Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)
Andächtig deutet Hugh Hixon mit gestrecktem Zeigefinger auf den glänzenden Stahlkanister. «Unten rechts liegt mein Vater», sagt Hixon, «bei minus 196 Grad Celsius.» Tot sei sein Senior nicht, beteuert der Sohn, nur «suspendiert», dessen Leben zeitweilig aufgehoben, das Wesen «deanimiert», entseelt. Geduldig wartet der alte Hixon seit 1981 in flüssigem Stickstoff eingelegt auf den atemberaubendsten aller Fortschritte – die Auferstehung. Wie Phönix aus der Asche soll er dereinst aus dem Tiefkühltank steigen.
Vater Hixon ist nicht allein. 53 Suspendierte beherbergt die Alcor Life Extension Foundation in einem klinisch kalten Industriegebäude in Scottsdale, einem Vorort von Phoenix im US-Bundesstaat Arizona. Dazu ein Dutzend Haustiere, vornehmlich Hunde und Katzen. Sofort nach ihrem Ableben wollen sich über 600 weitere Alcor-Mitglieder ins frostige Stickstoffbad legen lassen. Seit die «New York Times» berichtete, dass die im vergangenen Sommer verstorbene Baseball-Legende Ted Williams, 84, in Alcors Stickstoffbad liege, hat die Zahl der Anträge auf Mitgliedschaft sprunghaft zugenommen.
Die Interessenten sind bereit, tief in die Tasche zu greifen. Wer sich von Alcor vom Scheitel bis zur Sohle suspendieren lässt, bezahlt 120 000 Dollar. Immerhin 50 000 kostet es, nur den vom Rumpf gekappten Kopf einzufrieren.
Gar nicht teuer findet das Hixon, ehemaliger Offizier der US-Luftwaffe und heutiger Cheftechniker bei Alcor, dem Marktführer unter den drei amerikanischen Kryonik-Anbietern. «Es ist wie bei der Lotterie: Man weiss nicht, ob man gewinnt. Aber die Belohnung wäre gewaltig.»
Kryonik, nach dem griechischen Wort «kryos» für kalt, ist eine Schöpfung der auf Sciencefiction versessenen Sechziger. «Was immer uns heute tötet», schrieb der Physikprofessor Robert Ettinger 1964 in seinem Kultbuch «The Prospect of Immortality», ob Alter oder Krankheit, «früher oder später werden unsere Freunde in der Zukunft der Aufgabe gewachsen sein, uns wieder zu beleben und zu heilen.» Drei Jahre darauf liess sich der kalifornische Arzt James Bedford suspendieren. 1972 gründete Fred Chamberlain mit Ehefrau Linda die Alcor-Stiftung. Noch immer lagert Alcor den Kälte-Pionier Bedford, den ersten Mann im Eis. «Damals glich das eher einem Theater als echter Medizin», sagt Hixon. Aus Nostalgie behalte man Bedford. «Vielleicht lebt er ja noch», sagt er.
Für den 60-jährigen Hixon ist der Tod nicht mehr als «lästige Pflichtübung». Neben der schwarzen Digitaluhr trägt er ein schmales, stählernes Armband. Es kennzeichnet ihn als Alcor-Mitglied und beinhaltet strikte Anweisungen.
Wird ein Arzt den Tod Hixons festgestellt haben, zählt jede Minute. Stoppt die Durchblutung im Hirn, beginnen sofort chemische Reaktionen die Zellen anzugreifen und in eine schlammige Masse zu verwandeln. Um den desaströsen Zerfall aufzuhalten, wird der Kryo-Patient an eine Herz-Lungen-Maschine angehängt.
Die hält die Blutzirkulation vorerst künstlich aufrecht. Währenddessen leitet ein Team, bestehend aus einem Tierarzt, einem Neurochirurgen und den Technikern, im Operationssaal die Suspension ein. Eher einer Abstellkammer gleicht der Alcor-OP; er ist eng und bescheiden ausgestattet, mit alten Lampen und einer alten Liegefläche. Keine Spur von den ultramodernen Gerätschaften, wie sie zuweilen in Sciencefiction-Spielfilmen vorkommen.
