Hautnah

Schöne Bilder, die Furchterregendes zeigen. Der Kriegsfotograf James Nachtwey lebt mit diesem Widerspruch.

Von Peter Hossli

Von der hektischen Urbanität New Yorks ist im Loft von James Nachtwey nichts zu spüren. Hierher kehrt der US-Fotograf jeweils zurück und erholt sich von seinen journalistischen Reisen durch den Krieg.

Am vergangenen 11. September kam der Krieg in Nachtweys Quartier. Ein paar hundert Meter von dessen Wohnung entfernt zerstörten Terroristen das World Trade Center. Tausende starben. Der Fotograf gehörte zu den ersten Medienschaffenden vor Ort. In seiner Stadt tat Nachtwey, was er in entfernten Ländern jahrelang erprobte – mit der Kamera hielt er fest, zu welchem Gräuel Menschen fähig sind.

Drei Tage später veröffentlichte das US-Magazin «Time» in einer Sondernummer die Bilder. Nachtweys Essay gehört zu den wichtigsten Dokumenten über die Terrorattacken – zu sehen unter www.time.com/ shattered.

Ein Bild Nachtweys fängt einen Sonnenstrahl ein, der sich durch die Asbestwolke gezwängt hat und auf dem geknickten Stahlgerüst reflektiert. Apokalyptisch ist die Szene, in der drei von Staub bedeckte Männer einen Weg suchen. Ergreifend das Bild eines einsamen Feuerwehrmanns, der auf den hohen Trümmerhaufen starrt, in der Hoffnung, Überlebende zu finden.

Seit über 20 Jahren fotografiert Nachtwey Schreckliches, begibt sich mitten in Gefechte. Kaum hatte im Oktober das US-Bombardement in Afghanistan begonnen, reiste er nach Zentralasien.

Das Fotografieren brachte sich Nachtwey in seiner College-Zeit selber bei. Früh entwickelte er einen Sinn für Präzision. «Es gibt niemanden, der genauer ist und mehr von sich verlangt», sagt Scott Vlaun, der für Nachtwey Abzüge macht. Zu Beginn der Siebzigerjahre arbeitete der Autodidakt vier Jahre lang für eine Lokalzeitung. Dann zog er in den Krieg.

Mittlerweile gilt der Perfektionist als einer der führenden Kriegsfotografen. Seine Bilder haben zahlreiche Preise gewonnen. Regelmässig erscheinen sie in «Time», dem Magazin der «New York Times», oder dem «Stern». Jahre- lang war er Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum – bevor er im Herbst zusammen mit anderen die Agentur VII gründete. Früher noch legte er sich ein neues Label zu. Er nennt sich Antikriegsfotograf.

Weit mehr noch als dieser semiotische Wandel spiegelt Nachtweys bisheriges Meisterstück ein gravierendes Dilemma.

Als «am schönsten fotografiertes Buch über den Tod» bezeichnete der «Boston Globe» Nachtweys vor zwei Jahren veröffentlichtes «Inferno», eine Sammlung von 480 grossformatigen Schwarzweissbildern. Es enthält neun Geschichten aus den Neunzigerjahren; sie ergeben mit den Bildern einen erschütternden Einblick in das Grauen der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts. Ein Bildband, den man nicht durchblättern kann, sondern aushalten muss. In Bosnien, Kosovo, Somalia oder dem Sudan setzt Nachtwey Konfliktopfer in perfekte Kompositionen.

Hoffnungslos blicken Waisenkinder in die Kamera. Ein ausgehungerter Sudanese kriecht nackt über den vertrockneten Boden. Nachtwey drückt auf den Auslöser. Oder von nah zeigt er die von einer Machete verursachten Narben am Kopf eines Hutu.

Wie sehr die Bilder erschüttern, sie sind auch Teil seines professionellen Widerspruchs: Der Fotograf profitiert vom Schrecken, den er makellos zeigt. Kritikern entgegnet er, die Fotografie würde auf vergessene Kriege aufmerksam machen und Dialoge auslösen.

Der Schweizer Christian Frei drehte einen Dokumentarfilm über Nachtwey. Um dessen Arbeitsmethode möglichst authentisch zu filmen, setzte Frei neuartige Minikameras ein, die er an Nachtweys Fotoapparat montierte. Dadurch wird dem Publikum die Perspektive des Kriegsreporters hautnah vermittelt.

«Weil es notwendig ist»

James Nachtwey – Der preisgekrönte Fotograf fühlt sich verpflichtet, der Welt die ungeschönte Wahrheit zu zeigen.

Interview: Peter Hossli

James Nachtwey, wie haben Sie auf die Nachricht vom Tod Ihres entführten Kollegen Daniel Pearl reagiert?
James Nachtwey: Es brach mir das Herz. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Als Kriegsfotograf begeben Sie sich oft in weit gefährlichere Situationen. Wie schützen Sie sich?
Nachtwey: Wer in Kriegszonen reist, lässt sich bewusst auf Risiken ein. Sicher ist man nie. Ich weiche unnötigen Gefahren aus und vertraue meiner Erfahrung sowie dem Verstand. Mehr kann man nicht tun.

Warum ziehen Sie in den Krieg?
Nachtwey: Weil es notwendig ist. Ein Reporter, der sich in eine Kriegszone begibt, übt die höchste Form von Journalismus aus. Schliesslich steht nirgendwo mehr auf dem Spiel. Wenn man erklären kann, was wirklich passiert, lässt sich etwas ändern. Das bringt die enorme Verantwortung mit sich, die Geschichte richtig zu schildern. Jeder muss dann für sich entscheiden, ob es sich lohnt, die Risiken einzugehen.

