Von Peter Hossli (Text) und Nina Berman (Fotos)
Sein Gedächtnis verlässt ihn. Immer wieder. Einfach so. Jetzt etwa überlegt Wasim Khan, wo die Medaille mit dem purpurroten Herz sein könnte. Er wühlt zwischen der Wäsche in der Kommode, sucht im Reisekoffer, sieht auf dem Tisch nach. Vergebens. “Vermutlich habe ich sie im Krankenhaus liegen gelassen”, sagt Khan leise. Der abgemagerte Mann setzt sich wieder auf die Couch in seiner muffigen Wohnung in Qüens, einem Stadtteil von New York. Er legt sein rechtes Bein auf das Sofa. Es ist steif.
Plötzlich greift Wasim Khan nach seinem hellblauen Nylonrucksack. Mit einem Mal kann er sich wieder erinnern. Behutsam kramt er eine flache, schwarze Schachtel hervor, stellt sie auf den Tisch und öffnet sie. “Darauf bin ich mächtig stolz”, erzählt Khan, dessen rechtes Auge schielt. “Es ist meine erste Auszeichnung.” Es wird seine letzte militärische Auszeichnung bleiben. Der gebürtige Pakistaner bekam das Purple Heart, als er vor neun Monaten vom jungen Artilleristen zum jungen Veteranen wurde. Mit gerade 24 Jahren.
Die amerikanischen Militärs verleihen das Purple Heart all jenen Soldaten, die schwer verletzt aus dem Krieg heimkehren. Auch Angehörige der Gefallenen bekommen die Medaille, die General George Washington 1782 während der Revolutionskriege geschaffen hat. Seit Ende des Irak-Kriegs haben sich einige Tausend Soldaten das Herz ans Revers heften dürfen.
Wasim Khan meldet sich damals freiwillig zum Einsatz im Irak. Er ist motiviert, voller Energie. Am 1. Juni patrouilliert er in Bagdads Zentrum. Die Sonne lähmt die Stadt, 54 Grad im Schatten. Khan geht zum Humvee, einem wüstentauglichen Militärfahrzeug, um sich dort abzukühlen. Als er gerade seine Wasserflasche am Mund ansetzen will, knallt es. Eine Granate donnert in den geparkten Wagen. Sekundenlang kann Khan nichts sehen oder hören. Dann greift er zum Gewehr und schiesst blindlings um sich. Dass ihm Blut aus den Augen fliesst, merkt er nicht. Auch nicht, dass in seinem rechten Oberschenkel ein riesiges Muskelstück fehlt. Und das Schienbein entzwei ist.
Binnen neun Monaten muss Wasim Khan 17 Operationen überstehen. Einmal wird er am linken Arm operiert, einmal am rechten Auge, 15-mal allein am rechten Bein. Die längste OP daürt elf Stunden. Zwar können die Ärzte das Bein nach der dritten Verpflanzung von Oberschenkelgewebe retten, doch es fühlt sich seither wie tot an. Immer wenn der junge Mann duscht, lösen sich Bleisplitter aus Armen und Beinen. Es sind Überreste des irakischen Geschosses.
In den nächsten Tagen wird der ehemalige Soldat nach Washington reisen in die Walter-Reed-Klinik, wo Khan auch die vergangenen sechs Monate überwiegend verbracht hat. Wieder muss er operiert werden. Ausserdem will er die 20 Kilo Muskelmasse aufbaün, die er seit seiner Verwundung verloren hat. Das auf Amputationen und Prothesenbildung spezialisierte Militärkrankenhaus behandelt derzeit Dutzende von Irak-Veteranen.
Sie alle haben gemeinsam gekämpft, um den Irak von seinem Diktator zu befreien. Jetzt kämpfen sie in der Klinik gemeinsam, um mit ihrer Invalidität weiterleben zu können. Viele sind verkrüppelt, blind oder taub, manche leiden an schweren Traumata, einige sind für immer geistig behindert. Offiziell spricht die Regierung von 3000 verwundeten Soldaten. Zählt man die Männer und Fraün mit, die an psychischen Problemen leiden oder durch das eigene Militär verletzt wurden, ergibt sich nach einem britischen Medienbericht die Zahl von etwa 10000.
Als tragische Serie lief zwischen 1965 und 1975 das Gemetzel von Vietnam im Fernsehen. Bilder von blutüberströmten All-American-Boys drangen tief ins amerikanische Bewusstsein. Das, predigen seither die Militärs, hätte die Niederlage besiegelt. In der US-Bevölkerung kippte damals die Stimmung. Mütter schickten ihre Söhne nach Kanada, damit sie so der Dienstpflicht entgingen. Inzwischen ist das US-Militär eine Streitkraft aus Freiwilligen. Viele melden sich aus schierer Not zum Armeedienst.
