Der Herr ist mit ihnen

Alle Welt schaut auf die Olympiastadt Salt Lake City. Für die Mormonen ein göttlicher Anlass, um PR in eigener Sache zu machen.

Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Fotos)

lookat_00001505_preview.jpgSchwester Swiss strahlt sehnsüchtig. Lasziv zielen ihre Blicke direkt in die Pupillen des Gegenübers. Sie lächelt, weil sie Gott dienen darf. Ungläubige, weiss sie obendrein, sprechen darauf an.

Schnurgerade aufgereiht hocken gut zweihundert 19-jährige Burschen im fensterlosen Saal, die Haare kurz gestutzt, die Anzüge schwarz. Martialisch rezitieren sie im Chor den «Ruf zu dienen.»

Fesches Schäkern und Singen pauken Swiss und die jungen Männer in einem kargen Klassenzimmer in Provo, der öden Stadt 45 Meilen südlich von Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah. Dort betreibt die Church of Jesus Christ of the Latter-day Saints (LDS) – landläufig die Mormonen – ein Ausbildungszentrum mit Platz für rund 2500 Missionare.

Sie alle werden in die Welt entsandt, «um den wahren Gospel von Jesus Christus zu verbreiten», erklärt einer der Missionare. Demnächst brich er nach Hamburg auf. Die Kirche, weltweit elf Millionen Mitglieder stark, sei «eindeutig auf steiles Wachstum eingestellt», sagt er. Ihr Grundpfeiler ist globales Missionieren.

Jetzt kommt die Welt zu den Missionaren. Die Mormonen-Kapitale Salt Lake City beherbergt im Februar die Olympioniken der Winterspiele. Eineinhalb Millionen Besucher werden erwartet. Dazu 9000 Presseleute, die den Gospel des Sports und von Engel Moroni televisionär in Milliarden von Stuben tragen.

lookat_00001503_preview.jpgEs ist der vorläufige Höhepunkt einer jungen, in den USA hausgemachten Religion. Eine durch und durch amerikanische Glaubensrichtung, die Selbstkontrolle und hohen Arbeitsethos preist sowie ausgesprochen artifiziell und kulturell arm wirkt. Eine Kirche, so künstlich, makellos rein, effizient und lustlos wie eine Holiday-Inn-Suite. Deren Mitglieder erhoffen sich vom Grossanlass endlich die Absolution der sekulären Welt.

Für manche Mormonen ist Olympia die von Gott gesandte Offenbarung, eine Weiterführung seines Plans. «Jetzt erfüllt sich die Prophezeiung Isaaks», erklärt der Religionsprofessor Craig Manscill, der an der LDS-Universität in Provo lehrt. Die Menschen, habe Isaak im alten Testament niedergeschrieben, würden dereinst auf hohe Berge steigen und zusammen Gott huldigen. Jetzt sei der Moment gekommen. Alle könnten nun sehen: «Wir sind die restaurierte Kirche Jesu Christi.»

Erstmals überhaupt führt eine Religionsgemeinschaft eine Olympiade durch. Mormonen haben dafür gesorgt, dass sie in das «gelobte Land» nach Utah kommt, wo über 70 Prozent der LDS folgen. Mormonen organisieren die Spiele. Mormonen nutzen sie als perfekte PR-Fläche. Kein Wunder bezeichnet die US-Presse Salt Lake 2002 bereits als «Mo-lympics».

Wie letztmals 1936 in Berlin dient das internationale Sportfest den Veranstaltern hauptsächlich dem Zweck, die Welt mit einem ideologischen System vertraut zu machen und mittels Massenmedien von dessen Ungefährlichkeit zu überzeugen. Fasste Propagandaminister Joseph Goebbels den Auftrag, die Effizienz und Friedfertigkeit Deutschlands darzulegen, wollen die ähnlich gestreng organisierten Mormonen misstrauische Christen davon überzeugen, sie seien keine Sekte und kein Kult sondern echte Christen. Die oft mit Mormonen gleichgesetzte Polygamie sei ein Relikt aus dunklen Tagen.

lookat_00001500_preview.jpgDer enthaltsame Lebensstil – kein Alkohol, weder Kaffee noch Tee, kein Tabak, kein ausserehelicher Sex – sei nicht lustfeindliche Spinnerei sondern gesund. Mormonen lebten in der Regel länger.

