Schnupfengefahr für Novartis

Der umstrittene Wirkstoff PPA beschert in den USA mehreren Pharmaunternehmen eine Klagenflut. Ein banales Erkältungsmittel bringt in den USA Novartis in die Bredouille. Obgleich Alternativen vorhanden waren, verzichtete der Pharmakonzern zu spät auf den umstrittenen Wirkstoff dieses Schnupfenmittels. Es wird gar mit Todesfällen in Verbindung gebracht. Nun hagelt es Klagen.

Von Peter Hossli

Bitterkalt ist der Winter in Maine. Am 15. Februar 1996 frühmorgens hustet Nancy Rovito plötzlich stark. Der Fiebermesser zeigt erhöhte Temperatur an. Nichts Besonderes, denkt sie sich. Im Badezimmer findet sie eine Packung Tavist-D, die ihr Mann in der Drogerie gekauft hatte – für solche Fälle. Am selben Tag erleidet die 35-jährige Frau aus Bangor einen Hirnschlag.

Andere habens nicht überlebt. Eine einzige Dosis Tavist-D hatte die 58-jährige Mary Louise Ziolkowski zur Behandlung einer Erkältung eingenommen. Die ansonsten gesunde Frau starb kurz darauf an einer Hirnblutung. Ihr Ehemann Alexander Ziolkowski verklagte den Hersteller im vergangenen Jahr wegen «wrongful death».

Kürzlich hat auch Nancy Rovito die Novartis Consumer Health Inc. belangt. In der 22 Seiten langen Klageschrift fordert ihr Anwalt nicht nur Schadenersatz, sondern zusätzlich eine Strafbusse.

Bereits sind hunderte von Klagen eingereicht worden

Wegen Tavist-D und anderen Medikamenten mit dem gleichen Wirkstoff sind in den USA in den letzten anderthalb Jahren vorerst rund 250 Klagen gegen Novartis oder deren Töchter eingereicht worden. Auch Bayer, Schering-Plough oder American Home Products sehen sich mit ähnlichen Klagen konfrontiert. Nur Bayer aber hat noch mehr Klagen am Hals als Novartis, nämlich 366. Die Pharmakonzerne haben Arzneien, vorab Erkältungs- und Allergiemittel, vertrieben, welche den Wirkstoff Phenylproanolamin (PPA) enthalten, ein Amphetamin-ähnliches Betäubungsmittel, das auch zu Dopingzwecken eingesetzt werden kann.

Da in zahlreichen US-Staaten fast identische Anschuldigungen erhoben worden sind, hat man sie in einer Multi-District Litigation (MDL) gebündelt und einer einzigen Richterin in Seattle übergeben.

In einer schriftlichen Stellungnahme liess Novartis verlauten, es gebe «keinerlei Grundlage» für die erhobenen Anschuldigungen. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen PPA und den angeblichen Verletzungen. «Energisch» werde Novartis ihre Interessen verteidigen. Weiter wollte sich die Firma zum Fall nicht äussern, da das Verfahren noch hängig sei.

Primär wird sich Richterin Barbara Jacobs Rothstein mit der Frage befassen, wie viel und ab wann die beklagten Parteien über die Gefahren wussten und wie umfassend sie darüber informierten.

Sie hätten schon lange einiges über die Nebenwirkungen gewusst und nichts gesagt, heisst es in zahlreichen Klageschriften. So seien seit 1979 über 30 wissenschaftliche Artikel publiziert worden, die auf schwer wiegende Nebenwirkungen von PPA hinweisen. 1983 kam dann auch von offizieller Seite die erste Warnung. Die US-Nahrungsmittel- und Medikamentenbehörde FDA hielt damals fest, dass PPA den Blutdruck erhöht.

Diesen Warnungen zum Trotz begann die Novartis-Vorgängerin Sandoz 1992 in den USA Tavist-D als rezeptfreies Mittel anzubieten, nachdem es schon lange als verschreibungspflichtiges Produkt auf dem Markt gewesen war. Tavist avancierte nach einer 40 Millionen Dollar teuren Kampagne zum erfolgreichsten frei verkäuflichen Produkt der Firma: Ein Jahr nach seiner Einführung erzielte es einen Umsatz von 100 Millionen Dollar – davon waren 80 Prozent Gewinn.

Erst Ende 2000 zog Novartis sechs PPA-Produkte vom Markt ab. Die FDA hatte dringend dazu geraten. In einer Pressemitteilung stellte der Konzern gleichentags PPA-freie Erkältungsmittel vor. Diese wurden im April 2001 in den USA lanciert.

Novartis hält die US-Gerichte für nicht zuständig

Vertreten werden die mehreren hundert Kläger gegen die genannten Pharmafirmen von Lance Palmer. Eine globale Schadensumme nennt er nicht. Da PPA ein Wirkstoff ist, der in zahlreichen Medikamenten zur Anwendung gekommen ist, rechnet er damit, dass es bald einmal mehrere tausend Klagen geben wird. «Es dürfte Klagen geben, die mehrere Millionen bringen, andere werden abgewiesen werden», sagt Palmer. Es obliegt der jeweiligen Jury, nach einem Schuldspruch die Höhe des Schadenersatzes und einer Strafzahlung festzulegen. Erste Prozesse dürften im Sommer 2003 über die Bühne gehen.

Noch ficht Novartis die US-Gerichtsbarkeit an. US-Gerichte seien nicht zuständig, weil ein Grossteil der Forschung für die besagten Medikamente in der Schweiz getätigt worden sei. Eine gefährliche Strategie, sagt Kläger-Anwalt Palmer. Bereits sei eine erste Motion von Novartis, die Klage nicht zuzulassen, abgeschmettert worden. «Falls Novartis, wie zu erwarten, mit einbezogen wird, öffnet das Tür und Tor für weit mehr Klagen.»

Da niemand wissen kann, mit wie vielen Klagen sich die Basler letztendlich herumschlagen müssen, ist es schwierig, den Gesamtschaden abzuschätzen. Novartis ist allerdings im Fall Tavist-D schon einmal zur Kasse gebeten worden. Im Dezember 1999 zahlte das Unternehmen im Rahmen eines von einem Gericht in Rochester N. Y. abgesegneten Vergleichs 1,3 Millionen Dollar an die Geschädigte Odell Buggs – mit der Auflage, Stillschweigen zu wahren. Ihr Anwalt David Rheingold schätzt, dass die PPA-Angelegenheit Novartis und Konsorten Milliarden von Dollar kosten könnte. Die Zahl der Klagen steige rapide. Er vergleicht den Fall mit dem Phen-Fen-Skandal (Appetitzügler). Der Hersteller AHP hatte in einem Vergleich 3,75 Milliarden Dollar bezahlen müssen.

«Das Ganze ist ein Schulbuchbeispiel dafür, wie es einer machtvollen Industrie gelingt, eine objektive Beurteilung eines wichtigen Arzneiwirkstoffes zu verhindern, wenn sie es darauf ankommen lassen will», urteilte der ehemalige Kongressabgeordnete und heutige Senator Ron Wyden. Schon 1990 hatte er sich als Kongressmann in Hearings mit den Risken von PPA auseinander gesetzt.