Hixon war bei fast allen Suspensionen dabei. Tröpfchenweise ersetzt er jeweils Blut und Wasser mit einem auf Glyzerin basierenden Frostschutzmittel. Diese Vibrifikation genannte Prozedur soll verhindern, dass das Gewebe in der klirrenden Kälte zu Pulver zerfällt. «Die Zellen werden in eine glasartige Matrix gelegt, was zwischen sechs und acht Stunden dauert», sagt Hixon. Auf Trockeneis gelegt, kühlt der suspendierte und in weisse Plastikblachen verhüllte Körper danach gemächlich auf minus 110 Grad ab. Um ein Grad pro Stunde, damit die Zellen nicht krachen.
Schliesslich zwängt ein Techniker den starren Rumpf in eine enge Aluminiumbox und stopft ihn in einen der mit flüssigem Stickstoff gefüllten Stahlkanister. «Aus Sicherheitsgründen mit dem Kopf nach unten», erläutert Hixon. Verdampfe nämlich der Stickstoff unerwartet schnell, bleibe so der Kopf des starren Patienten – gemäss Kryonik-Lehre das wichtigste Organ – länger intakt. Wird nur der Kopf eingelagert, wird er in einen der Alutöpfe gelegt, die Spaghettipfannen ähneln.
Vor dem blauen Alcor-Gebäude ragen drei Palmen in den klaren Himmel. Die Luft ist trocken, selten regnet es in Arizona. Im Sommer erreichen die Temperaturen regelmässig 40 Grad Celsius. Drinnen ist es geruchlos und permanent 23,5 Grad warm. An der Wand bei der Eingangstür hängen Fotos der tiefgekühlten Patienten. Von Toten spricht hier niemand. Auf den Namensschildern sind Geburts- und Todesjahr eingraviert, mit dem Vermerk «Erster Lebensabschnitt».
Hixon führt in den mit Plastik abgedeckten Operationssaal. Überall hängen Zettel mit der Aufschrift «A – 1235. Keine bekannte ansteckende Krankheit». «A – 1235 liegt im Sterben. Jeden Moment kann er eintreffen.» Hixon hat den Operationstisch gereinigt, die Behälter mit dem Frostschutzmittel nachgefüllt und die Herz-Lungen-Maschine überprüft. Die Presse ist von Suspensionen immer ausgeschlossen. Zu grauslich und negativ fürs Image wäre wohl eine Enthauptung. Mittels Video zeichnet Alcor jedoch alles auf. Dereinst sollen die Patienten ihr vorübergehendes Ende bewundern können.
Hixon selber ist überzeugt, dass er durch Alcor nur gewinnen könne. «Die Menschen in weiter Ferne holen uns nur in eine friedliche Welt», sagt er. «Ist die Welt feindselig, lässt man mich im Tank.»
Warum ist er so sicher, dass es klappt? «Darum», sagt Hixon und kippt im fensterlosen OP den Lichtschalter zweimal um. Es wird dunkel, dann wieder hell. «Mitten in der Nacht kann ich ohne Sonne Licht machen. Technologie funktioniert», sagt er, «immer.» Rechnerleistung oder Herztransplantationen führt er als Beweise an. «Gottes Wille? Das ist doch ein Witz», sagt Hixon, «seit wir von den Bäumen heruntergestiegen sind, haben wir Gottes Willen stets untergraben.»
Atheistisch sei das typische Alcor-Mitglied und «männlich, gebildet, mit einem hohen Intelligenz-Quotient ausgestattet und vermögend», sagt Dr. Jerry Lemler, 52, der Psychiater, der seit zwei Jahren als Alcor-Geschäftsführer amtet. Die meisten Mitglieder seien zwischen 39 und 62 Jahre alt, fast alle kinderlos. «Männer sind, historisch betrachtet, abenteuerlustiger als Frauen», begründet Lemler den Frauenanteil von weniger als dreissig Prozent. Kryonik sei «das ultimative Abenteuer».
