Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Greg Besozzi steht im zweiten Glied. Er hebt den Kopf, schaut gerade aus und winkelt den linken Arm an. Sein Ellbogen berührt die Rippe des nebenan stehenden Kadetten. Der und dessen Nebenan machen es Besozzi gleich. Binnen Sekunden beträgt der Abstand zwischen den zwei Dutzend Mitgliedern des Zuges eine halbe Armlänge.
«Attention», Achtung, schreit die vorderste Kadettin, eine zierliche blonde Frau mit blasser Haut. Auf deren energischen Befehl stehen alle stramm. «Vollständig», schreit sie, ohne eine Miene ihres Teenagergesichts zu verziehen. «Ruhen», ruft sie. Die Truppe ruht. «Inspiziert die Frisuren.»
Besozzi, 21-jährig und im dritten Jahr Student der Militärakademie West Point, streift die Wollmütze ab und dreht sich nach links. Während fünf Minuten begutachten die Kadetten gegenseitig ihre Haarlängen. Dann formieren sie sich erneut. Eine Kapelle beginnt, einen Marsch zu blasen. Im Takt schreiten die Kadetten in die Kantine, wo sie mit 4000 Kommilitonen gemeinsam das Mittagessen einnehmen. Binnen 24 Minuten, keine Sekunde länger, verdrücken sie Hot Dogs, Bohnen und dazu Schokoladenkuchen.
Keineswegs abschreckend wirkt solch rigoroser Drill für amerikanische Teenager. Um zwanzig Prozent nahmen allein im letzten Jahr die Bewerbungen für West Point zu. «Ein normales College würde ich nicht durchstehen», sagt Besozzi, der ursprünglich aus Ohio stammt. «Ich brauche die militärische Disziplin.»
Als «sehr patriotisch» bezeichnet Brigadegeneral Daniel Kaufman die neuen Kadetten. Er ist der Rektor der Militärschule. «Sie fürchten den Krieg nicht.»
Das pauken sie, Tag für Tag. Vier Jahre lang bleiben die Kadetten. Sie studieren, betreiben eifrig Sport, büffeln Ehre und Moral und erlernen bereits im ersten Sommer, knapp 17-jährig, das Kriegshandwerk. Sie schiessen mit Sturmgewehren und Panzern, marschieren meilenweit, springen mit Fallschirmen ab und robben unzählige Mal durch braunen Schlamm. Als «fertiger Soldat und effiziente Führungskraft» verlässt die Schule – wer das alles durchsteht. Immerhin geben 17 Prozent auf und treten vorzeitig aus.
West Point, zwei Autostunden nördlich von Manhattan, ist die amerikanische Schule des Krieges. Eine Institution, ausgeschmückt mit historischen Flaggen und Kanonen, Sagen umwoben, in unzähligen Filmen und Büchern verewigt, über zweihundert Jahre alt, fast so alt wie die USA selbst. Im gotischen Stil nach englischem Vorbild erbaut, thront die Schule stolz auf einem Felsabhang über dem derzeit gefrorenen Hudson River. Ein Wandbild im Speisesaal zeigt sämtliche geschichtsträchtigen Schlachten, von Babylon bis zum Zweiten Weltkrieg.
Hinter den dicken Mauern haben einst jene Generäle studiert, die später als famose Kriegsherren Amerikas Schlachten geschlagen hatten. Etwa die bedeutendsten Feldherren des Zweiten Weltkrieges, Dwight Eisenhower, George Patton oder Douglas MacArthur. Heute zieren sie in Stein gehauen oder Bronze gegossen den Campus.
Auch Norman Schwarzkopf, General im ersten Golfkrieg, hat in West Point studiert.
Es sind die prächtigsten Exemplare dessen, was West Point gemäss eigenem Kredo in konstanter Qualität hervorbringt: «Wir produzieren Führungskräfte», sagt Kaufman. Jedes Jahr treten 1000 High-School-Abgänger ein, auserlesen unter 12000 Bewerbern. Vier Jahre später verlassen sie die Akademie mit einem renommierten College-Abschluss im Sack und dem Offiziersrang auf den Schultern.
Zudem dient die Schule als intellektuelles Gerippe der US-Streitkräfte. Ein Heer von über 500 militärisch geschulten Akademikern macht sich Gedanken übers Kriegsführen. Sie produzieren Strategiepapiere und verfassen Bücher über den globalen Terrorismus. Die Akademie beherbergt die grösste Anstalt für nationale Sicherheit. Aufgrund deren Forschung entscheiden US-Kongress und Präsident.