Haben Sie nie Angst?
Nachtwey: Angst ist nur eine der Emotionen, die man überwinden muss. Kriegsjournalismus ist nicht jedermanns Sache. Es ist ein sehr persönlicher Beruf. Kein Kriegsfotograf verurteilt diejenigen, die das nicht tun.

Am 11. September kam der Krieg in Ihr Quartier – Sie griffen zur Kamera.
Nachtwey: Für mich wars erschütternd, derart destruktiv und sinnlos attackiert zu werden. Darum habe ich an diesem Tag fotografiert; das Ambiente aber war mir vertraut. Der Verlust von Leben und das einsetzende Chaos. Ich sahs zuerst von meinem Fenster aus. Zu Fuss war ich innert Minuten da. Was nach dem Anschlag passierte, war mir ebenfalls bekannt. Ich hatte keine Elektrizität, Kerzen mussten genügen. Um Essbares zu finden, ging ich meilenweit. Am rauchverhangenen Himmel kreisten Kampfjets. Sonst begegne ich all dem in einem Krieg, nicht in New York.

Was hat der Tag bewirkt?
Nachtwey: Amerika hat realisiert, dass es zur Welt gehört. Für mich war das nicht neu. Es war stets meine Aufgabe, Amerika zu zeigen, dass wir nicht isoliert leben.

Dann gingen Sie nach Afghanistan, um mit der Attacke zurechtzukommen?
Nachtwey: Nein. Ich war oft in Afghanistan, während des sowjetischen Kriegs und in den Neunzigerjahren. Nur weil der Kalte Krieg vorbei war, durften wir nicht vergessen, was dort passiert. Oft habe ich auch im Nahen Osten fotografiert. Insofern kristallisierten sich am 11. September viele meiner Geschichten zu einer einzigen Story.

In ihrem Buch «Inferno» schildern Sie neun Geschichten aus dem Krieg. Die Bilder sind ästhetisch unheimlich schön, die Inhalte erschreckend und abstossend. Wie bringen Sie das zusammen?
Nachtwey: Schönes kann schrecklich sein. Das zieht sich durch die Kunst- und Literaturgeschichte. Inszeniert habe ich diese Bilder ja nicht. Ich war bloss vor Ort und habe aufgezeichnet. Ob schön das richtige Wort ist, bezweifle ich. Die Bilder zeigen Menschliches. Das erlaubt uns, zu schauen und zu verstehen.

Können Bilder etwas bewirken?
Nachtwey: Es ist schwierig, journalistische Wirkungen zu messen. Es gibt aber klare Indizien. Berichtet niemand über Hunger, schickt niemand Essen. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und öffentlicher Reaktion. Mich ins- pirierten die Bilder aus dem Vietnamkrieg und über die Bürgerrechtsbewegung. Die Presse beeinflusste beide Ereignisse wirkungsvoll. Kriegsreportagen sollen nicht unterhalten oder nur informieren. Sie sollen Instinkte berühren und Politiker zum Handeln antreiben.

Normalerweise fotografieren Sie andere Menschen. Im Dokumentarfilm «War Photographer» sind Sie das Objekt. Wie erlebten Sie die Dreharbeiten?
Nachtwey: Es war ein sehr unangenehmes Erlebnis. Üblicherweise bin ich ja der Berichterstatter. Es ist komisch, den Film, also mich selbst, jetzt zu sehen. Ich weiss aber: Zu jeder Geschichte gibts eine Geschichte. Regisseur Christian Frei hat viel dafür getan, um mein Vertrauen zu gewinnen.

Freut Sie die Oscar-Nomination?
Nachtwey: Zuerst war ich erstaunt. Dann habe ich mich sehr, sehr gefreut für Christian. Es ist sein Film. Er hat ihn gemacht. Ich weiss, wie schwierig es für ihn war – logistisch wie emotional.

Gehen Sie an die Oscar-Party?
Nachtwey: Ich bin eingeladen und möchte Christian unterstützen. Zudem interessiert es mich als kulturelles Ereignis.

Etliche Fotografen wenden sich dem Film zu. Interessiert Sie das ebenfalls?
Nachtwey: Nein. Fotografie verlangt von mir noch immer alles ab, was ich habe.

Wie hat der 11. September den Fotojournalismus verändert?
Nachtwey: An diesem Tag wurde der seriöse Journalismus wiedergeboren. Er hat dem Fotojournalismus und dem Journalismus insgesamt neue Relevanz verliehen. Zu lange beeinflussten Skandale und der Starkult die US-Medien. Für Internationales interessierte sich hier keiner. Dieser Tag war einschneidend – und die Journalisten haben hervorragend reagiert. Es entstanden etliche wirklich gute Bilder. Erstaunlich ist dabei, dass es nicht ein einziges Bild gibt, das uns bleibt. Stattdessen drückt die Kumulation vieler Bilder aus, was um diesen Tag geschehen ist.

Wo fotografieren Sie bevorzugt?
Nachtwey: Wo es um etwas geht. Deshalb ging ich jüngst nach Afrika und berichtete über die Aidskrise. Selten – wie etwa in Afghanistan – drängt sich ein Ort auf.