Rote Köpfe beim Kampf um trockene Kehlen

Die Gratisnutzung einer Wasserquelle am Lake Michigan provoziert den Widerstand der Bevölkerung gegen Nestlé. Am Lake Michigan füllt Nestlé jährlich eine Milliarde Liter Seewasser ab und verkauft es als «Ice Mountain Water». Nestlé bezahlt dafür keinen Dollar. Die Region reagiert nun mit Klagen und Boykotten. Der Konzern reagiert gelassen.

Von Peter Hossli

Amerika hat Durst. Den stillt immer häufiger klares Wasser. Der Konsum hat sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdreifacht. Weil es gesünder sei, greifen durstige Amerikaner zur Wasser- statt zur Cola-Flasche – zur Freude der Mineralwasseranbieter und insbesondere des Lebensmittelriesen Nestlé. Er kontrolliert seit dem Kauf von Perrier einen Drittel des US-Marktes.

Damit nicht genug. Denn im Kampf um die Marktanteile zählen nicht nur die grossen Namen wie Perrier. Coca-Cola und Pepsi veredeln auch herkömmliches Grundwasser. Nestlé hingegen setzt auf Quellwasser. So versuchte die Firma bereits Ende der Neunzigerjahre an der Mündung eines Sees in Wisconsin eine Abfüllanlage aufzubauen. Zum Verdruss der Bevölkerung. Die wollte ihr Wasser nicht teilen. Unverrichteter Dinge zog der Konzern weiter – und wurde am Lake Michigan, in Mecosta County, fündig, vier Autostunden nördlich von Chicago. Dort stellte Nestlé eine Pumpstation auf und legte eine 18 Kilometer lange Pipeline ins Städtchen Stanwood, wo die Firma für 100 Millionen Dollar eine Abfüllanlage bauen liess. Täglich drei Millionen Liter Wasser werden in Pet-Flaschen eingefüllt und unter dem Markennamen «Ice Mountain Water» verkauft.

Das Wasser entnimmt Nestlé der Quelle des Little Muskegon Rivers, der in den Lake Michigan mündet. Für dieses Recht bezahlte die Firma eine einmalige Lizenzgebühr von 75 Dollar. «Ein Affront für die ganze Region», sagt die Kanadierin Maude Barlow, Autorin des Buches «Blue Gold: The Fight to Stop the Corporate Theft of the World’s Water». Sie gehört einer Bewegung an, die vehement gegen Nestlé ankämpft. Es werden regelmässig Proteste und Boykotte organisiert. Vor zwei Jahren reichten Privatbürger und die Gruppierung «Michigan Citizen for Water Conservation» Klage ein. Ihr Ziel ist die Schliessung der Anlage.

Das komplexe Wasserrecht von Michigan erlaubt die private und die industrielle lokale Nutzung des Seewassers, verbietet aber dessen Transport. Der Hauptgrund für diese Einschränkung: Seit Jahren versuchen Staaten im trockenen Südwesten der USA – etwa Arizona oder Neu Mexiko – eine Pipeline von den Grossen Seen zu legen und das Wasser in die Wüste zu pumpen. Bisher vergeblich.

Nestlé tue genau das und verletze so bestehende Gesetze, sagt Klägeranwalt Scott Howard. «Ohne etwas dafür zu bezahlen, verkauft Nestlé Wasser im ganzen Land.» Nestlé hingegen argumentiert, in Flaschen abgefülltes Wasser sei ein Produkt und keine Ressource mehr. Mit Wasser aus dem Lake Michigan würden ja auch Kartoffeln gewässert, die landesweit beispielsweise als Fritten aufgetischt werden.

Nestlés neue Abfüllanlage schuf über 100 Arbeitsplätze

Mitte Juli soll der zuständige Richter entscheiden – mit nachhaltiger Wirkung. «Es geht um die Frage, ob Wasser privatisiert werden darf», sagt Howard. «Darf ein Unternehmen einen natürlichen Bodenschatz wie Wasser nehmen, verpacken und landesweit verkaufen – ohne dafür zu bezahlen?» Das sei etwa in der Holzindustrie oder der Bergbauindustrie nicht erlaubt. Wer Wälder abholzt und Mineralien fördert, entrichtet dafür nämlich happige Nutzungsgebühren.

Das Thema ist ein Politikum. Weltweit würden jährlich bereits über 100 Milliarden Liter Wasser in Plastikflaschen abgefüllt, sagt Autorin Barlow. Das verursache riesige Müllberge. Die grüne Partei Michigans rief die demokratische Gouverneurin Jennifer Granholm unverhohlen dazu auf, «den Wasserdiebstahl von Michigan» durch Nestlé sofort zu unterbinden. Die Gouverneurin versprach, sich der Sache anzunehmen. Das Seewasser, so liess sie dann unlängst in einem Zeitungsinterview wissen, sei ein «nationaler Schatz».

Nestlé weist die Vorwürfe zurück. Bei der Gegnerschaft handle es sich um eine kleine Gruppe, sagt Nestlé-Sprecherin Jane Lazgin. Man sei am Lake Michigan «mit offenen Armen» empfangen worden. 100 Leute beschäftige die Abfüllanlage, die einen «wichtigen Beitrag leistet für die Gesundung der Region». Die Stundenlöhne – zwischen 12 und 23 Dollar – lägen über den üblichen 7 Dollar. «Davon profitiert die Region wenig», entgegnet Anwalt Howard. Die meisten Angestellten seien Auswärtige. Ausserdem erhalte Nestlé grosszügige Steuernachlässe.