Den wohl wichtigsten Kurswechsel seit dem Vietnamkrieg kündigte George W. Bush im vergangenen Juni auf der Exerzierwiese an, zwischen Patton- und Eisenhower-Denkmal. Anlässlich der Abschlussfeier sagte der Präsident, die USA behielten sich künftig aggressive Präventivschläge vor. Euphorisch beklatschten die in weissen Gardeuniformen und Hüten mit Straussenfedern gekleideten West Pointer den Plan zum Angriffskrieg.
«West Point existiert, weil dieses Land Soldaten in Kriege schickt», sagt Major Bernard Banks. «Deshalb wurde West Point einst gegründet und deshalb hat die Akademie so lange überdauert.» Banks, ein kräftig gebauter Veteran des Golfkriegs, unterrichtet das Paradefach der Akademie – Führungsstil. Zu ihm kommen die Kadetten als Rekruten und gehen als Leutnante, bereit für den Krieg.
Der ist real geworden. Bis vor kurzem studierte man wegen der exzellenten, aber kostenlosen Ausbildung in West Point. Eine Schule, die Harvard oder Yale in den Schatten stellte. Bewaffnete Konflikte schienen passé. Nun führt Amerika Krieg. Die fünf Jahre, die jeder und jede nach Abschluss in der Armee dienen muss, drohen unbehaglich zu werden. «Es bewerben sich jetzt hauptsächlich jene, die an Demokratie glauben», sagt Banks, «an Freiheit und Amerika.»
Als «enorm» bezeichnet Bre Millard den Stimmungswandel auf dem Campus seit dem 11. September 2001. «Wir sind nun weit mehr bei der Sache», sagt sie. Auf der Jacke der eher schmächtigen 21-Jährigen prangt ein Triathlon-Abzeichen. Millard hat die Matura an einer progressiven High School in Massachusetts bestanden. Nach West Point kam sie, «weil der Fokus nicht nur akademisch ist, sondern weil wir als ganze Personen geschult werden.» Dazu gehöre das Militärische.
Millard ist im vierten und letzten Jahr. Sie hat sich auf nationale Sicherheit spezialisiert und will dereinst den «internationalen Terrorismus bekämpfen», sagt sie. Ihr spartanisch eingerichtetes Zimmer teilt sie mit einer Kommilitonin.
Auf dem Gestell oberhalb des Computers stapeln sich Strategie- und Militärgeschichtsbücher. In der Ecke stehen zwei silberne Säbel fürs Defilee, sowie ein Bügelbrett. Bis auf die Uniformen waschen und bügeln die Kadetten alle Kleider selber.
Ein «The Army Wants You»-Magnet prangt am Kühlschrank. Unter den schmalen Betten beider Frauen stehen zwei paar Stiefel, Turnschuhe und glänzende Lackschuhe.
Wie für West Points Kadetten üblich, gibt Millard monotone Antworten. Etwa: «Der Krieg zwingt uns, intensiver über unser Versprechen an Amerika nachzudenken.» Kein Wunder hängt den West Pointern der Ruf nach, sie seien Roboter. Blitzgescheit, eloquent, fit – und angepasst. Die Wahl der Wörter scheint antrainiert, ebenso der zur Schau gestellte Enthusiasmus. Geredet wird von «uns» und «wir». Persönliche Ansichten fehlen.
Soll Amerika den Irak angreifen? Bre Millard gibt sich abgeklärt und der Verfassung verpflichtet. «Als Angehörige des Militärs darf ich mich dazu nicht äussern», sagt sie, «das entscheidet allein die zivile Autorität, also der Präsident. Sagt er ja zum Krieg, geben wir unser Bestes.»
Eiserne Disziplin bestimmt Millards Alltag. «Lüg nicht, betrüg nicht, stiehl nicht, und toleriere jene nicht, die das tun», lautet der in Marmor gemeisselte Ehrenkodex. Wer sich nicht daran hält, fliegt raus. Versuchungen gibt es genug – alle Türen bleiben stets unverschlossen.
Wie im Militär schneiden die Männer das Haar kurz, die Frauen binden es hoch. Monatlich misst ein Arzt den Fettgehalt der Kadettenkörper. Übersteigt der 22 Prozent, ordert der Doktor strikte Diät und noch mehr Sport an. «Körperliche Fitness ist essentiell», sagt Rektor Kaufman, «im Ernstfall entscheidet sie über Leben und Tot.» Umso mehr wird ständig gejoggt, geboxt, geradelt, gefochten.
Nach vier Uhr nachmittags, wenn der Unterricht aus ist, stemmen die Mannen und Frauen Gewichte, drehen Runden und schwimmen Längen. Ein Judoka mit schwarzem Gürtel lernt Würfe. Ein Marine unterrichtet die Kadetten beim Nahkampftraining, wie man lautlos jemanden erwürgt, wie man dem Feind am besten den Arm ausrenkt oder das Genick bricht.
