Asbest geht um

Früher waren ahnungslose Arbeiter die Opfer. Jetzt killt Asbest reihenweise Firmen - in US-Justizgrotesken. Investor Warren Buffett spricht von der grössten Bedrohung der Weltwirtschaft. Die Rede ist nicht von Terrorismus, von Vertrauensschwund oder vom Irakkrieg, sondern von Asbestklagen und der entfesselten US-Juristerei.

Von Peter Hossli

Die meisten Angestellten des US-Konglomerats hatten ihre Pensionskassengelder in Firmenaktien angelegt. Dann sackte deren Wert um 99 Prozent ab. Schliesslich ging die Firma Bankrott – und die Altersvorsorge flöten.

Eine weitere Episode zur Enron-Pleite? Nein, das Szenario spielte sich bei Federal-Mogul ab, einem Hersteller von Autobestandteilen.

Aber nicht eine aufgedonnerte Buchhaltung, sondern hunderttausende von Asbestklagen trieben Federal-Mogul in den Konkurs. Als die Firma im Oktober 2001 den Bankrott beantragte, waren ihre Anwälte mit rund 360 000 Asbestklagen beschäftigt. Jährlich 400 Millionen Dollar hatte Federal-Mogul für aussergerichtliche Einigungen zu entrichten – obwohl die Firma das Isolier- und Brandschutzmaterial Asbest weder produziert noch verkauft hatte. Die Manager von Federal-Mogul hatten bei einer Firmenübernahme das zugekaufte Asbestrisiko schlicht unterschätzt.

Und dann setzte der berüchtig- te Domino-Effekt des US-Schadenersatzklagesystems ein. Denn ist dieses nimmersatte Monster erst einmal freigesetzt, frisst es sich bis aufs Gerippe aller direkt und indirekt betroffenen Firmen.

Auch die grössten Konzerne sind in der Schusslinie

Das geht so: Von Asbestklägern in die Enge getriebene Firmen reichen zum Schutz Konkurs ein und bringen so den Schneeball ins Rollen. Klagen wandern weiter. Anwälte greifen immer grössere Unternehmen an. Mittlerweile sind kapitalkräftige Industriekonzerne wie General Motors, Exxon Mobil oder Pfizer betroffen.

Nahezu 80 Prozent der im Dow-Jones-Index zusammengefassten Unternehmen haben mittlerweile mit Asbestklagen zu kämpfen. «Je nach Entwicklung – und ohne Änderungen der gesetzlichen Grundlage – könnte der volkswirtschaftliche Schaden enorm werden», sagt der Analyst der Zürcher Kantonalbank Mark Diethelm. Bisher mussten bereits mehr als 60 US-Firmen wegen des Asbests Konkurs anmelden.

Während europäische Konzerne wie ABB die Folgen der Klageflut herunterspielen, verdeutlichen die vergangenen zwanzig Jahre den Ernst der Lage. Verantwortlich ist nicht zuletzt die US-Rechtsprechung. Diese sieht bei Schadensfällen eine gemeinsame Haftung aller beteiligten Unternehmen vor.

Das heisst, Klagen verschwinden nicht, sie werden weitergereicht. Schützt sich eine Firma mit einer Pleite, stürzen sich hungrige Anwälte auf die nächstliegende Beute – und höhlen ein weiteres Unternehmen aus. Federal-Mogul wurde erst zum Ziel, als etliche weit direkter involvierte Firmen aufgegeben und Konkurs angemeldet hatten. Im vergangenen Jahr fielen deswegen neun US-Firmen, heuer waren es bereits deren elf.

Erste Asbestklagen tauchten in den USA in den Siebzigerjahren auf. Der Wärmedämpfer löst verschiedene, in gewissen Ausprägungen tödliche Krebsarten aus. Eine halbe Million Menschen wird daran sterben.

Ein Berufungsgericht installierte damals die Praxis der gemeinsamen Haftung. Darauf liess ein Heer von Anwälten mit Röntgenapparaten ausgerüstete Lastwagen übers Land verteilen, um Millionen von Arbeitern testen zu lassen. Wer ein Röntgenbild erstellte, klagte automatisch.

Wegen der ausgesprochen langen Inkubationszeit – zwischen 25 und 50 Jahren – klagten auch Patienten ohne Symptome. Zuweilen mit bizarrem Erfolg. 1982 erstritt ein Anwalt in South Carolina eine Million Dollar Schadenersatz für einen Werftarbeiter, der zwar Asbest ausgesetzt gewesen war, bei dem aber keinerlei Anzeichen von Krebs entdeckt wurden. Der Arbeiter kassierte ein Schmerzensgeld, weil er mit der Krebsangst zu leben hatte.