Nicht zuletzt entspreche ihre Kirche exakt dem, was Jesus 2000 Jahren zuvor begründet und LDS-Begründer Joseph Smith 1823 wieder hergestellt hatte – ein Prophet an der Spitze, dazu 12 Apostel sowie Millionen von eifrigen Jüngern.

Keine Sorge. Die Besucher der Spiele werden nicht mit dem LDS-Geleitbuch, dem Buch Mormon, erschlagen. Wie in Berlin vorgeführt, missionieren Mormonen während der Spiele zurückhaltend. «Wir bieten unsere Dienste nur an, wenn wir gefragt werden», sagt Craig Zwick, ein führendes Mitglied der Kirche. Die Spiele seien ja an Salt Lake City und Utah vergeben worden, nicht an die LDS.

Nur: Ohne Mormonen läuft in Salt Lake City und Utah gar nichts. Stadt wie US-Bundesstaat entsprechen klassischen Theokratien. 90 Prozent der Parlamentsmitglieder gehören der Kirche an, ebenso der Gouverneur, der Bürgermeister, die Vorsteher des lokalen wie staatlichen olympischen Komitees und die beiden nach Washington entsandten Senatoren. 24000 Freiwillige, meist Mormonen, betreuen während der Spiele die Besucher.

Aufdringlich lächelnde Missionarinnen in langen schwarzen Mänteln unterrichten in Dutzenden Sprachen Sportler, Sportfans und Sportreporter beim Tempelplatz, dem spirituellen Zentrum der LDS. Schwyzerdütsch eingeschlossen. Sie geleiten Touristen zu den kitschigen aber perfekt hergerichteten religiösen Stätten, durchs Informationszentrum oder den Büstensaal der Propheten. Eine Woche lang suspendiert die Brigham Young University, sie gehört zur LDS, den Unterricht. Sprach- und Religions gewandte Studenten helfen dann Olympia.

Parallel zum olympischen Pressezentrum hat die Kirche ein eigenes eingerichtet. Auf der exzellent funktionierenden Website präsentiert sie mehrsprachig über 100 Ideen für mögliche Artikel, angereichert mit druckfertigen und kostenlosen Fotos zum herunterladen. Jede Frage, die die Kirche beantworten will, handelt sie auch online ab. Auf Schritt und Tritt begleitet ein Heer netter PR-Leute alle Journalisten, die sich für die Kirche interessieren. Und für die Kirche werden sie sich interessieren. Es gibt in Salt Lake City ausser der Kirche ja nichts.

Die olympische Fackel wird durch dieselbe Talmündung ins Stadion getragen, die bereits der Utah-Begründer und wichtigste Mormone, Brigham Young, beschritten hatte. Medaillen erhalten Siegerinnen südlich vom Tempelplatz. Ein willkommener visueller Effekt. Ertönt die Nationalhymne und kullern Abfahrern Freudentränen über die Wangen, glänzen im Hintergrund live übertragen die Marmortürme des Tempels.

Auf der Spitze des vordersten Turms steht eine goldene Statue Engel Moronis. Es war dieser Moroni, dem der Journalist Joseph Smith 1823 in einem Waldstück nördlich von New York angeblich begegnet war. Der Indianer-Engel übergab dem damals 18-jährigen Smith mit Texten bekritzelte Goldplatten. Geschrieben hatten sie gemäss LDS-Doktrin Abkömmlinge eines israelischen Stammes, der 600 Jahre vor Christus von Jemen aus nach Zentralamerika gesegelt sei. Demnach, so Smith, stammen die Eingeborenen Amerikas aus dem Nahen Osten.

Smith soll die Botschaft übersetzt und das Buch Mormon verfasste haben. Gott hätte ihn zum Nachfolger Christus’ auserwählt. Sein Auftrag: Er müsse die Kirche Jesu wieder herstellen. Just erkor er sich zum Präsidenten mit Prophetenstatus und heuerte 12 Apostel an. Dieselbe hierarchische Struktur gilt noch heute, mit Gordon B. Hinckley, 91, als Prophet.