Sport bündelt Energie. Ihre Hormone müssen die Kadetten nämlich zügeln. Es sei verboten, liebende Gefühle öffentlich zu zeigen, betont der Rektor. Sollten sich zwei West Pointer verlieben, muss das rein platonisch bleiben. Ausgang ist limitiert, Sex in der Kaserne untersagt. Ältere Studenten dürfen keine sozialen Kontakte mit jüngeren pflegen. «Wir überwachen das genau», sagt Kaufman.
Etwa beim gemischten Nahkampftraining. Ein bisschen zu zärtlich berührt ein Kadett seine Sparringpartnerin. Statt sie zu würgen, reibt er seinen Unterleib sanft auf ihren Schenkeln. Der Instruktor sieht die versteckte Liebelei – und trennt das Paar, mit einem scharfen Verweis.
Als Besozzi nach West Point kam, trennte er sich von seiner Freundin. «Sie verstand nicht, wie hart ich hier arbeiten muss, wie wenig Zeit ich für sie habe.»
Tagwache ist um sechs. Eine halbe Stunde später stellen sich die rund 4000 Kadetten in Reih und Glied zum allmorgendlichen Antrittsverlesen. Nach dem Frühstück – sechs Minuten servieren, 24 Minuten essen – beginnen die ersten Vorlesungen. Die finden nicht in grossen Sälen sondern intimen Zimmern mit maximal fünfzehn Studenten statt. Schwänzen ist im Gegensatz zu herkömmlichen Colleges untersagt. Stets zur vollen Stunde überquellt der sonst meist leere graue Schulhof mit hastenden Halbwüchsigen.
Klassenwechsel. Keiner will zu spät kommen. Kaum einer redet mit anderen. Die Köpfe liegen waagrecht auf den Hälsen. Die Augen blicken aufrecht nach vorne.
Nichts zu suchen haben zivile Kleider. Jeweils per E-Mail erhalten die Kadetten die aktuellen Kleidervorschriften. Ist es bitterkalt, wie an diesem Februarmorgen, tragen sie schwarze Handschuhe, gebügelte schwarze Hemden, eine Krawatte und darüber eine schwarze Jacke mit Kapuze. Ein breiter blauer Streifen entlang der Naht ziert die graue Wollhose.
Auf fast allen Kleidungsstücken angenäht ist gut sichtbar eine zweistellige Zahl – 04, 05, 06. Sie steht für das Jahr des Schulaustritts – und für ein Prinzip, das West Point wohl am deutlichsten von anderen Universitäten unterscheidet: die strikte und in jeden Bereich hineinreichende Hierarchie. Erstklässer unterstehen den Kadetten des zweiten Jahrgangs; deren Vorgesetzte studieren im dritten Jahr. Zuoberst regieren, obwohl erst 21-jährig und wie viele mit Pickeln auf den schmalen Gesichtern, die Viertklässler.
«Ganz aufregend» findet es Bre Millard, «Verantwortung zu übernehmen für andere.» Klar sei es schwierig, von Vorgesetzten angeschrieen zu werden. «Wer jemanden anschreit, der sorgt sich aber aufrichtig», sagt Millard. Es tue ihr schon weh. «Für den Schreier ist es so schwierig wie für den Kadetten, der angeschrieen wird.» Unlängst musste sie jene Frauen zurecht weisen, die ihr Haar nicht hoch binden konnten. «Sie haben dabei bestimmt etwas gelernt.» Bre Millard selbst trägt ihr Haar schon seit langem kurz.
Pragmatisch sieht es Chane Jackson, 21, schwarz und Kadett im dritten Jahr. Ein zufriedener Bursche, der in seiner Freizeit als Judoka mit braunem Gürtel kämpft und dereinst Fallschirmspringer werden will. «Du gewöhnst Dich ans Geschrei», sagt er. Wer nicht spurt, der werde halt bestraft. Besonders effektiv, so Jackson, sei das «Stunden schieben» – mit geschultertem Gewehr gehe man dabei zwischen fünf und zehn Stunden lang im Kreis. «Wenn Du es bis dann noch nicht begriffen hast, wirst Du es nie begreifen.»
Begriffen hat er, dass Amerika demnächst in den Krieg ziehen wird. «Wir reden ständig darüber und wir wissen bestens Bescheid», sagt Jackson, «aber wir kommentieren es nicht, und wir haben keinerlei emotionale Haltung dazu.» Zumal «in den Krieg ziehen die Aufgabe ist, auf die ich mich hier täglich vorbereite.»