Das Verdikt wurde zum Präzedenzfall – und trieb die Klagezahl von nur leicht oder gar nicht betroffenen Personen in astronomische Höhen. Um sich gegen die 16 000 Klagen zu schützen, beantragte im selben Jahr der bedeutendste US-Hersteller von Asbest, die Johns Manville Corporation, Gläubigerschutz.

Das Spiel, bei dem keiner gewinnen kann, begann. Das verbleibende Vermögen der Pleitiers wurde veräussert und in Fonds angelegt. Es dauert Jahre, bis Patienten Geld sehen, wenn überhaupt. Nach dem Konkurs wurde Johns Manville in zwei Firmen aufgeteilt, eine mit, eine ohne Asbestfälle. Belangt werden konnte der vermögende Teil des Unternehmens, der rund ein Drittel aller US-Asbesterkrankungen zu verantworten hatte, nicht mehr. Die Opfer sahen nur einen Bruchteil des einst versprochenen Betrags.

In den nächsten zwanzig Jahren spürten Anwälte solvente Firmen auf, die irgendwie mit Asbest in Verbindung kamen – als Zulieferer, Wiederverkäufer oder Firmen, die Asbestproduzenten übernommen hatten. Der Feldzug gipfelte jüngst in Klagen gegen das Kunststoffunternehmen 3M, bekannt etwa für Post-it-Notizzettel. Angeblich wehren 3M-Schutzbrillen die Mikrofasern ungenügend ab.

Es geht mittlerweile um hunderttausende von Klagen

Nur zaghafte Erfolge verzeichneten bisher Bemühungen, weniger drastische Asbestfälle von Klagen auszuschliessen. Wegen der Verjährungsfrist von zehn Jahren nimmt dafür die Zahl der Klagen wieder sprunghaft zu. Bei ABB stieg sie allein im ersten halben Jahr 2002 von 92 000 auf insgesamt 102 700 Klagen. ABB erbte die Last 1998 durch die Übernahme der US-Firma Combustion Engineering.

Der konservative Anlageguru Warren Buffett nennt Asbest die «grösste Gefahr» der Industrie. Analysten warnen, die Asbestklagen richteten mehr Schaden an als Enron. Gespannt wartet die Industrie einen Prozess in West Virginia ab, bei dem Ende September 8000 Klagen zusammengefasst werden. 250 Unternehmen sind angeklagt.

Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Schätzungsweise 200 000 einzelne Klagen sind derzeit hängig. Die Versicherungsstatistikfirma Tillinghast-Towers Perrin bemisst die Kosten auf 200 Milliarden Dollar, wobei Versicherungen rund 122 Milliarden, die beklagten Firmen 78 Milliarden Dollar tragen. Andere Experten gehen von 265 Milliarden Dollar aus. Bisher wurden rund 570 000 Klagen eingereicht. Gerechnet wird noch mit 1,3 bis 3,1 Millionen Klagen.

 

Asbestopfer

Eine Auswahl der 60 US-Firmen, die bisher wegen Asbest Konkurs eingereicht haben:

· Babcock & Wilcox

· W. R. Grace

· Pittsburgh Corning

· G-I Holdings (ehemalig GAF Corp)

· Owens Corning

· Armstrong World Industries

· USG Corp

· Federal-Mogul’s Corp.

 

Die ABB gerät in die Milliardenfalle

Insgesamt zwei Milliarden Dollar müsse ABB für die Schlichtung ihrer 102 700 Asbestklagen zahlen, schätzt der Analyst der Zürcher Kantonalbank, Mark Diethelm, in einem ausgeklügelten Analysemodell. Während der schweizerisch-schwedische Mischkonzern Rückstellungen von nur einer Milliarde Dollar gebildet hat, gehen andere Schätzungen sogar von fünf Milliarden Dollar aus, welche ABB in den USA an Asbestopfer entrichten müsse.

Die enormen Unterschiede stammen von den verschiedenen Variablen, die ein Analysemodell beeinflussen.

Einzelne Analysten rechnen mit Zahlen von Gerichtsentscheiden, denn die sind öffentlich zugänglich und real. So erhielt im vergangenen Jahr ein Arbeiter in Texas 11,1 Millionen Dollar zugesprochen. Mittlere Fälle erhalten vor Gericht gegen 200 000 Dollar, die leichten werden mit 4000 Dollar abgeschlossen.

Im Fall der ABB käme man in diesem Modell auf Kosten von über 12 Milliarden Dollar. Laut Diethelm sind das aber Ausnahmefälle. Bei Settlements lägen die Zahlen viel tiefer.

Eine weitere Komponente ist die Versicherungsdeckung. Sie nimmt konstant ab. Bei ABB lag sie im Jahr 2000 bei 38 Prozent, im vergangenen Jahr sank sie auf 32 Prozent. Ein Trend, der anhalten dürfte.