Verkrüppelt und vergessen

3000 US-Soldaten wurden bisher im Irak verwundet. Öffentlich treten sie nicht in Erscheinung - der Staat will es so.

Von Peter Hossli (Text) und Nina Berman (Fotos)

wasim.gifÖfters klafft die Gedächtnislücke auf. Vergessen hat Wasim Khan heute, wo die Medaille mit dem purpurroten Herz liegt. Vergebens sucht er in der Kommode, im Reisekoffer, auf dem Nierentisch. «Vermutlich habe ich sie im Spital gelassen», sagt Khan. Er sitzt auf einer Couch in einer muffigen und schmalen Wohnung in Queens, einem Stadtteil in New York. Das steife Bein ist hoch gelagert. Er ist abgemagert. Das rechte Auge schielt.

Plötzlich greift der schmächtige Veteran in den hellblauen Nylonrucksack. Er kann sich wieder erinnern. Sachte kramt er eine flache schwarze Schachtel hervor, stellt sie auf den Tisch und öffnet sie. «Darauf bin ich mächtig stolz», sagt er. «Es ist meine erste Auszeichnung.»

Wohl auch seine letzte. Es ist die Medaille, die kein Soldat will – das Purple Heart. General George Washington hatte sie 1782 während der Revolutionskriege geschaffen. Exakt 150 Jahre lang verschwand sie, bis General Douglas MacArthur das Purpurherz 1932 reaktivierte. Seither wird es all jenen Soldaten ans Revers geheftet, die nicht als siegreiche Helden, sondern invalid oder verwundet aus dem Krieg heimkehren. Überdies erhalten es Angehörige aller Gefallenen.

Wasim Khan, 24, hatte Glück, er überlebte, knapp. Gerade eine Woche war der Artillerist letzten Sommer in Irak. Er war motiviert, voller Energie. Freiwillig meldete sich der Pakistani in US-Uniform am 1. Juni in Bagdads Stadtzentrum zur Wache. Es war heiss, 54 Grad im Schatten. Abkühlung suchte er im Humvee, einem wüstentauglichen Militärfahrzeug.

Als er seine Wasserflasche zum Mund führte, knallt es. Aus dem Nichts donnerte eine Raketen betriebene Granate ins geparkte Auto. «Es war totenstill», sagt Khan. Mindestens zehn Sekunden lang hätte er nichts gesehen, nichts gehört. Er griff zum Gewehr und schoss blindlings. Blut floss ihm aus den Augen. Am rechten Oberschenkel fehlte ein grosses Muskelstück. Das Scheinbein war entzwei.

Siebzehn Mal ist Wasim Khan seither operiert worden, davon je einmal am linken Arm und am rechten Auge. Eine der fünfzehn Operationen am rechten Bein dauerte elf Stunden. Zwar konnten die Ärzte das Bein nach der dritten Verpflanzung von Oberschenkelgewebe retten. Gefühl hat er darin keines mehr. Biegen ist unmöglich. Wenn er duscht, lösen sich Bleisplitter aus Armen und Beinen, Überreste des Geschosses. Morgen, am Tag nach dem Interview, reist Khan nach Washington und quartiert sich wie bereits in den letzten sechs Monaten im Walter-Reed-Spital ein, für weitere Eingriffe. Dann will er noch 20 Kilo Muskelmasse anfuttern, die er verloren hat.

Er ist nicht allein. Das auf Amputationen und teure Prothesen eingestellte Militärspital beherbergt und behandelt derzeit Dutzende von Irak-Veteranen. Zu den über 500 US-Soldaten, die im Irak bisher starben, kommen nämlich noch rund 3000 hinzu, die verletzt und dienstuntauglich zurückkehrten. Gemeinsam ist ihnen das Kriegstrauma – und die Invalidität. Viele sind verkrüppelt, haben das Augenlicht oder das Gehör verloren, einige sind für immer geistig behindert. Häufig sind Wunden im Gesicht, wo weder Helme und noch Westen schützen.

Nicht mehr seit Vietnam haben die USA in einem Krieg so viele Opfer zu beklagen. Zu sehen sind sie kaum. Sieger und Helden will Amerika feiern und zeigen, nicht Krüppel. Seit Saddam Husseins Verhaftung im Dezember ist das Interesse am Krieg ohnehin abgeflaut, obwohl fast täglich Amerikaner sterben. Als Anfang Januar ein Helikopter vom Type Black Hawk abstürzte und neun Soldaten in den Tod riss, gabs bloss Randnotizen.