Viele glaubten Smith und traten der neuen Kirche bei. Er entsandte Missionare nach Europa, ehelichte mehrere Frauen und zog rasch den Hass der US- Protestanten auf sich. Ein Mob erschoss ihn 1844. Smith, der selbst ernannte Jesus, war so selbst zum Märtyrer geworden.

Dessen Nachfolger auf dem Präsidenten- und Prophetenstuhl, Brigham Young, führte die verfolgten Gläubigen auf einem Treck von Illinois westwärts nach Utah. 1847 liess er sich in einem unbesiedelten Wüstental nieder, umgeben von hohen Bergen. Dort, wo niemand hin wolle. Bereits zwei Jahre später lockte der Goldrush Kaliforniens Hunderttausende in den unberührten Westen. Die nach wie vor polygam lebenden Mormonen verloren zwar die Isolierung. Dafür machten sie gute Geschäfte mit den Reisenden.

Young gründete 270 Firmen, Banken, Versicherungen, Läden und legte so den Grundstein für eine prosperierende Kirche. Von seinen Jüngern verlangte er eine «devote und saubere» Lebensführung.

Gründsätze, die die Mormonen noch heute wie nichts prägen – und jedem nahe legen, der nach Gründen des Erfolgs dieser sterilen Kirche fragt. In Utah zweifelt fast keiner an der LDS-Lehre, «weil sie stimmt», lautet die Standardantwort.

Das Wort Gehirnwäsche mag niemand. Viel eher basiere die Religion auf totaler Freiwilligkeit. Gleichwohl erstaunt, wie uniform, kurz und knapp LDS-Mitglieder ähnliche Fragen behandeln. Abweichungen gibts es nicht. «Unsere Kirche hat sich seit den Anfängen kaum verändert», sagt Kirchenführer Zwick. Eine Diskussion etwa darüber, ob Frauen nicht doch zu Priesterinnen geweiht werden sollten, findet nicht statt. «Gott sagte, Frauen gebären Kinder und pflegen das Haus», sagt Zwick. Amen.

Sauber lebt, wer duscht, die Kopfhaare kurz schneidet, sich täglich glatt rasiert. Wichtiger noch: Wer keinen Alkohol, Kaffee oder Tee trinkt, Tabakwaren verschmäht und unbefleckt heiratet. Kaugummis sind auch verpönt.

Dünn ist das Bier in Utah. Harte Getränke werden bloss in privaten Clubs ausgeschenkt. In ordentlichen Restaurants muss die Weinkarte ausdrücklich verlangt werden. Selbst dann bringt sie die Kellnerin nur missmutig oder unter dem Dessertmenu versteckt zum Tisch.

lookat_00001515_preview.jpgAbgeleitet wird diese drakonische Lebensführung vom Wort der Weisheit, das Joseph Smith am 27. Februar 1833 als Offenbarung empfangen haben soll. Nur wer sich daran hält, darf im Tempel heiraten. Obendrein verspricht die Kirche «ewiges Glück» sowie «ewiges Zusammensein der Familie», selbst im Jenseits.

Bei jeder Gelegenheit betonen Mormonen, wie zentral Jesus sei. Nichtsdestotrotz unterscheiden sie sich von anderen Christen. Sie glauben, Gott sei einst wie der Mensch gewesen und habe sich später einen göttlichen Körper zugelegt. Jetzt lebe er zusammen mit einer göttlichen Frau, die Mutter der Mormonen.

Bevor ein neues Leben beginne, kreieren Gott und besagte Mutter den Menschen. Zwischenzeitlich erhält er einen sterblichen Körper. Nach dessen Ableben gelange der Mensch zurück in den Himmel und bleibe vereint mit der Familie.

Ein veritables Problem hat daher Joseph Ogden. Er ist 31 und ledig. Hat nicht, was bei den Mormonen der letzte Imperativ ist: Eine kinderreiche Familie.