Nur die «Gescheitesten» und «Besten» hätten in West Point etwas zu suchen, sagt Rektor Kaufman. «Wir suchen Leute, die bereits jung Führungsqualitäten bewiesen haben», sagt er. Menschen, getrimmt auf Erfolg. Wer nicht Präsident der High School oder Kapitän des Volleyballteams gewesen sei, könne sich den Aufnahmeantrag sparen. Zudem braucht es ein Schreiben eines Parlamentariers, des Präsidenten oder dessen Vize.
Versammelt ist hier die Elite. Zwar betont der Rektor, man bemühe sich sehr um schwarze Leader und Frauen. Doch mehrheitlich ist West Point eine Schule für weisse Männer. Sie übernehmen dereinst als Generäle und Majore aus sicherer Distanz die Führung und die Planung. Währenddessen kämpfen die Schwarzen an der Front. 16 Prozent des Armeebestandes stellen West-Point-Abgänger.
Nicht nur der erstarkte Patriotismus, auch die schwächelnde Wirtschaft hätten den Run auf die Akademie beschleunigt. «Selbst aufopfernde Manager sind nun gefragter als die Absolventen von Wirtschaftsschulen, die es nur aufs Geld abgesehen haben», sagt Kaufman. «Wer hierher kommt weiss: er wird wahrscheinlich nicht Millionär, sondern stellt sich in den Dienst des grössere Ganzen.»
So beliebt war West Point nicht immer. Je nach politischer Stimmung kippte es von euphorischer Unterstützung in kollektive Verachtung. «Führt das Land einen unpopulären Krieg, mag uns die Öffentlichkeit nicht», sagt Kaufman.
Dabei ist deren Unterstützung zentral. Immerhin 250000 Dollar kostet die Ausbildung eines einzelnen Kadetten, getragen vollständig von den Steuerzahlern. Als amerikanische Soldaten zu Tausenden im schwarzen Leichensack aus Vietnam zurück kehrten, wollten manche Parlamentarier die Akademie sogar schliessen.
Damit das nicht erneut passiert, betreibt West Point nun rege Public relations. Echten Einblick gewährt die Akademie jedoch ungern. Fragen an Kadetten und Schulleiter müssen im voraus eingereicht werden. Pausenlos begleitet eine Pressesprecherin Reporter und Fotograf. Bei Interviews horcht sie mit. Zuweilen richtet ein Kadett schüchtern einen Blick in ihre Richtung. «Wollen Sie die Standardantwort hören? Oder die ehrliche?», antwortet etwa Besozzi auf eine Frage.
Im Klassenzimmer gibt er den Störenfried, ein kritischer Geist, der seine Meinung sagt – und den die Instruktoren deshalb besonders schätzen. Einer der denkt. «Es macht keinen Sinn, uns ständig zu degradieren», wirft er ein. «Was meint ihr dazu?», fragt Banks, der Lehrer. Im fensterlosen Raum geht es heute um die harschen Methoden auf dem Campus.
«Wir werden oft wie Kinder behandelt», sagt ein Kadett. «Es ist immer einfacher, einen zur Schnecke zu machen», sagt ein anderer. «Der Stress, dem wir ausgesetzt sind, ist meist übertrieben», sagt Besozzi, der dereinst zu den Special Forces will, der Eliteeinheit der Armee.
«Glaubt Ihr tatsächlich, als Offizier wird es nicht zehn Mal härter?», fragt Banks. «Schon, aber dann kriegen wir Respekt», sagt einer. «Eines will ich Euch einbläuen», sagt Banks kurz vor Ende der Schulstunde. «Es wird alles nur komplexer. Im Krieg ist es total chaotisch. Jetzt habt ihr noch Freiheiten.» Er hält kurz inne. «Freiheit ist etwas Gefährliches.»
Binnen 47 Monaten forme er aus jungen Männern und Frauen echte Leader. «Geteiltes Mühsal» entlade sich in dieser Zeit in «geteilten Enthusiasmus» für das militärische Leben. Sein Ziel: «Führer mit Charakterstärke» hervorzubringen, sagt Banks, so floskelhaft wie emphatisch.
Das sei jemand, der selbst dann das Richtige tue, wenn niemand zuschaue. Ständig müsse er zudem die Losung von West Point im Auge behalten. «Honor, Duty, Country», Ehre, Pflicht und Vaterland. «Nur wer den tiefen Wunsch spürt, Amerika bis zum Tod aufopfernd zu dienen, steht das hier durch», sagt Banks.
Freiheit ist etwas gefährliches. Da ist was dran.
Freiheit abzugeben ist hart. Aber damit kann man etwas erreichen.