Mehrere US-Magazine haben es abgelehnt, die Bilder der amerikanischen Fotografin Nina Berman zu drucken, die nun FACTS zeigt. «Zu depressiv», sei das Thema, sagte der Chefredaktor eines Nachrichtenmagazins. «Bereits zu viele Bilder von Soldaten» hätte sein Magazin veröffentlicht, antwortete ein anderer.

Klammheimlich verschwindet, wer in Irak stirbt – auf Anordnung des Präsidenten. Alle im Ausland getöteten Soldaten werden per Flugzeug zur Luftwaffenbasis in Dover, Delaware, geflogen. Sechs Offiziere tragen die mit Sternenbannern drapierten Särge ins Leichenhaus. Kameras sind nicht dabei. Kaum hatte George Bush das Weisse Haus bezogen, verbannte er die Presse von Dover. Beerdigungen von Irak-Opfern meidet er. Bilder eingesargter Helden sieht Amerika nicht.

Ein PR-Zug, der auf den Schlachtfeldern begann. «Verwundete wie Tote wurden bewusst von uns ferngehalten», sagt Wasim Khan, der einst aus Pakistan in die USA eingewandert und in Afghanistan als Spion eingesetzt worden war. Die jungen Soldaten sollen nicht durchdrehen. Statt grosse Lazarette im Kriegsgebiet zu betreiben, transportiert die Armee Verletzte sofort nach Landstuhl in Deutschland, lässt sie ruhen, und fliegt sie in die USA.

Verhindert wird so, was in den Augen der Militärs nie mehr passieren darf – dass ein Krieg und deren Folgen zum visuellen Grossereignis werden. Als tragisches Seriendrama flimmerte zwischen 1967 und 1975 während Tausenden von Nächten das Gemetzel in Vietnam über die Fernsehschirme. Bilder von Blut überströmten All-American-Boys drangen tief ins amerikanische Bewusstsein. Kein Krieg zuvor und kein Krieg danach konnte derart direkt und derart ungeschminkt verfolgt werden. Das, predigen seither die Militärs, hätte die Niederlage besiegelt.

Zuhause kippte die Stimmung zudem wegen der Dienstpflicht. Jeder konnte jederzeit das Aufgebot erhalten. Manche Mutter schickte ihren Sohn nach Kanada. Mittlerweile ist das US-Militär eine Streitkraft, bestückt mit ausschliesslich Freiwilligen. Meist aus schierer Not melden sich Amerikas Arme zum Dienst.

fred.jpgKeine andere Wahl hatte Frederick Allen, 24. Er wuchs in Pittsfield in Maine auf. Jobs gibt es hier keine. In der Lederfabrik den Rücken krümmen oder bei Wal-Mart Salatköpfe einpacken war ihm zuwenig. An der High School fiel er durch robusten Körperbau und Wagemut auf, spielte Football und rang. Nach dem Diplom meldete er sich bei den Fallschirmjägern. Er wollte aus Flugzeugen springen. «An Krieg dachte ich nie», sagt Allen. Vier Jahre später schleppte er ein Maschinengewehr durch Afghanistan. «Ungeheure Angst» hätte er dort gehabt. «Du weisst nie, wer auf Dich ballert.»

Gekrümmt hockt er im engen Trailer seiner Eltern, ausserhalb Pittsfields an der Route 2, südlich von Bangor. Wie viele Angehörige des Militärs lebt er knapp über dem Existenz-Minimum. Die 1800 Dollar, die er monatlich verdient, reichen nirgends hin. Deshalb wohnt er Zuhause, in einem der zwei Zimmer im Wohnmobil, mit seiner Frau und seiner Tochter.

Draussen ist es minus 30 Grad. Allens Gesicht ist rosa und starr, die Augen wirken leer. «Es gibt keinen Moment, in dem ich keine Schmerzen empfinde», sagt er.

Gemächlich schiebt er eine Morphiumpille in den Mund. Eine Granate, die Stahlmäntel von Panzern durchdringen kann, durchdrang in Fallujah, im Sunni-Dreieck, zuerst sein linkes, dann das rechte Bein. Beide Glieder seien zermalmt worden, erklärt er bildhaft, «wie wenn ein Bleihammer auf eine Melone kracht.»