Schlecht sieht er nicht aus, höchstens ein bisschen verklemmt wirkt der Mann. Eine gute Partie. Wie die meisten Mormonen Utahs ein höflicher Kerl. Nie laut, stets wortgewandt, smart. An der Brigham Young University unterrichtet er Marketing, besitzt ein MBA und hat jahrelang in Asien gearbeitet. Nur mit der Ehe klappts nicht. Dabei hatte er schon einige Freundinnen gehabt. Und Sex? «Den spare ich mir für später auf.»

Sexuell abstinent lebt Joseph Ogden, weil vor- oder aussereheliche Lust «bloss nachteilig sind». Führe zu ungewollten Schwangerschaften. Beschere unangenehme Krankheiten. Auf flüchtige Freuden verzichtet er. Der Lohn dafür: Ein «umso besseres und erfüllteres Sexleben», sagt Ogden, beileibe kein Experte.

Nicht nur die Sexualität kontrolliert die Kirche. Weit greift bei den LDS-Jüngern die zuweilen totalitäre soziale Aufsicht. Alle beobachten einander. Die Kirche steht überall mitten im Dorf, ist allgegenwärtiges Zentrum, ein paar Schritte von Zuhause entfernt. Hier findet man Ehepartner, Freunde, Geschäftspartner.

Hat eine einzelne Gemeinde mehr als 250 Mitglieder, wird sie sofort aufgeteilt. Niemand ist alleine. Nur in Gruppen treffen sich Ledige. Jeweils zwei bis vier LDS-PR-Leute begleiteten derzeit die Reporter in Salt Lake. Spricht man Missionarinnen an, kommen gleich zwei andere Schwestern hinzu und lauschen mit. Während ihrer zweijährigen Mission wird Missionaren alle drei Monate ein frischer Partner zugeteilt. Das verhindert Glaubensdebatten oder Freundschaften.

Intellektuell getrimmt werden Mormonen an der Brigham Young University in Provo. Rund 32000 Studierende büffeln Mathematik, Wirtschaft oder Jurisprudenz. Alle besuchen zudem sieben religiöse Kurse. Vor dem Beginn des Unterrichts beten sie, die Hände gefaltet oder die Arme verschränkt. Auch Katholiken, Muslime oder Juden dürften hier studieren – so lange sie sich an den Moralkodex halten. Den Studenten gefällts. «Ich bin hier, weil alle diese Vorschriften wollen», lautet die uniforme Antwort.

Obwohl die Brigham Young University landesweit ein hohes Ansehen geniesst, bezahlen die Studierenden weit geringere Gebühren. Die Kirche subventioniert sie.

Sie betrachte die Universität als «Investition», sagt Ned Hill, Rektor der Wirtschaftsabteilung. «Wir produzieren die besten LDS-Mitglieder.» Die fänden leicht eine Stelle – weil Mormonen mitbringen, was die moderne, globale Wirtschaftswelt so sehr schätze. Fast 80 Prozent der BYU-Abgänger sprechen fliessend eine oder mehrere Fremdsprache. Sie trinken nicht. Gottesfürchtigkeit und Moral mache sie zu «ehrlichen und fleissigen Arbeitern», sagt Hill.

Vor hundert Jahren noch strafrechtlich verfolgt, sind die Mormonen heute überall, prägen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Amerikas. Mitunter verkörpern sie Ideale der neuen Rechte, die umkehren will, was während den Sechziger an gesellschaftlichen Freiheiten erreicht worden ist. Mit beachtlichem Erfolg.

