting. Er tritt regelmässig als Experte auf amerikanischen Fernsehstationen auf und ist heute ein frei schaffender Autor und Berater. Nicholas Carr lebt in Boston.