Auch Frederick Allen, 24, hatte anscheinend keine andere Wahl. Er wächst in Pittsfield;Maine auf. Gute Jobs gibt es hier keine. Und er hat keine Lust, in der Leder-fabrik am Fliessband zu stehen oder bei Wal-Mart Salatköpfe einzupacken. An der High School fällt er durch robusten Körperbau und Mut auf. Nach dem Diplom meldet er sich bei den Fallschirmjägern. Der Gedanke, durch die Luft zu fliegen, gefällt ihm. An Krieg denkt er dabei nicht. Vier Jahre später schleppt er ein Maschinengewehr durch Afghanistan und hat unglaubliche Angst.
Gekrümmt hockt Allen im engen Wohnwagen ausserhalb von Pittsfield, an der Route 2. Hinter der “Haustür” hat es minus 30 Grad. Wie viele Soldaten lebt Allen mit einem Sold von 1800 Dollar knapp über dem Existenzminimum. Deshalb wohnt er mit Frau und Tochter bei seinen Eltern, in einem der zwei Zimmer des Wohnmobils. Anastasia, Allens Tochter, rennt durch Küche und Wohnzimmer der mobilen Wohnung. Seine Frau Annie, im achten Monat schwanger, schneidet Rabattmarken für Lebensmittel aus der Lokalzeitung.
Allens rosafarbenes Gesicht ist starr, die Augen wirken leer. “Es gibt keinen Moment, in dem ich keine Schmerzen empfinde”, sagt er. Langsam schiebt er eine Morphium-pille in den Mund. Eine Granate, die Stahlmäntel von Panzern durchdringen kann, durchschlug zürst sein linkes, dann sein rechtes Bein. Beide Glieder seien zermalmt worden, erklärt er, “wie wenn ein Bleihammer auf eine Melone kracht”.
Es geschieht an Halloween, der Nacht der Geister, am 31. Oktober 2003. Allen geniesst einen Ruhetag. Drei Monate ist er schon in Falludscha und spürt Sprengfallen auf. An seinem freien Tag lässt er sich die Haare rasieren, schreibt einen Brief an seine schwangere Frau. Aus dieser Stille reissen ihn zwei Angriffe auf den Polizeiposten und das Bürgermeisteramt. Sofort bezieht seine Einheit auf einem Dach Stellung. Frederick Allen hat den Finger am Abzug des Maschinen-gewehrs. Es ist dunkel, als “zwei gelbe Pfeile direkt auf mich zuzischen”. Er erinnere sich an alles nur in Zeitlupe, sagt Allen. Etwa an das Gefühl, als ein grosses, heisses Stück Eisen in sein linkes Bein dringt. Es schlitzt ihn auf, vom Hintern bis unters Knie. Fetzen von Fleisch und Nervenstränge hängen aus seinem offenen Körper. “Ich schloss meine Augen, öffnete sie wieder und schaute zum Himmel.” Dann erkennt er einen seiner Kameraden. “Was ist los mit mir?”, schreit er ihm entgegen. Er sieht den Schock in den Augen des anderen. “Da war mir klar, es steht schlimm. Als dann der Doktor sagte, es werde alles gut, wusste ich: Er lügt.”
Ein Panzer fährt ihn ins Feldlazarett. Zwei Tage später wacht er im Militärkrankenhaus Landstuhl, nahe Ramstein, auf. Wochenlang harrt der junge US-Soldat fiebrig in Quarantäne aus; zu seiner Verwundung hat ihn auch noch ein tückisches Virus befallen. Jede Berührung schmerzt. Alle paar Minuten tröpfelt eine kräftige Dosis Morphium in seine Venen.
Siebenmal wurde seither Allens Blut gewechselt. 15-mal ist er operiert worden. Noch immer schluckt er Pillen, neben dem Morphium auch einen Aspirin-Cocktail. Der einstige Athlet ist aufgedunsen, sein Hals dick, das Gesicht rund geworden. Die Superman-Tätowierung auf dem massigen Oberarm ist durch die starke Gewichtszunahme grotesk verzerrt.
Nachts wache er schweissgebadet auf, sagt Allen. Die Bilder aus dem Krieg verfolgen ihn. Tagsüber ist er auf die Hilfe seiner Familie angewiesen. Annie, seine Frau, zieht ihm die Schuhe an, sie hilft ihm in die Jacke, sie wäscht ihn. Seine kleine Tochter darf nicht auf seinen Schoss, denn das täte “höllisch weh”. Seine Beine wird Allen nie wieder richtig bewegen können.