Keine Kirche der Welt wächst rascher. Ein LDS-Mitglied lenkt als Rektor die Wirtschaftsschule der Harvard University, die Kaderschmiede des Landes. Der Brown University in Rhodes Island, eine der Topschulen der USA, steht ebenfalls ein Latter-day Saint vor. Die derzeit einzige Gewinn bringende US-Fluggesellschaft – JetBlue – hatte ein Mormone erfunden. Deren Geschäftsmodell – geringe Preise, wenig Service – gilt als Zukunft des Flugverkehrs. Hotelier Willard Marriott gründete eine der weltweit grössten Herbergeketten. 11 Mitglieder des US-Repräsentantenhause sowie fünf von hundert amerikanischen Senatoren bekennen sich zum Glauben an Moroni.

lookat_00001513_preview.jpgLängst sind die Mormonen staatstragend. Wer in der amerikanischen Politik oder in der Wirtschaft etwas erreichen will, kommt an den Latter-day Saints nicht mehr vorbei. «Weil unsere Bücher die Wahrheit sagen», sagt auch Senator Orrin Hatch. Seit 25 Jahren sitzt Hatch im Senat. Einer der einflussreichsten Politiker des Landes. Mächtig weibelte er beim olympischen Komitee jahrelang für die Mormonenstadt Salt Lake City als Austragungsort. Im vergangenen Jahr bewarb sich der 67-Jährige ausserdem für das Amt des amerikanischen Präsidenten. Wähler lockte er am rechten Rand. So warnte Hatch immerfort, George W. Bush sei nicht wirklich konservativ.

«Unsere Kirche ist so erfolgreich, weil die Welt moralisch kollabiert», sagt der hagere Hatch. Die heutige Jugend sei zugleich die «schlimmste und beste». Medien und Pornografie hätten viele verdorben. «Andererseits freuen mich diejenigen, die moralisch aufrichtig leben.»

lookat_00001521_preview.jpgWahrscheinlich meint der Senator die Studierenden der Brigham Young University. In einer spartan möbilierten Studentenbude treffen sich rund zwanzig junge Frauen und Männer. Artig spielen die 18- bis 26-Jährige lüpfige Klatsch- und Ratespiele. «Wir Mormonen können auch ohne Alkohol Spass haben», sagt der Gastgeber. Doch im besten Fall erinnert das an die Sonntagsschule, im schlimmsten an den Vorkindergarten. Nur nette und moralisch saubere Jugendliche. Zum Trinken gibts Kiwi-Erdbeer-Limonande.

Zwar weist Utah eine der geringsten Scheidungsraten Amerikas auf. Dafür blüht im Untergrund das Geschäft mit der Pornografie. «Etliche Ehen gehen deswegen zu Grunde», sagt die Studentin Chelsey Anderson, die sich als «flexible Mormonin» bezeichnet und der Kirche nicht sehr nahe steht. Etliche Männer seien geradzu süchtig nach Internet-Pornografie. «Heuchelei ist auch in Utah weit verbreitet», sagt Anderson.

Mehr noch als die Vielweiberei. Fälschlich gelten Mormonen und Polygamisten als Synonyme. Eher dient sie der Kirche heute als willkommener Schleier. Noch leben etwa 30000 Personen in Utah polygam. Spüren die US-Medien wieder mal einen Polygamisten auf, füllen sie Zeitungsspalten und Fernsehmagazine.

Klar, das Thema ist sexy. Die offizielle Kirche hat die Vielweiberei jedoch längst verboten. Wers betreibt, wird exkommuniziert. Deren Abschaffung war einst Bedingung der US-Regierung, Utah in den Staatenbund aufzunehmen. Heute passt sie nicht mehr ins Bild einer modernen, hocheffizienten Organisation, die in zehn Jahren ihren Bestand verdoppeln will.

Wer dauernd von Polygamie spricht, übersieht weit problematischere Aspekte der LDS. Etwa die ausgesprochen aggressive und globale Missionsarbeit. Wo immer die Kirche legal auftreten darf, errichtet sie Missionsstationen, vornehmlich in der Dritten Welt. Die Missionen dienen der sprunghaften Expansion – und der Züchtigung männlicher Mitglieder.

Stets mittwochs herrscht in Provo Festtagsstimmung. Nach dem Mittagessen liefern gegen sechs hundert Elternpaare ihre 19-jährigen Söhne beim Missionary Training Center ab, der Kaderschmiede künftiger Moroni-Missionare.