Er sitzt in einem engen Büro, die gelbe Krawatte ist etwas zerknittert, das weisse Hemd bedeckt den dicken Bauch. Seine Frau und seine Tochter sowie der Schwiegersohn haben ihre Körper ebenfalls Alcor vermacht.
Detailliert schildert Lemler, wie der-einst neue Körper unter eingefrorenen Köpfen nachwachsen werden. Wie die drei hauptsächlichen Kryonik-Probleme – die Heilung von Krankheiten, der Alterungsprozess, die Reparatur des zerstörten Zellmaterials – behoben werden würden. «Nah dran» sei man, das Altern zu stoppen. Jüngst noch futuristisch anmutende Praktiken wie das Klonen, die Nanomedizin oder Stammzellforschung verzeichneten Fortschritte. «Ich bin optimistisch, Zellen nachbauen zu können.»
Lemler schloss seine Praxis in Tennessee und verzichtet auf achtzig Prozent seines Gehalts, «für die wichtigste Aufgabe meiner Karriere». Zuvor habe er versucht, Leben zu verlängern. «Jetzt habe ich die Möglichkeit, Leben zu retten.»
Kraft schöpfe er aus privaten Arzt- visiten. Oft gehe er «ganz allein» in den kleinen Lagerraum, zu den acht drei Meter hohen, runden Kanistern. Dort verbringt Lemler «viele kostbare und intime Stunden mit meinen Patienten». Bewusst werde ihm dann: «Ich bin deren einzige Stimme und muss mich für deren Rechte einsetzen.» Eine «noble Sache», sagt Lemler.
Er glaube nicht, er wisse, die letzte Hürde sei zu nehmen. «Wir wecken ja keine Toten auf», sagt er, «das ist ein Problem Gottes. Unsere Patienten leben.»
Zuweilen reisen Beinahtote in die Wüstenstadt, um dort unmittelbar nach dem Ableben mit Frostschutzmittel abgefüllt und in bitterkaltem Stickstoff eingemottet zu werden. Andere schickt das örtliche Beerdigungsinstitut per Flugfracht zum lokalen Flughafen von Scottsdale, wo der Alcor-Krankenwagen den Leichnam sofort abholt. Es soll rasch gehen. Gemäss Kryonik-Glaube kann das Gedächtnis bis zu 24 Stunden nach dem Herzstillstand be-wahrt werden. Nachher spielt die Zeit keine Rolle mehr. «Es ist egal, ob wir 100 oder 1000 Jahre aufs Auftauen warten müssen», sagt David Pizer, ein Immobilienhändler, der in Phoenix lebt und seit zwanzig Jah-ren Alcor angehört. «Ähnlich wie nach dem Tiefschlaf werden wir beim Aufwachen nicht wissen, wie lang wir weg waren.»
Vor zehn Jahren überzeugte er Gattin Trudy vom endlosen Glück in der Zukunft. «Wir haben uns entschieden, immer beisammenzubleiben», sagt Trudy. Einsam wird sich das kinderlose Paar dabei kaum fühlen. Die Tierfreunde haben zwei dänische Doggen und einen Mini-Bullterrier einfrieren lassen, «recht günstig», sagt David. Er krault den Nacken seiner schwarzen Dogge, des Alcor-Mitglieds und kalbgrossen Hunds «Albert». Trudy züchtet Pferde und prüft derzeit, ob sich auch Hengste suspendieren lassen.
Wissenschaftlich steht die Praxis auf wackligen Beinen. Seriöse Kälteforscher lächeln: Wer tot sei, sei tot. Tauversuche mit Tieren scheiterten kläglich. Das verabreichte Frostschutzmittel ist giftig.