Mit seinem Schicksal hadert Frederick Allen nicht. Klar, er sei sehr wütend, sagt er, “auf die Iraker, die mich beschossen haben”. Und auf die US -Politiker, die ihn in den Krieg schickten? “Wir mussten etwas tun, sonst wäre Amerika gefährlich bedroht gewesen”, ist er sich sicher. Und wenn er doch einmal zweifelt, dann denkt er an den 11. September. Das bestärke ihn, dass sein Land richtig gehandelt habe. Und die Massenvernichtungswaffen, die Präsident Bush einst als Kriegsgrund angegeben hatte, werde man noch finden. Sicher.
Fühlt er sich als Held? “Nein, ich erledigte den Job, für den ich bezahlt wurde”, sagt Allen. Bald reist er zurück nach Fort Bragg in North Carolina, wo seine Einheit stationiert ist. Um die Invalidenrente zu erhalten, muss der verkrüppelte Soldat die Restzeit am Schreibtisch absitzen. Sein Vertrag mit der Armee läuft bis Ende November. Dann kriegt auch er seine Medaille, das pupurrote Herz. Eine Einladung zu dieser Verleihung ist damit nicht verbunden. Frederick Allen muss einen Kredit aufnehmen, um seine erste und zugleich letzte Auszeichnung in Empfang nehmen zu können.
Das Verteidigungsministerium muss sparen. Zu viel wurde im Irak-Krieg schon für Material ausgegeben. So erhalten US-Veteranen in den nächsten zehn Jahren 28 Milliarden Dollar weniger Renten- und Krankenzu-schüsse. Etliche Krankenhäuser für ehemalige Armee-mitglieder wurden von der Regierung bereits geschlossen. Hat ein Ex-Soldat Klinikpflege nötig, wartet er mittlerweile bis zu einem halben Jahr auf einen Platz.
Jetzt prüft das Pentagon angeblich sogar die Kriegstauglichkeit von Amputierten. Sie sollen mit Hilfe von Prothesen wieder eingesetzt werden. Denn Ausgemusterte kosten nur. “Ökonomisch wie militärisch ist es sinnvoller”, sagt Grover Norquist, ein Bush-Berater, “Geld in Flieger zu investieren als in kriegsuntaugliche Soldaten.”
Dem kriegsuntauglichen Soldaten Frederick Allen hilft die Gemeinde. 200 Einwohner von Pittsfield kommen am Samstagnachmittag in den von Neonlicht erhellten Dorfsaal. Es gibt Spaghetti mit Fleischsosse und Limonade, zur Nachspeise Schokoladenkuchen und Kaffee. Jeder legt so viel ins Marmeladenglas, wie er kann. Für Allen. Am Abend sind es 2481 Dollar. Der Ehrengast sitzt vor einem Gesteck aus künstlichen Blumen. Hinter ihm ist eine US-Flagge aufgestellt. Er schüttelt Hände, nimmt Ratschläge von älteren Veteranen entgegen, verdrängt den Schmerz und drückt für die lokale Fernsehstation ein Lächeln he-raus. Der Gouverneur von Maine, John Baldacci, spricht ihm Mut zu. Mehr nicht. Das erzürnt viele. “Die Politiker kommen doch nur, um wieder im Rampenlicht zu stehen”, sagt ein ehemaliger Marinesoldat, der in Vietnam diente. “Helfen wird Frederick bestimmt keiner.”
Die Geschichte wiederholt sich. Nach dem Ersten Weltkrieg ging in der Strassenschlucht des Broadway in New York ein Konfettiregen auf Hunderttausende von Soldaten nieder. Rasch verdrängt und vergessen waren jedoch jene 300000 Veteranen, die invalid aus den Schützengräben zurückkamen. Viele fanden keine Jobs. Die meisten bekamen nicht einmal eine Rente. Grosszügiger versorgte der Staat seine 16 Millionen Veteranen nach dem Zweiten Weltkrieg, während Vietnam-Kämpfer vom eigenen Volk als Babymörder beschimpft wurden. Die ehemaligen Soldaten des zweiten Golfkriegs 1991 kämpfen noch heute mit Sammelklagen, um Schadenersatz für psychische Folgeschäden zu erhalten.
Das sei dismal anders, glaubt Wasim Khan. “Präsident Bush hat die Bevölkerung von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt. ” Khan wanderte aus dem Nordosten Pakistans 1997 in die USA ein, nachdem er in der alljährlichen Lotterie eine Green Card gewonnen hatte. “Seither bin ich bereit, für dieses Land zu kämpfen – und zu sterben.”
Nach der zehnten Operation erhielt der Kriegsveteran Khan, wonach er sich so lange gesehnt hatte – die US-Staatsbürgerschaft. Der 24-Jährige, der mit einem kaputten Bein und einem schielenden Auge aus dem Irak-Krieg zurückkam, sagt, er sei stolz, endlich Amerikaner zu sein.
ich verstehe nicht warum die menschen so gerne kämpfen für die erfüllung ihrer träume wenn sie doch wissen dass sie sich selbst und andere verletzten werden und ein gutes ende nicht gewiss ist.