Bombenblender

Der publik gewordene Atomwaffen-Report bringt vor allem eins ans Licht: George W. Bush ist jedes Mittel recht, um in die eigene Tasche zu arbeiten.

Von Peter Hossli

Was Michael Gerson schreibt, bewegt die Welt. Der 38-jährige Redenschreiber, der ein Team von sechs präsidialen Autoren leitet, legt George W. Bush die öffentlich gesprochenen Worte in den Mund. Ihm obliegt die knifflige Aufgabe, Bushs Reden mit markigen, schlagzeilenträchtigen Phrasen anzureichern und den Satzbau dem nicht allzu eloquenten Naturell des US-Präsidenten anzupassen.

Anfang dieser Woche ist Gersons Arbeit meisterhaft geglückt: Als «Tag der Entscheidung» bezeichnete Bush ein halbes Jahr nach den Terrorattacken den 11. September. «Zur Wut und zum Handeln» sei die zivilisierte Welt damals angetrieben worden. Substanziell blieb Bush seiner zuvor bereits mehrfach aufgetischten Losung treu – der Krieg gegen den Terror sei global und werde lange dauern. Entweder man kämpfe an der Seite Amerikas, oder man werde selbst zum Ziel.

Mancherorts löst das unilaterale und kriegerische Treiben Kopfschütteln aus. Entrüstet reagierte die Welt auf die Enthüllung eines geheimen Pentagon-Berichts, worin die US-Regierung radikal mit der Abschreckungsdoktrin des Kalten Krieges bricht. Die «Los Angeles Times» bekam den Geheimreport mit dem Titel «Nuclear Posture Review» durch ein Leck innerhalb der Bush-Regierung zugespielt – ein seltenes Ereignis, denn der Präsident verabscheut Indiskretionen.

Laut diesem durchgesickerten Bericht sollen Atomwaffen nicht mehr nur als strategische Abschreckung dienen, sondern in Zukunft gezielt in regionalen Konflikten zum Einsatz kommen. Konkret habe Bush das Pentagon angewiesen, Pläne für den Einsatz von Atomwaffen gegen China, Russland, Irak, Nordkorea, Iran, Libyen und Syrien zu erarbeiten. Ausserdem sollen Mini-Atomwaffen für bestimmte Gefechtslagen entwickelt werden.

Den Einsatz dieser Waffen knüpft der Bericht an drei Bedingungen: Angriffsziele – etwa besonders stabile Bunker – können erstens mit herkömmlichen Waffen nicht bekämpft werden. Oder die Amerikaner werden mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen angegriffen. Oder – drittens – es entwickelt sich eine «überraschende militärische Lage». Ausdrücklich nennt der Report lokale Konflikte wie den Nahost-Krieg, einen Angriff Nordkoreas auf Südkorea oder einen Angriff Chinas auf Taiwan als mögliche Auslöser für Atomschläge.

Experten für Nuklearstrategie bewerten das Papier unterschiedlich. Für Joseph Cirincione von der liberalen Carnegie Endowment for International Peace ist der Bericht «reines Dynamit»: Sollten Atomwaffen tatsächlich zum Einsatz kommen, wären Krisenherde wie Afghanistan bald von Strahlung verseucht. Flüchtlingsströme ungeahnten Ausmasses würden sich in Bewegung setzen; die Dritte Welt würde nicht nur soziale Wüste bleiben, sondern grossräumig in eine Nuklearwüste verwandelt.

Auf der anderen Seite halten konservative Experten entgegen, die USA hätten sich eben auf alle Eventualitäten vorzubereiten: Jack Spencer von der Heritage-Stiftung in Washington erklärte der «Los Angeles Times», der Bericht überrasche ihn keineswegs. Dargestellt werde lediglich «die richtige Art und Weise, eine Nuklearpolitik für die Welt nach dem Kalten Krieg zu entwickeln».

Aussenminister Colin Powell versuchte in den letzten Tagen, die Gemüter im Ausland zu beruhigen. Das Geheimpapier sei lediglich Ausdruck «vernünftiger konzeptioneller Planung», und die USA wollten in keinem Szenario der nahen Zukunft Atomwaffen einsetzen, sagte er dem amerikanischen Fernsehen.

In den USA selber wirft der Bericht keine hohen Wellen. Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage stehen 82 Prozent der Bevölkerung hinter Bush und seinem Kabinett. Gar 88 Prozent heissen den jetzigen Krieg gut. Das bedeutet gute Nachrichten für die Regierungspartei: Solange US-Truppen für Frieden und Freiheit einstehen, scheinen republikanische Siege bei den Kongresswahlen im November sowie der Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 sicher. Im Übrigen, unterstreicht der Politologe Walter Mead, entspricht das jetzige Verhalten der Grossmacht durchaus der historischen Norm. «Wird Amerika auf eigenem Boden getroffen», sagt Mead, «schlägt es rücksichtslos zurück.»