Aus der ganzen Welt reisen Bekehrer in spe zur Weiterbildung an. Zwei Italiener, die nur brüchig Englisch sprechen, hocken im riesigen Einführungssaal, ebenso Gläubige aus Kanada und Australien, den Philippinen und der Südsee. Ein roter Punkt auf dem Namensschild kennzeichnet die Frischlinge. Die Männer heissen von nun an Elder. Die wenigen Frauen – die Schwestern – sitzen am Rand, gekleidet in braven, weiten Robben. «Die Welt weiss, wer ihr seid», sagt Präsident David Wirthlin am Orientierungstreffen – «aufgrund der Kleidung, des Gebarens und der Sprache.» In dunklen klassischen Anzügen hocken die kurz geschorenen Männer da, dazu ein reines weisses Hemd, eine schlichte Krawatte.

Zwischen drei und sechs Wochen lang lernen die Burschen eine der 48 unterrichteten Sprachen sowie das Missions-Handwerk. «Ihr seid Arbeitsbienen, ihr seid zum Arbeiten hier», hämmert Wirthlin ein. Dann schickt er die Eltern weg. Eine letzte Umarmung, ein letztes Foti, Tränen der Trauer. Als «Freudentag der gesamten Familie», beschreibt der Präsident den ersten Tag des zweijährigen Verzichts von Mutter und Vater auf ihren Sohn. «Sie bringen uns Kinder, wir geben ihnen richtige Männer zurück.»

Über 61000 stehen derzeit im Dienst dieser Mormonen-Armee. Männer müssen, Frauen dürfen den Gospel Moronis in die Welt tragen. Keine leichte Zeit.

Zur gegenseitigen Aufsicht kommen Verbote hinzu. Ausschliesslich der Missionarsarbeit soll man sich widmen, nicht fern sehen oder Anlässe besuchen. Mit dem anderen Geschlecht darf man genauso wenig alleine reden wie die einem zugewiesene Region verlassen. Nach Hause telefonieren können Missionare nur an Weihnachten und am Muttertag. Einmal die Woche darf der Missionar von Hand einen Brief an die Eltern schreiben.

Hohe Ziele steckt sich die Kirche. Allein im Olympiajahr 2002 sollen gemäss LDS-Führer Zwick 100000 Philippinos beitreten. Für Brasilien prognostiziert er heuer eine Wachstumsrate von 8 Prozent, was 60000 neuen Mormonen entspricht.

Wachstum bedeutet für die Latter-day Saints stets Umsatzsteigerung. Zehn Prozent des jährlichen Einkommens treten LDS-Mitglieder ab, vor den Steuern. Solvente Mitglieder speisen zusätzlich den humanitären und den Ausbildungsfond. Wie reich die LDS ist, weiss niemand. «Leute spekulieren, wir sässen auf 300 Milliarden Dollar», sagt Zwick.

Gibts für die Schinderei der Missionare wenigstens einen ansprechenden Sold? Nicht doch. Die Missionare bezahlen sowohl die Ausbildung wie die zweijährige Mission. Er habe Jahre dafür gespart, erzählt ein schüchterner Elder aus Idaho. Sein Kollege unterbrach die Universität und arbeitete statt dessen in der Fabrik.

lookat_00001514_preview.jpgSeit bald zwei Jahren spart Bronson Nerenberg auf seine Mission. Bronson ist fünf Jahre alt. Er hat drei Schwestern und lebt in Riverton, einem schmucken Vorort von Salt Lake City. Pikfein aufgeräumt ist die Stube der Familie Nerenberg. Billy, der 31-jährige Vater, wirkt in der Verwaltung des Chipherstellers Intel. Dessen Frau Rhonda ist 28 alt und studierte Mathematikerin. Sie führt den Haushalt und sorgt sich um die vier Kinder, drei Töchter und Bronson. «Es gibt nichts schöneres als eine solide Familie», sagt Billy. Auf dem Arm hält er die 3-jährige Riley. Sie zitieren Schriften aus dem Buch Mormon. Montags feiern die Nerenbergs wie alle anderen LDS-Familien gemeinsam einen obligaten Abend.