Befürworter der Anlage betonen die eher geringe Fördermenge. Sie entspreche gerade mal dem Volumen, das an einem Sommertag alle 14 Minuten verdunste. Das sei keine Haarspalterei, sondern einfach falsch, sagt Barlow. «Verdunstetes Wasser bleibt im Kreislauf. Wird das Wasser abgeschöpft, fällt es weg.» Der bevorstehende Richterspruch habe Signalwirkung und reiche darum weit über die eine Nestlé-Anlage hinaus. «Erhält Nestlé grünes Licht, schafft dies in den USA einen wichtigen Präzedenzfall für die Wasserprivatisierung», sagt Barlow. Sie bezeichnet denn auch Wasser als «wichtigstes Thema unserer Zeit». Neben Nestlé hätten es bereits andere Grosskonzerne auf den Lake Michigan abgesehen. «Wenn Nestlé darf, kann man niemand anderen mehr stoppen», sagt Barlow.

Der Lake Michigan ist einer der fünf grossen Seen, die das Grenzgebiet zwischen Kanada und den USA zum grössten Wasserreservoir der Welt formen. Zusammen halten sie ein Fünftel des globalen Trinkwasserbestandes. Es sind Überbleibsel aus der Eiszeit, riesige Pfützen, welche die geschmolzenen Eisberge zurückgelassen hatten. Da sich nur ein Prozent ihres Wassers natürlich erneuert, fürchten viele, die Übernutzung führe zu Dürre.

Laut Nestlé befindet sich die Quelle auf privatem Grund

Zumal in der Region bereits etliche Bauern ihre Farmen aufgegeben und das Land an Abfüllfirmen verpachtet haben. «Die Quellen trocknen aus, die Pegelstände sinken», sagt Barlow. Sie befürchtet, in zehn Jahren werde der St.-Lawrence-Strom den Atlantik nicht mehr erreichen. Nestlé gibt sich umweltfreundlich. Die Firma habe ein ausgeklügeltes Überwachungssystem installiert. Pegelstand wie Wasserqualität würden ständig kontrolliert. Seit der Eröffnung der Anlage im Mai 2002 seien keinerlei Umweltprobleme aufgetreten oder beanstandet worden, sagt Lazgin. «Quellwasser ist unser Business», sagt Lazgin, «wir haben doch kein Interesse daran, dass unsere Quellen versiegen.» Die 75 Dollar Lizenzgebühr kommentiert Lazgin nicht. Sie betont, es handele sich hier nicht um die Privatisierung von Wasser. Die Quelle befinde sich auf Privatgrund. «Wie andere Firmen nutzen wir das Wasser auf unserem Land». Das mache Nestlé innerhalb der gesetzlichen Vorschriften des Staates Michigan.

Der Streit verdeutlicht, wie sensitiv die Debatte ist. Wasser ist ein rarer Lebenssaft geworden. Bereits heute hat die Hälfte der Weltbevölkerung gemäss einem Uno-Bericht keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jährlich sterben deswegen 30 Millionen Menschen. 350 Liter Wasser pro Tag verbraucht durchschnittlich jeder Amerikaner. Europäer begnügen sich mit 200 Litern, wohingegen ein Afrikaner gerade mal 19 Liter täglich verbraucht.

Zwar tranken die Amerikaner im letzten Jahr mit 23 Millionen Liter Wasser mit Abstand am meisten Wasser aus der Flasche. Pro Kopf liegen sie mit 81 Litern jährlich abgeschlagen an 11. Stelle. Die Schweizer liegen mit 92 Litern an neunter Stelle.

Nestlés «Poland Spring» in der Kritik
Wer in den USA in ein Kühlregal schaut, erblickt die Flasche mit der grünen Etikette sofort: «Poland Spring Water» ist das weitaus beliebteste Mineralwasser der USA. Der jährliche Umsatz beträgt rund 550 Millionen Dollar. Nun gibt es Vorwürfe, wonach sich an Stelle von Quell- herkömmliches Grundwasser in der Flasche befinde. Im Namen von geschädigten Konsumenten wurden in drei US-Staaten Sammelklagen gegen Nestlé Waters North America eingereicht. Dabei handelt es sich um die amerikanische Nestlé-Tochter, die Poland Spring Water vertreibt. Das Wasser werde «tief in den Wäldern von Maine» gefunden, heisst es auf dem mit Tannen versehenen Label. Der Name der Quelle: die Clear Spring in Hollis im Bundesstaat Maine. Die sei aber laut Klage seit 1967 trocken. Nestlé fördere das Wasser nicht wie in der Werbung versprochen im Wald, sondern in der Nähe von Parkplätzen. Zwei aggressive Anwaltskanzleien – Hagens Berman in Seattle und Ivey & Ragsdale in Alabama – stellen die Klägeranwälte. Auf der Website www.bottledwaterfraud.com präsentieren sie die Klageschriften und rufen angeblich in die Irre geführte Käufer von Poland Spring Water dazu auf, sich den Klagen anzuschliessen. Ein Nestlé-Sprecher wies die Vorwürfe als haltlos zurück. Poland Spring sei pures Quellwasser und erfülle alle US-Anforderungen.