Von Peter Hossli
Eine jüngst veröffentliche Studie belegt den subjektiven Eindruck. Wer derzeit in Amerika im Supermarkt einkauft oder bei McDonald’s einen Hamburger isst, staunt: Hier arbeiten viele Alte. Sie nehmen Bestellungen für Fritten auf oder packen an der Kasse Salatköpfe ein. Nicht aus Langeweile, sondern aus schierer Not binden pensionierte Frauen und Männer die Schürze um. Die seit drei Jahren schrumpfenden Aktienmärkte haben deren Rente reduziert und in nicht wenigen Fällen sogar ausgelöscht.
Der 35 Millionen Mitglieder umfassende Seniorenverband Aarp beurteilt die Situation in einem Mitte Dezember veröffentlichten Bericht als «ernüchternd». Der Kursverlust an den US-Börsen – in drei Jahren fast 8000 Milliarden Dollar – zwinge amerikanische Seniorinnen und Senioren, «trotz Pensionierung wieder zu arbeiten, die Pensionierung zu verschieben oder ihren Lebensstil zu ändern», heisst es im Bericht. «Der Einschnitt ist oft markant», sagt Aarp-Sprecher Jeff Love. «Die Senioren kaufen weniger, streichen Ferien und ziehen in billigere Wohnungen um.»
«Die Pensionierung ist schlicht keine Option mehr»
Dabei hat Amerika die Alten erst kürzlich als kaufkräftiges Marktsegment entdeckt. So locken luxuriöse Alterssiedlungen in Florida oder in Arizona Börsenmillionäre in die Wärme. Jetzt geben 13 Prozent der von Aarp befragten 55- bis 70-Jährigen an, sie müssten wegen der Börsenverluste ihre Pläne ändern und im Norden statt im Süden in Pension gehen.
Wenn es denn zur Pensionierung kommt. Zwanzig Prozent der Befragten sagten, sie müssten ihre Pensionierung verschieben oder würden vorderhand gänzlich darauf verzichten. Der Grund: Mehr als Dreiviertel haben durchschnittlich 25 Prozent ihres Altersguthabens verloren. Neun Prozent kam sogar mehr als die Hälfte abhanden.
Gerade noch 31 Prozent der älteren Amerikaner glauben, mit 65 die Arbeit niederlegen zu können. Gleichzeitig haben drei Prozent der bereits Pensionierten seit vergangenem März wieder eine Stelle angetreten. Wäre der Arbeitsmarkt entspannter, würden es noch mehr sein. Laut Aarp suchen nämlich zwölf Prozent der Rentner einen Job. «Für viele Amerikaner ist die Pensionierung schlicht keine Option mehr», sagt Sprecher Love.
Diesen Befund bekräftigte die Versicherungsgesellschaft Sun America letztes Jahr mit einer Studie. Die Hälfte aller Pensionäre lebt demnach «in ständiger Angst vor dem finanziellen Notstand».
Die Krise resultiert von einer Umschichtung in der Altersvorsorge, weg von festen Pensionen und hin zu steuergünstigen Anlagen an der Börse. Mitte der Siebzigerjahre hatten 29 Prozent der Amerikaner eine fixe Pension und bloss vier Prozent ein so genanntes 401(k)-Konto, eine wachstumsorientierte Anlage mit Aktien und Fonds. Heute setzen für den Lebensabend bloss noch 17 Prozent auf feste Pensionen, jedoch 21 Prozent auf 401(k)-Konten.
Steigt die Börse, bringt das durchaus Vorteile: Die Firmen haben weit weniger administrativen Aufwand, und die Angestellten können Geld mit geringerer steuerlicher Belastung zur Seite legen. In den Neunzigerjahren lag der durchschnittliche Zuwachs bei 18 Prozent pro Jahr. Wer mit 37 ein Vermögen von 100 000 Dollar anlege, lautete eine von den Banken und Versicherungen werbewirksam verkündete Standardrechnungen, würde sich mit 49 zur Ruhe setzen – und trotzdem jährlich 70 000 Dollar Einkommen kassieren. Das Reich der Schlar-Affen schien gekommen.
Gerade mal 25 000 Dollar auf der hohen Kante
Diesen Traum hat die Börse in einen Albtraum verwandelt. Nun droht ein Heer armer Alten. Durchschnittlich haben die 55-Jährigen Amerikas nämlich gerade einmal 25 000 Dollar auf der Seite, nicht eingerechnet sind deren Schulden. Die betragen im Schnitt 38 000 Dollar pro Amerikaner, ob Baby oder Pensionär.
Eine Rückbesinnung auf feste Pensionen kommt derzeit kaum in Frage. Gemäss einer Studie von Merrill Lynch klafft bei den 500 im Standard-&-Poor’s-Index zusammengefassten Unternehmen bei den Firmenpensionen eine Lücke von 458 Milliarden Dollar.
Der Staat kann kaum zur Hilfe kommen. Dessen dafür zuständige Behörde leidet ebenfalls unter der misslichen wirtschaftlichen Situation. Mitte der Siebzigerjahre wurde die Pension Benefit Guaranty Corporation gegründet, eine vom Staat geführte, von den Firmen mit Beiträgen finanzierte Organisation. Sie überbrückt Pensionskassen von bankrotten Firmen. Wegen Megapleiten wie jene von Enron oder Worldcom schreibt die noch 2001 auf einem Vermögen von 22 Milliarden Dollar sitzende Behörde jetzt satte Defizite. Besserung ist nicht in Sicht.
Bleibt der Gang zum Anwalt. Derzeit behandeln US-Gerichte eine Flut von Klagen, die wütende Rentner eingereicht haben. Sie beschuldigen Analysten, ihre von Gier beeinflussten Prognosen hätten ihnen den Ruhestand vergrault.