Allerdings vertritt Bush mit seiner Kriegspolitik nicht nur universale Werte wie Frieden und Freiheit. Er verfolgt durchaus auch eigensinnige Ziele: Die immer rascher drehende Rüstungsspirale bereichert direkt seine Familie sowie etliche ehemalige Mitglieder republikanischer Regierungen. Nicht etwa George W. Bush regiere das Land, «es ist die Carlyle Group», sagte eine Vertreterin des New-Yorker Think Tanks Council on Foreign Relations. Eine Meinung, die auch der Direktor des unabhängigen Center for Public Integrity, Charles Lewis, teilt. «Zum ersten Mal steht der Vater eines US-Präsidenten auf der Lohnliste eines Rüstungsherstellers.» Die Investmentfirma Carlyle verwaltet 12,5 Milliarden Dollar, ist in 55 Ländern tätig und investiert vorwiegend in Waffen-, Luftfahrt- und Kommunikationsbetriebe. Golfkrieger und Präsidentenvater George Herbert Walker Bush fungiert als deren wichtigster Lobbyist. Bush juniors Rüstungsinvestitionen freuen Carlyle und damit auch den Senior. Und nicht nur ihn.

Freunde und alte Bekannte von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney lenken Carlyle. Der Ex-Verteidigungsminister Ronald Reagans, Frank Carlucci, amtet als Geschäftsführer. Die Lobbyarbeit koordiniert James Baker, der zuvor als Aussenminister unter Bush senior und im Dezember 2000 als Wahlkampfmanager von Bush junior diente.

Doch nicht nur Kriegshetzerei und Geschäfte bestimmen die amerikanische Aussenpolitik. Im vergangenen September, kurz nach den Terrorattacken, veröffentlichte Walter Mead dazu ein ebenso faszinierendes wie treffendes Buch: «Special Providence: American Foreign Policy and How it Changed the World».

Das Buch ist eine Blaupause für die aktuelle US-Aussenpolitik: Mead beschreibt diese als riesigen Ozeandampfer, der von vier verschiedenen Kräften gesteuert wird. Eine Kraft kümmert sich um das wirtschaftliche Wohlergehen, die andere um die Verbreitung amerikanischer Werte. Die dritte fokussiert auf die Verteidigung der Demokratie in einer sonst unsicheren Welt. Eine vierte, kriegstreiberische Kraft verlangt nach massiven Gegenschlägen, wenn die USA direkt angegriffen werden. Gegenseitig würden sich die Pole ausbalancieren, sagt Mead. Je nach weltpolitischer Lage und Präsident erlangt eine Kraft die Überhand. Derzeit dominiere die vierte Variante, nach der alles unternommen werde, um die Sicherheit der USA zu garantieren.

«Es herrscht die Mentalität, man müsse Gefahrenherde rücksichtslos ausmerzen», sagt Mead. Weil man glaube, der irakische Diktator Saddam Hussein gefährde die Sicherheit der USA, werde bald der Irak angegriffen.

Ist Krieg, schart sich Amerika hinter den Präsidenten. Die Presse berichtet zurückhaltend. An Universitäten regt sich bis anhin keine ernsthafte Antikriegsbewegung. Politiker, die aufmüpfig sind, wie jüngst der demokratische Senator Tom Daschle, werden zu Miesepetern gestempelt. Bushs smarte Gehilfen verlassen sich ganz auf die Geschichte: Noch nie wurde ein US-Präsident während eines Krieges abgewählt.

Strahlt das Fernsehen allabendlich Bilder kämpfender Soldaten aus, interessieren sich wenige fürs wachsende Budgetdefizit, den Enron-Sumpf, das marode Schulsystem oder die schleppend vorankommende Revision des Krankenkassengesetzes. Allzu sicher sollte Bush sich trotzdem nicht fühlen. Noch immer droht die Rezession. Zwar deuten die Signale auf einen gemächlichen Aufschwung, denn nicht zuletzt die Aufrüstung beflügelt die Wirtschaft.

Doch das ist trügerisch. Wird aufgerüstet, verschuldet sich der Staat, was zu höheren Zinsen führt und die Wirtschaft erneut drosseln kann. Auf Kriege folgen oft noch schlimmere Rezessionen. Dann ist Sprachtüftler Gerson wieder gefragt, um für Bush die nötigen Phrasen zu dreschen.