Nicht nur deshalb kriselte es jüngst bei den Kryonikern. Gegen Alcor lief eine inzwischen eingestellte Untersuchung wegen Mordes. Es hiess, sie hätten jemanden bei lebendigem Leib suspendiert. Ein anderer Anbieter in Kalifornien ging mangels neuer Kunden Pleite. Deren Gefriergut liess man auftauen – und bestatten.
Da kam der Tod von Sportlegende und Alcor-Mitglied Ted Williams gerade richtig. Das enorme Interesse veranlasste die Firma, an etlichen Orten Amerikas Gefrierfächer einzurichten und international zu expandieren. Künftig sollen sich etwa Australier oder Briten in ihrem Heimatland einfrieren lassen, was die Dauer zwischen Tod und Suspension verringere.
Lemler hofft, ein Gesetz werde die bisher nicht regulierte Praxis legitimieren. Im Gegensatz zu Frankreich und dem kanadischen Teilstaat British Columbia, welche die Kryonik untersagen.
Er ist bemüht, den Betriebsaufwand zu minimieren. Der Stickstoff, den ein Tankwagen alle vierzehn Tage liefert, schlägt monatlich mit rund 2000 Dollar zu Buche. Allein die jährliche Gebühr der Mitglieder deckt diesen Aufwand zehnfach.
97 Prozent aller 600 Mitglieder haben Lebensversicherungen zu Gunsten von Alcor abgeschlossen. Potenziell sitzt die Stiftung auf einem Vermögen von nahezu 70 Millionen Dollar. Mehr als die Hälfte der Suspensions-Gebühr fliesst in einen Anlagefonds, der die Reanimierung und die Langzeitlagerung sichern soll.
Neu können Kryoniker ihr Vermögen mit in die Zukunft nehmen. Statt den Nachkommen zu vererben, speisen sie ihr zu Lebzeiten verdientes Geld ebenfalls in den Alcor-Fundus – vermeintlich nützliches Startkapital für die etlichen Männer und Frauen, die dereinst aus der Kälte kommen. Wenn sie denn kommen.
Alcor-Kritiker
Seriöse Wissenschaftler halten wenig von der Praxis, Tote einzufrieren in der vagen Hoffnung, sie würden dereinst auferstehen. Gar «betrügerisch» nennt dies der Professor für biomedizinische und medizinische Ingenieurwissenschaften der University of Minnesota, John Bischof.
«Ausgesprochen effektiv» zerstörten tiefe Temperaturen Zellmaterial, sagt Bischof. Er ist Mitglied der Society for Cryobiology, dem grössten Verbund von Wissenschaftlern, die sich mit Kältetechnologie befassen.
Ausdrücklich distanziert hat sich die Gruppe von den Eisleichen in der Wüste. Kryonik mangele es an «jeglichen wissenschaftlichen Grundlagen», sagt Bischof, der mit dem Schweizer Kälteforscher Franz Schmidlin vom Genfer Universitätsspital versucht, mit extremer Kälte Krebsgeschwüre auf Prostata und Nieren zu tilgen. Wolle man mit Kälte etwas bewahren, müsse jede Zelle einzeln behandelt werden. Bis anhin sei es nur gelungen, kleine Zellklumpen zu gefrieren und unbeschadet aufzutauen. Als «gleich null» bezeichnet er aber die Chance, grössere Organe über längere Zeit tiefgefroren zu konservieren. Sogar Zellen, die das Gefrieren überleben, sterben auf Grund des Apop-tosis-Prozesses: Sie geraten bei grosser Kälte unter Stress und vernichten sich selbst.
Mit einem Kult, «der es aufs Geld abgesehen hat», vergleicht deshalb Forscher Bischof die Stiftung Alcor. Etwas Positives mag er ihr trotzdem abgewinnen: «Alcor verleiht den Religionslosen ein bisschen Hoffnung auf ein Leben danach.»