Bereits sprechen die drei älteren Kinder ein paar Brocken Deutsch, zur Vorbereitung auf ihre Mission. «Tschüss», rufen sie dem Reporterteam nach. Warum Deutsch? Vater Billy missionierte 1989 bis 1991 in der Schweiz. Dort habe er «vor allem Asylbewerber» konvertiert.

Ein klassisches Ziel. Auf Menschen am Rand der Gesellschaft und Orientierunglose hat es die Kirche abgesehen. Die lassen sich am ehesten überzeugen. So lockt die Kirche in der Gegend von Salt Lake City oder Provo Obdachlose und Arme auf ihren Welfare Square. Hungrige bekommen hier kostenlos auf LDS-Bauernhöfen produzierte Lebensmittel.

Der Bischof einer Gemeinde entscheidet, wer wieviel erhält. Zwar betont der Leiter des Welfare Squares, Mel Gardner, «erhalten auch Nichtmitglieder die LDS-Almosen». Allerdings würden die viele Empfänger konvertieren. Sie werden von der Kirche zu fleissigen Berufsleuten ausgebildet – und geben künftig zehn Prozent ihres Einkommens ab.

Die Kasse bedienen freiwillig Darel Austin und dessen Frau Pauline, beide im Rollstuhl. Seit 46 Jahren sind sie verheiratet, haben neun Kinder grossgezogen. Trotz Gebrechen leisten sie Gratisarbeit.

Die Kirche erwartet das. Bewusst hält sie ihre Mitglieder auf Trab. Zeit, um über den Sinn der abstrusen Lehre nachzudenken, bleibt nicht. «Unmöglich», ein inaktives Mitglied zu sein, sagt Billy Nerenberg. Mormonen bekleiden zwei Vollzeitstellen: Die Erwerbsarbeit sowie die totale Hingabe zur Kirche.

Mehrmals jährlich leisten sie freiwilligen Dienst. Am Sonntag verbringt man drei Stunden in der Kirche. Der Montag gilt Gott und der Familie, der Rest der Woche anderen LDS-Veranstaltungen.

lookat_00001518_preview.jpgDazu die Ahnenforschung. Nirgends kommt der Narzismus der Mormonen deutlicher zur Geltung als bei der Genealogie. Geradezu besessen erstellen sie Stammbäume. Jeder Gläubige muss mindestens vier Generationen zurück seine Vorfahren aufsuchen, deren Geburts- und Todesdaten sowie Familienverhältnisse auflisten. Die Daten sammelt zentral die Kirche. Posthum tauft sie die Toten und nimmt sie auf.

«Wir schweissen Familien für immer zusammen», sagt Alex Schmalz, ein einst aus Ber nach Utah ausgewanderter Archivist des Family Research Centers, dem weltweit grössten Genealogie-Zentrum. Deutsche Ortssippenbücher lagern hier, ebenso alte Einwohnerkontrollkarten der Schweiz, selbst eine Namensliste der während des Holocausts ermordeten Juden. Insgesamt betreibt die LDS über 3500 Forschungszentren, in denen Daten auf Mikrofilmen zusammenfliessen. Bis anhin hat die Kirche rund 600 Millionen Namen erfasst. Das Endziel ist so ambitiös wie furchterregend – «wir wollen alle je geborenen Personen taufen», sagt Schmalz. Zurück bis Adam und Eva.

Wenn das jemand nicht will? «Das stört uns nicht», sagt der Archivist. Ausserdem könnten Tote sich nicht wehren.

Kurz vor Sonnenuntergang betritt ein Obdachloser im Tarnanzug den Gehsteig vor dem Hotel am Tempelplatz. Mit einem Stock zeigt er auf den Tempel. Nach dem mexikanischen Revolutionär nennt er sich Pancho Villa. «Zur Hölle fahren, sollen sie, die Mormonen.» Es seien Polygamisten, die die Bibel verändert haben und Jesus nicht als alleiniger Sohn Gottes akzeptieren. Warum ist er in Salt Lake? «Jemand muss während der Olympiade ja die Wahrheit sagen», sagt Villa. «Wahrscheinlich werde ich aber vorher verhaftet.» Dann vertreibt ihn der Hotelier.