Es geschah an Halloween, der Nacht der Geister, am 31. Oktober. Allens genoss einen Ruhetag. Drei Monate schon war er in Irak und spürte Sprengfallen nach. Heute lies er sich die Haare rasieren, schrieb Briefe an seine schwangere Frau. Aus dieser Stille rissen ihn zwei Angriffe auf den Polizeiposten und das Bürgermeisteramt. Sofort bezog seine Einheit auf einem Dach Stellung, er am Maschinengewehr. Es war dunkel, als «zwei gelbe Pfeile direkt auf mich zuzischten».

Er erinnere alles nur in Zeitlupe, sagt Allen. «Ich spürte ein heisses und dickes Stück Eisen im linken Bein.» Das schlitzte ihn auf, vom Hintern bis unters Knie. Fetzen Fleisch und Nervenstränge hingen runter. «Ich schloss meine Augen, öffnete sie wieder und schaute zum Himmel.» Dann erkannte er einen Kameraden. «Was ist los?», schrie er. Allen sah den Schock in dessen Augen. «Da wusste ich, es steht schlimm. Der Doktor sagte, es werde alles gut. Ich wusste: er log.»

Ein Panzer fuhr ihn ins Feldlazarett, wo er erstmals Morphium erhielt. Zwei Tage später wachte er in Landstuhl auf. Sieben Mal wurde seither sein Blut gewechselt. Fünfzehn Mal ist er operiert worden. Wochenlang harrte er fiebrig in Quarantäne aus; ein tückischer Virus hatte ihn befallen. Jede Berührung schmerzte. Alle sieben Minuten tröpfelte eine kräftige Dosis Morphium in seine Venen.

Noch immer schluckt er Pillen, neben dem Morphium einen Aspirin-Cocktail. Der einstige Athlet ist aufgedunsen, sein Hals dick, das Gesicht rund geworden, die Superman-Tätowierung auf dem massigen Oberarm verzogen. Der Fernseher surrt. Anastasia, Allens Tochter, rennt durch Küche und Wohnzimmer. Seine Frau Annie, im achten Monat schwanger, schneidet Rabatmarken für Lebensmittel aus der Lokalzeitung. Sein Vater schiebt ein Stück Holz in den Ofen.

Nachts wache er schweissgebadet auf, sagt Allen. Schuhe kann er nicht mehr alleine anziehen. Annie streckt ihm die Krücke hin, hilft ihm in die Jacke, wascht ihn. Anastasia darf nicht mehr auf seinen Schoss sitzen. «Das täte höllisch weh.»

Übernächste Woche reist Allen zurück nach Fort Bragg in North Carolina, wo seine Einheit stationiert ist. Sein Vertrag mit der Armee läuft bis Ende November. Dort krieg er auch seine Medaille. Da Invalidenrenten höher sind als Löhne, müssen verkrüppelte Soldaten die Restzeit oft am Pult absitzen. So spart das Pentagon. Die Reise zur Dienststelle muss Allen selber bezahlen. Um das Purple Heart abzuholen, nimmt er daher einen Kredit auf. Das Flugticket kann er sich nicht leisten, ans Steuer darf er nicht. Annie ist die 17-stündige Autofahrt zu anstrengend.

Für Material, nicht für Menschen gibt das Pentagon derzeit Geld auf. Schon gar nicht für Veteranen. 28 Milliarden Dollar weniger Renten- und Krankenzuschüsse erhalten sie in den nächsten zehn Jahren. Das entschied letztes Jahr der Präsident, der republikanisch beherrschte Kongress segnete es ab. Zudem schloss Bush etliche Krankenhäuser für Veteranen. Hat ein Ex-Soldat Spitalpflege nötig, wartet er mittlerweile bis zu sechs Monate darauf.

Um weiter zu sparen, prüft das Pentagon sogar die Kriegstauglichkeit von Amputierten. Sie sollen, mit Hilfe von Prothesen, aufs Schlachtfeld zurück. Denn Ausgemusterte kosten. «Veteranen kämpfen nicht mehr», sagt Grover Norquist, der Präsident des Think Tanks «Americans for Tax Reform» und Bushs Berater. «Ökonomisch wie militärisch ist es sinnvoller, Geld in Flieger zu investieren als in kriegsuntaugliche Soldaten.»

Dem kriegsuntauglichen Frederick Allen hilft die Gemeinde. Etwa zwei hundert Einwohner von Pittsfield kommen am späten Samstagnachmittag im mit Neonlampen beleuchteten und künstlichem Holz ausgekleideten Dorfsaal zusammen. Es gibt Spagetti mit roter Fleischsosse und Limonade, zur Nachspeise Schokoladenkuchen und Kaffee. Jeder legt so viel ins Marmeladenglas, wie er kann, für Allen. Am Abend sind es 2481 Dollar. Der Ehrengast sitzt vor einem künstlichen Blumengesteck. Hinter ihm aufgestellt ist eine US-Flagge. Er schüttelt Hände, nimmt Ratschläge von älteren Veteranen entgegen, verdrängt den Schmerz und drückt für die lokale Fernsehstation ein kurzes Lächeln heraus.

Der Gouverneur von Maine, John Baldacci, spricht ihm Mut zu. Mehr nicht. Das erzürnt viele Spagetti-Esser. «Die Politiker kommen doch nur der kostenlosen Publizität wegen», sagt ein ehemaliger Marine-Soldat, der in Vietnam diente. «Helfen wird Fred bestimmt keiner.»

Die Geschichte wiederholt sich. Nach dem Ersten Weltkrieg prasselte in der Strassenschlucht des Broadways in New York ein Konfettiregen auf Hunderttausende von Soldaten nieder. Die Party läutete die Roaring Twenties ein. Rasch verdrängt und vergessen waren jene 300000 Veteranen, die invalid von den Schützengräben zurückkamen. Viele fanden keine Jobs. Renten, Spitäler oder Krankenkassen fehlten. Mit fünfzig schwarzen Autos, gestiftet vom Industriellen Henry Ford, fuhren 1922 die behinderten Krieger nach San Francisco und forderten in einer Grosskundgebung Staatszuschüsse.

Besser wars nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Staat versorgte die sechzehn Millionen Veteranen grosszügig. Ökonomen werten die Pensionen der Kriegsheimkehrer aus Europa und dem Südpazifik inzwischen als wichtigste Stütze der Mittelklasse während Jahrzehnten. Es gilt als Grundlage der folgenden Boomjahre.

Mit Eiern beworfen und als Babymörder beschimpft wurden die Vietnamveteranen. Bis heute sind sie Aussenseiter geblieben. Noch anerkennt die Regierung das mysteriöse Golfkriegsyndrom nicht als Folge des Kriegs. Mit Sammelklagen versuchen die Veteranen des ersten Irakkriegs, zu Geld und Recht zu kommen.

Das sei diesmal anders, glaubt Wasim Khan. «Präsident Bush hat die Bevölkerung von der Notwendigkeit des Kriegs überzeugt.» Khan fühlt sich willkommen geheissen, als Veteran wie als Muslim. Er kam einst im Nordosten von Pakistan zur Welt. In die USA wanderte er 1997 ein, nachdem er in der Lotterie eine Green Card gewonnen hatte. Wegen den «unbeschränkten Möglichkeiten» sei er hier. Zuerst verkaufte er Bluejeans. Dann meldete er sich freiwillig bei der Artillerie. «Ich wollte stets in den USA bleiben», sagt er. «Deshalb war ich bereit, für dieses Land zu kämpfen – und zu sterben.»

Beschwerdefrei wird er nie mehr sein. Auf Kricket, seiner Passion, muss er verzichten. Dennoch bereut er nichts. «Irak ist sicherer geworden. Wir haben den Tyrann gefasst.» Zudem hätte er im Spital viele Freunde gewonnen, denen es genauso gehe wie ihm. Mit ihnen spasse er über die Behinderungen. Nach der zehnten Operation erhielt er auch, wonach er sich lange gesehnt hatte – die US-Staatsbürgerschaft. Was er denn brauche, fragte ihn der behandelnde Arzt. Sein Antrag auf Einbürgerung sei ins Stocken geraten, antwortete Khan. Am nächsten Tag hielt er drei Finger zum Schwur hoch. Er war am Ziel. Er war Amerikaner geworden.

Klar, er sei sehr wütend, sagt Frederick Allen, «auf die Iraker, die mich beschossen haben». Und die US-Politiker, die ihn in den Krieg schickten? «Wir mussten etwas tun, sonst wären hier in Amerika mehr gestorben», sagt er. Befielen ihn Zweifel, denke er an den 11. September. «Sicher finden» werde man die Massenvernichtungswaffen, die Bush einst als Kriegsgrund vorgegeben hatte. Ist er ein Held? «Nein, ich erledigte den Job, für den ich bezahlt wurde.» Nun hofft er, seine Invalidität sei schlimm genug – mehr als 30 Prozent –, damit er kostenlos ans College darf und Arzt werden kann.

«Ich bedauere nichts», sagt er auch. «Ich wollte von hier weg und hatte keine andere Wahl.» Seine Frau liebe ihn sehr, ebenso seine Tochter. «Ich lebe ja noch.»